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Interview

Psychotherapie: Wie eine Berliner Ärztin mit Ketamin Depressionen behandelt

Ketamin ist vor allem als Narkosemittel für Tiere bekannt und wird in Berlins Clubwelt gern als bewusstseinserweiternde Droge missbraucht. Dass der Stoff durchaus auch therapeutisch für Menschen eingesetzt werden kann, davon ist Dr. Andrea Jungaberle überzeugt. Die Fachärztin für Anästhesie und Psychotherapie leitet in Friedrichshain die Ovid Praxis. Hier schlägt sie neue Behandlungswege ein – eben auch mit Ketamin. Zudem untersucht sie die Behandlung von schwerer Depression mit Psilocybin. Wir sprachen mit der engagierten Ärztin über veränderte Bewusstseinszustände, Kassenleistungen und die Zukunft der Psychotherapie.

Dr. Andrea Jungaberle leitet die OVID Praxis in Friedrichshain. Foto: Privat
Dr. Andrea Jungaberle leitet die Ovid Praxis in Friedrichshain. Sie ist Pionierin auf dem Gebiet der augmentierten Psychotherapie und setzt dabei auch Ketamin ein. Foto: Privat

„Bei der Integrations-Psychotherapie setzen wir uns mit der Wirkung psychedelischer Substanzen auseinander“

tipBerlin Frau Dr. Jungaberle, Sie leiten eine Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie, Ihr Schwerpunkt ist die augmentierte Psychotherapie sowie die Integrations-Psychotherapie. Können Sie diese Therapieformen erläutern?

Dr. Andrea Jungaberle Unsere Praxis bietet primär diese beiden Angebote an. Die augmentierte Psychotherapie – „augmentiert“ kennt man vielleicht von dem Begriff „Augmented Reality“ – also etwas Plus. Augmentierte Psychotherapie meint also Psychotherapie plus eine Therapieform, die von etwas verstärkt wird und das kann man unter anderem auch medikamentös machen. In Deutschland ist das mit Ketamin möglich, das machen wir auch, aber auch nicht-pharmakologische Verfahren wie Atemtechniken, digitale Techniken oder Stroboskoplicht sind möglich. Die Grundidee ist, dass man die Wirkkraft der Therapie durch veränderte Bewusstseinserfahrungen verstärkt.

tipBerlin Bei der Integrations-Psychotherapie verfahren Sie ähnlich, nur ohne das Ketamin?

Dr. Andrea Jungaberle Bei der Integrations-Psychotherapie setzen wir uns therapeutisch mit der Wirkung psychedelischer Substanzen wie Psilocybin oder LSD auseinander, die aber die Patienten woanders zu sich nehmen. Etwa bei einem Ayahuasca-Ritual in Holland oder in der Schweiz. Wir sind dann da, wenn dabei Erfahrungen gemacht wurden, an denen die Patienten weiter arbeiten wollen oder müssen, weil diese Erfahrung so überwältigend war, dass man therapeutische Hilfe braucht und mit jemandem reden will, der versteht was einem dabei widerfahren ist. 

Ketamin-Therapie: „Die psychedelische Erfahrung auf das eigene Leben übertragen“

tipBerlin Sprechen Sie den so genannten „schlechten Trip“ an? 

Dr. Andrea Jungaberle Ja, das könnte ein Fall sein. Aber auch bei einer positiven Erfahrung kann eine Therapie sinnvoll sein, wenn man etwa die psychedelische Erfahrung auf das eigene Leben übertragen will. Ein klassisches Beispiel wäre: Jemand hat auf einem Psilocybin-Trip die starke Eingebung, er müsse mit dem Rauchen aufhören und möchte das dann umsetzen. Bei dieser Umsetzung des Lerneffekts aus dem Trip helfen wir auch.

tipBerlin Dieses Verfahren sind in Deutschland kaum verbreitet. Wie kommt das? 

Dr. Andrea Jungaberle Über das Thema Psychedelika-assistierte Therapie wird gerade viel gesprochen und auch dazu geforscht. Ich nehme selbst an einer Forschungs-Studie der Charité teil, in deren Rahmen wir depressive Patienten mit Psilocybin behandeln. Es ist die größte Studie dieser Art in Deutschland und die zweitgrößte weltweit. In der Praxis ist dies nach der aktuellen Rechtssituation nicht möglich.

Volkskrankheit Depression: Viele Betroffene scheitern an den gängigen Therapieformen, dort setzt die augmentierte Therapie an. Foto: Madochab / Photocase
Volkskrankheit Depression: Viele Betroffene scheitern an den gängigen Therapieformen, dort setzt die augmentierte Therapie an. Foto: Madochab / Photocase

„Die Praxis soll die Wiege der psychedelischen Therapie in Deutschland werden“

tipBerlin Ihr Team leistet Pionierarbeit. In Deutschland gibt es sehr wenige Praxen, die mit diesem Verfahren arbeiten, in Berlin sind Sie die einzige. Wie kamen Sie auf die Idee, sich dieser Therapieform zu widmen?

Dr. Andrea Jungaberle Ich beschäftige mich mit dem Thema des therapeutischen Potentials von veränderten Bewusstseinszuständen schon sehr lange. Mein Mann, Dr. Henrik Jungaberle, hat an der Universität Heidelberg Psychedelika-Forschung betrieben und Bücher über das Thema geschrieben. Als ich meine Ausbildung zur Anästhesistin angefangen habe, habe ich nicht darüber nachgedacht, dass es prädisponieren könnte, irgendwann einmal so eine Praxis zu gründen, die augmentierte Therapie anbietet.

Die ersten Ideen, es wirklich zu tun, kamen, als ich vor drei oder vier Jahren mitbekommen habe, dass in Kalifornien und New York solche Praxen entstehen. Im November 2020 haben wir uns dann gegründet und seit Februar 2021 bieten wir die Therapien an. Wir sehen die Ketamin-assistierte Therapie auch als Zwischenstufe. Der mittel- bis langfristige Plan ist es, die Praxis zur Wiege der psychedelischen Therapie in Deutschland zu machen.

tipBerlin Können Sie die augmentierte Therapie konkret beschreiben? Was passiert, wenn ich als Betroffener, sagen wir, als jemand mit einer Depression, zu Ihnen komme?

Dr. Andrea Jungaberle Zuerst spricht man mit einer Psychiaterin, dabei wird die Diagnose bestätigt. Zu uns kommen meist Patienten, die schon andere Therapien ausprobiert haben und die davon bislang nicht profitieren konnten. Der ­zweite Kontakt ist mit einem Anästhesisten. Wenn sich dann Psychiaterin und ­Anästhesist einig sind, dass der Patient „passt“, teilen wir ihm einen unserer Therapeuten zu. Die Behandlung dauert etwa zehn Wochen. Nach der Erläuterung des Verfahrens beginnen wir mit einer Erfahrung, bei der eine Stroboskoplampe eingesetzt wird. In einem unserer Behandlungsräume, auf der Liege, mit Musik auf den Ohren. Das Licht wird dazu genutzt, um einen rein optisch erzeugten veränderten Bewusstseinszustand zu erzeugen und um dem Patienten ein Gefühl dafür zu geben, was auf ihn zukommt. 

tipBerlin Sie beabsichtigen damit eine Einstimmung auf die Ketamin-Behandlung?

Dr. Andrea Jungaberle Richtig. Die Lampe kann man ausschalten, das Ketamin läuft aber ein und dann hat man die Wirkung. Anschließend kommen die Patienten über fünf bis sechs Wochen zweimal die Woche. Einmal zur therapeutisch begleiteten Ketamin-Infusion, die Gabe der Substanz erfolgt intravenös über eine Spritzenpumpe. Daraus erfolgen veränderte Wach-Bewusstseinszustände, die Einsichten generieren können, etwa verstehen lassen, weshalb man depressiv ist. Diese Erfahrungen binden wir meist am Folgetag in einen psychotherapeutischen Prozess ein und arbeiten mit den Patienten daran in Form einer Gesprächstherapie weiter.

Aus den Erlebnissen werden Schlussfolgerungen gezogen, aus denen sich wiederum Arbeits- und Lernaufgaben für die kommende Woche entwickeln können. Schließlich kommen noch Psychotherapiesitzungen, bei denen das Ganze sozusagen ausschwingen kann.

„Wir haben Patienten zwischen 25 und 80, es gibt ein großes Interesse, nicht nur aus Berlin“

tipBerlin Können Sie etwas über Ihre Patienten sagen, wer kommt zu Ihnen?

Dr. Andrea Jungaberle Wir haben Patienten zwischen 25 und 80. Es gibt ein großes Interesse, nicht nur aus Berlin oder Deutschland, wir haben auch Patienten, die aus dem Ausland kommen, Belgien, Schweiz, Skandinavien, selbst Anfragen aus den USA gibt es. Das sind alles Leute, die schon eine längere Leidensgeschichte haben. Zu uns kommt niemand, der mal zwei Wochen lang schlecht gelaunt war oder aus Spaß mal Ketamin ausprobieren möchte.

Gleichzeitig müssen sie einigermaßen stabil sein, um sich mit dieser Therapieart auseinandersetzen zu können. Es kommen Patienten mit behandlungsresistenter Depression, chronischer Traumatisierung, Angst- und Zwangsstörungen. Die augmentierte Psychotherapie eignet sich auch für den Komplex Depression und Schmerz, etwa psychosomatische Schmerzen und emotionale Schmerzen, die körperlich gedeutet werden.

tipBerlin Welchen Vorteil haben Ketamin und ­psychedelische Substanzen gegenüber klassischen Therapieformen wie etwa Antidepressiva, der Psychoanalyse oder der Verhaltenstherapie?

Dr. Andrea Jungaberle Das besondere beim Ketamin ist, dass es sehr schnell wirkt, oft wird innerhalb von 24 Stunden eine antidepressive Wirkung ­verspürt. Es ist so, dass sich bei den Studien gezeigt hat, dass die Wirkung der Ketamin-assistierten Psychotherapie bei depressiven Patienten deutlich länger anhält als nur die reine Verabreichung von Ketamin, ohne die begleitende Therapie, was in einigen Praxen und Kliniken getan wird.

Klar ist aber, dass die augmentierte Therapie die anderen Therapieformen nicht ersetzen soll. Es ist ein weiterer Pfeiler im Köcher und vor allem für jene Patienten gedacht, denen die anderen Therapien nicht adäquat helfen konnten. Ich kann sagen, dass unsere Patienten größtenteils von dem Verfahren profitieren. Das heiß nicht, dass sie alle hier komplett geheilt rauskommen. Aber sie kommen anders heraus, haben neue Perspektiven erworben oder sind an einem Punkt angelangt, dass sie überhaupt für andere Formen der Therapie offen sind.

Psychotherapie und Ketamin: Die OVID Praxis in Friedrichshain. Foto: OVID Praxis
Die Ovid Praxis in Friedrichshain, wo auch mit Ketamin behandelt wird. Foto: OVID Praxis

tipBerlin Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen Ihre Leistungen nicht, ist die augmentierte Psychotherapie ein Privileg der ­finanzstarken Klientel?

Dr. Andrea Jungaberle Wir sind eine reine Privatpraxis, die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen diese Arten der Therapie tatsächlich noch nicht. Mit den privaten Krankenkassen ist eine Übernahme oftmals möglich, ansonsten ist es eine Selbstzahler-Leistung. Bei innovativen Therapieformen ist das der Normalfall. Wenn es irgendwann einmal mehr Forschung dazu gibt und die Verfahren flächendeckender angeboten werden, wird man das verhandeln müssen und dann werden auch gesetzliche Krankenkassen die Leistung übernehmen. Aber das ist vorerst Zukunftsmusik.

tipBerlin Wie sehen Sie ganz allgemein die Zukunft von Therapieformen, bei denen Patienten psychedelische Substanzen verabreicht werden?

Dr. Andrea Jungaberle Die Wahrscheinlichkeit, dass in vier bis fünf Jahren Psilocybin und MDMA, also die Wirkstoffe von Magic Mushrooms und Ecstasy, als Therapeutika zugelassen werden, ist sehr hoch. Die FDA, die in den USA über Genehmigungen für neue Pharmamittel entscheidet, ist bereits in Phase drei der Studien und es gibt Verträge zwischen der EU und den Amerikanern, dass, falls dort etwas zugelassen wird, es binnen eines Jahres auch hier zugelassen sein muss. Man darf nicht vergessen, dass das auch ein gigantisches Geschäft für die Pharmaindustrie sein wird.

Die Politik ist da noch skeptisch, aber ich gehe davon aus, dass sich die Situation ändern wird. Wir bauen also jetzt schon die Expertise in unserem Team auf, damit wir bei einer Legalisierung der psychedelischen Substanzen als neue therapeutische Werkzeuge gleich mit der Arbeit loslegen können. Das ist das Ziel.


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