Kolumne

Jackie A. entdeckt … Bestatterglück

Dieser Moment, wenn sämtliche Dinge um einen herum entwertet sind, weil der Mensch dazu plötzlich weg ist

Wir sitzen am Wohnzimmertisch, essen Kassler mit Sauerkraut. Eine Glühbirne im Leuchter aus Hirschknochen ist kaputt. Die Geweihe im Waldhaus hat die Mutter abgehangen. Sie mag nichts Totes an den Wänden, hat sie gesagt. Die Beleuchtung ist schlecht, aber das Fleisch ziemlich gut, weil der Großvater Jäger war. Wir sitzen da also im Barnimer Forst und essen Kasslerbraten, während das Pflegebett des vor 48 Stunden Verstorbenen keine zwei Meter von uns steht, und ich sage: „ Mami, jetzt geht’s voran!“

Das Bett ist die letzte Leihgabe einer Krankenkasse, die erst nächste Woche abtransportiert wird. Bis dahin müssen wir uns bei jedem Gang durchs Haus umständlich daran vorbeiquetschen. Diese physische Präsenz noch über sein Ableben hinaus hätte dem Patriarchen sicher gut gefallen. Meine Mutter zog vor acht Jahren hier her, um erst ihre Mutter und anschließend den Vater, beinahe bis zur Selbstaufgabe, zu pflegen. 90 Jahre ist er alt geworden. Ihr halbes Leben lang ging es um ihn. Und nun, wo die Nachbarin zur meiner müden Mutter sagt: „Dein neues Leben hat schon angefangen“ – da ist die Verzweiflung so groß, wie das Haus plötzlich still ist.

Die Situation ist kaum aushaltbar, gleichzeitig kostbar und auch ein bisschen komisch.

Mein Anruf vorhin beim Bestatter zum Beispiel, diese unglaublich gute Laune da! Ganz Deutschland redet über die Autoindustrie, aber die geheimen Stars am Wirtschafts­himmel müssen Bestattungsunternehmer sein. Die Mitarbeiter sind freundlich, die Bestattung schnell organisiert. Bis sich die Firma plötzlich weigert, meinen Großvater auf dem regionalen Friedhof beizusetzen, weil das ehemalige DDR Dorf dort angeblich „illegal“, quasi gesetzlos, seine Toten verscharrt habe. Also: nochmal einen Bestatter vor Ort bezahlen, der damit keine Probleme hat.

Seit meinem zwölften Lebensjahr beschäftigt mich diese Frage: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet der Tod des Opas die Antworten bringen würde.

Dieser Moment, wenn sämtliche Dinge um einen herum entwertet sind, weil der Mensch, der dazu gehört, plötzlich weg ist. Die irgendwann mal kostbaren Vasen, einst für viel Geld gekaufte Elektronik, die Diplomarbeit oder eine sorgfältig bewahrte Plattensammlung – wertvoll ist das vermeintlich Wertlose: eine blasse Bleistift-Zeichnung und eine leere Parfumflasche, die Erinnerungen triggert. Alles andere: Sperrmüll.
Was zählt, wird in diesen Stunden im Waldhaus deutlich. Dieses Gefühl der Klarheit taugt für ein inneres Auskehren, ein Entlarven von Zeit- und Geldfressern, kann Motor sein für große Veränderungen und eine Lebenswut, mit der neue Ufer erreicht werden können, vielleicht auch müssen.

Als wir am nächsten Morgen aus dem Haus treten, ist der Frühling ausgebrochen – mitten im Februar. Das große Gedöns, das „Nicht wichtig“ löst sich auf, weicht dem einzig Bedeutsamen: den Menschen und der gemeinsamen Zeit.

Danke Opa – für das Kassler und die letzte Lektion, auch wenn du mir nie ein Großvater warst.

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