• Stadtleben
  • Longevity-Hype in Berlin: Wie lange willst du leben?

Stadtleben

Longevity-Hype in Berlin: Wie lange willst du leben?

„Longevity“ belebt den alten Traum der Menschheit von der Unsterblichkeit. In Berlin ballt sich die Szene jener Menschen, die mit biomedizinischen Hilfsmitteln natürliche Grenzen sprengen wollen. tipBerlin hat sich in der Longevity-Szene umgeschaut.

Jenny Ames lässt sich zurzeit zum Longevity-Coach ausbilden. Zu ihrer täglichen Longevity-Routine gehören unter anderem Blau- und Rotlichttherapien. Foto: Fiona Castiñeira

In Marzahn befindet sich die erste Longevity-Klinik Deutschlands

Eine ovale Kapsel, noch nicht mal zwei Meter hoch, steht in einem Behandlungszimmer der Aiva-Klinik in Biesdorf. Die Luke klappt nach außen, grelles Licht strömt entgegen. Im Innenraum: vier kalkweiße Sitze, über ihnen große, schwarze Monitore. Bei der Kapsel handelt es sich um eine Sauerstoff-Druckkammer. „Wir nennen es unser U-Boot“, sagt Philipp Tüffers, Sporttherapeut an dem futuristischen Gesundheitszentrum im Osten Berlins, das in der langen Version „Arona Institut für Vitalität und Ästhetik“ heißt.

Mit dieser Kapsel lässt sich ein Tauchgang in bis zu zehn Metern Tiefe simulieren. Sauerstoffkonzentratoren ziehen die Luft aus dem Raum und erzeugen einen Überdruck, ähnlich wie unter Wasser, die Insassen werden per Maske mit Sauerstoff überversorgt. Eine Stunde kostet 45 Euro und mehr. Zehn Sitzungen sollen sinnvoll sein. „Hyperbar“ nennt sich diese Therapie. Was bedeutet, dass der Sauerstoffdruck höher als die Umgebung ist.

Keine Hyperloop-Kapsel, sondern die Sauerstoffdruckkammer der Aiva-Klinik. Foto: Freddy Schönfeld

„Die Therapie beschleunigt die Heilung von Wunden, spricht die Zellregeneration an und regt die Produktion von Antioxidantien an“, erklärt Tüffers. Die Aiva-Klinik, wo diese Behandlungsmethode angeboten wird, steht für einen Großtrend. Longevity, zu deutsch „Langlebigkeit“, beschreibt das Ziel, möglichst lang und bis ins hohe Alter gesund leben zu können. Im molekularbiologischen Verständnis geht es dabei um die Umkehrung von Alterungsprozessen auf Zellebene.

Investor:innen wittern einen Goldrausch. Allein in den USA vereint der Longevity-Markt Milliarden an Investitionskapital auf sich, CEOs großer Tech-Konzerne wie Elon Musk, Sam Altman oder Peter Thiel allein investieren dreistellige Millionenbeträge in Verjüngungs-Start-ups – oder gleich in ihre eigene Unsterblichkeit: Bryan Johnson etwa, Jahrgang 1977,  derzeit wohl prominenteste Figur der Szene, möchte sein biologisches Alter auf 18 Jahre zurückdrehen. Dafür lässt er sich Blut seines Sohnes injizieren, schluckt täglich dutzende Medikamente oder harrt in einer Sauerstoff-Druckkammer aus. Handelt es sich um eine medizinische Revolution? Oder doch nur um einen neuen Markt, auf dem Selbstoptimierungs-Enthusiast:innen den Sirenenrufen von Lifestyle-Halbgöttern verfallen?

Berlin ist eines der Zentren der Longevity-Szene

In Berlin floriert seit kurzem eine Longevity-Szene, die es so in anderen westeuropäischen Metropolen noch nicht gibt. Davon kündet nicht nur die Aiva-Klinik im Osten der Stadt. Hier hat sich zum Beispiel auch die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung gegründet, eine Ein-Themen-Gruppierung, die „unbegrenzt langes und gesundes Leben“ ermöglichen will. Im Mai 2024 fand der „Rejuvenation Summit“ statt, ein Treffen für Biotech-Investor:innen und Start-up-Unternehmende.

Dr. Andrea Caletti arbeitete zuletzt als Schönheitschirurg in einer Praxis am Ku’damm. Heute ist er Chefarzt der Aiva-Klinik. Foto: Freddy Schönfeld

Ein erneuter Zoom auf die Aiva-Klinik in Biesdorf: Die Longevity-Bar in der Nähe des Eingangs ist so etwas wie das Portal ins Nimmerland. Hier beginnt die Reise zur ewigen Jugend mit einem kleinen Shot: pürierter Staudensellerie, Gurke und Ingwer. Loungemusik plätschert vor sich hin, hinter der Bar glitzern Baumwipfel auf einem großen LED-Bild. Andrea Caletti, plastischer Chirurg und Chefarzt der Klinik, betritt den Raum.

Das Gesundheitssystem steht vor großen Veränderungen

Mit den Langlebigkeitsfantasien eines Bryan Johnson habe das Aiva-Institut wenig zu tun, sagt Caletti. „Wir wollen, dass du bis zum letzten Atemzug gesund und fit bist.“ Ohnehin sei das Gesundheitssystem bald nicht mehr in der Lage, die Kosten zu bezahlen, die durch die älter werdende Bevölkerung entstehen. Deshalb also Präventivmedizin: eingreifen, bevor die Krankheiten auftauchen. Die Klinik investiert viel Zeit in Anamnese, erfragt die Schlafqualität, Ernährung und körperliche Beschwerden der Kundschaft.

Caletti zeigt sich stolz, dass die Aiva-Klinik sowohl kosmetische Eingriffe als auch die Longevity-Behandlungen anbietet. Es geht um „äußere und innere Schönheit“, wie es auf der Website heißt. Rund 60 Prozent der Kundschaft kommt wegen Botox und Filler, um schnelle Verjüngungseffekte zu erzielen. Im Denken der Fitness-Dienstleister an der Aiva-Klinik ist die äußere Schönheit aber auch ein Einstieg, um sich danach tiefergehend mit der körperlichen und mentalen Gesundheit zu beschäftigen.

Sporttherapeut Philipp Tüffers vor der Kältekammer. Foto: Freddy Schönfeld

Vor allem Sportler:innen kämen in die Klinik, unter anderem Nachwuchskicker vom 1. FC Union. Viele seien jedoch um die 30 Jahre alt, einige jenseits der 50. Zehn Sitzungen eines Hypoxie-Trainings, bei dem Sauerstoff unterschiedlicher Sättigung zugeführt wird, um die Mitochondrien zu stärken und damit die Energieproduktion in den Zellen anzuregen, kosten bis zu 800 Euro. Aber wird man damit schon zu einem Menschen, der 110 Jahre und älter wird, also zu einem „Supercentenarian“?

Felix Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin). Er forscht im Bereich Biophysik und Molekularbiologie mit dem Schwerpunkt Altersforschung und zweifelt zum Beispiel an der Wirkung der hyperbaren Sauerstofftherapie. „Das ist wenig erwiesen und eher ein Hype. Man merkt, dass einige mit der Vorfreude des Menschen auf ein längeres Leben Geld verdienen wollen.“ Dennoch habe sich die Altersforschung in den letzten 20 Jahren rasant entwickelt, sagt Richter.

Felix Richter ist Wissenschaftler und Lehrbeauftragter im Bereich Altersforschung an der HTW Berlin. Foto: Felix Richter

2006 veröffentlichte der japanische Wissenschaftler Shin’ya Yamanaka ein Papier über „partielle Reprogrammierung“. Yamanaka forschte an Stammzellen und stellte fest, dass sich hochspezialisierte Organzellen wieder zur ursprünglichen Stammzelle umprogrammieren lassen. Weil Altern letztlich bedeutet, dass sich im Körper Entzündungsherde und Defekte angesammelt haben, könne man Zellen epigenetisch zurücksetzen, also quasi verjüngen. 2012 erhielt Yamanaka dafür den Medizin-Nobelpreis.

Altersforschung und klinische Studien

Genau hier ist die Achillesferse: Bestätigen lassen sich Erkenntnisse dieser Art meist nur in Studien mit Tieren. „Klinische Studien, die an Mäusen gemacht worden sind, lassen sich zu sehr großem Teil nicht auf den Menschen übertragen“, berichtet Richter. Eine zweite Hürde für die Longevity-Forschung ist das Studiendesign: Klinische Studien lassen sich nur durchführen, wenn es das Ziel der Studie ist, eine Krankheit zu behandeln – für Forschung am Altern an sich gibt es keine Zulassung. Für Longevity-Anhänger bleibt also zunächst nur das fragwürdige Selbstexperiment à la Bryan Johnson.

Eine weniger radikale Strategie verfolgt Jenny Ames, die sich zurzeit als Longevity-Coach ausbilden lässt: Sie schluckt Nahrungsergänzungsmittel. Ames ist 38 Jahre alt und arbeitet in Berlin als Kunstkuratorin. Aufgewachsen ist sie im US-amerikanischen Maryland. Seit in ihrer College-Zeit eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert worden ist, kämpfte sie immer wieder mit gesundheitlichen Problemen. Vor drei Jahren entschied sie sich, ihr Leben umzukrempeln, zunächst mit Yoga. Mittlerweile ist ein bisschen was dazu gekommen. Ihre Morgenroutine: sechs Uhr aufstehen, Augentropfen nehmen, Bett machen, Zimmer aufräumen, Zunge abreiben, Serum für die Augenlider auftragen, um nur ein paar Punkte zu nennen.

„Ich möchte lang genug leben, um eine andere Art von Menschheit zu erleben“

Jenny Ames

Es folgen die Nährstoffe. Beispielsweise Essigwasser mit warmem Apple Cider, fermentiertes Reiswasser als Gesichtsmaske, Hyaluronsäure und Vitamin-E-Präparat, Kombucha-Saft, Selleriesaft, Grüntee und Kaffee mit Ghee, einem indischen Butterschmalz. Abends stehen dann unter anderem Yoga, Nacken- und Körperhaltungsübungen als auch Blau- und Rotlichttherapien an. Sie sagt von sich, dass sie ihre Autoimmunkrankheit erfolgreich geheilt habe. „Ich denke, der Schlüssel zur Langlebigkeit ist Routine“, sagt sie. Zwischen vier und sechs Stunden nehmen ihre Praktiken pro Tag ein. Bei der Frage, wie alt sie werden möchte, überlegt sie eine Weile und sagt: „Ich möchte lang genug leben, um eine andere Art von Menschheit zu erleben.“

Möchte die Longevity-Praxis mit ihrem Coaching für mehr Menschen zugänglicher machen: Jenny Ames in ihrer Küche. Foto: Fiona Castiñeira

Dieser Zukunftsblick erinnert ein wenig an die Philosophie des Transhumanismus, die den gegenwärtigen Menschen nur als eine temporäre Evolutionsstufe betrachtet, hin zu einer klügeren, höher entwickelten Spezies. Transhumanist:innen wollen mit Wissenschaft und Technologie die menschlichen Grenzen überwinden – dazu gehört auch der Alterungsprozess. Langlebigkeits-Enthusiast:innen als auch Biohacker teilen dabei zweierlei: die Ablehnung des Gedankens, dass das Altern unüberwindbar sei, und den Glauben an einen biologisch rundum erneuerten Menschen. Der rumänische Historiker Lucian Boia spitzt diese Entwicklung in seinem Werk „Forever Young“ zu.

Warum sich Longevity langfristig in der Medizin durchsetzen wird

Der Tod habe an Bedeutung und positiver Konnotation verloren, das Leben sei nahezu säkularisiert. „Der Westen will heute einfach nicht mehr sterben“, schreibt Boia. Weder verlockt das religiöse Versprechen von einer Erlösung im Jenseits, noch erscheinen romantisierte Abtritte aus der Welt wie der Heldentod im Krieg oder ein Suizid wie in Zeiten von Goethes „Werther“ als erstrebenswert. Stattdessen herrscht die Ideologie der Gesundheit. „Eine neue Art der Religion“, konstatiert Lucian Boia. Für Teile der Longevity-Szene handelt es sich in der Tat um eine neue Glaubensbewegung, und für manche Investor:innen eben um ein Marketing-Buzzword ihrer Produkte.

„Longevity muss überhaupt nicht kostspielig sein“

Felix Richter, HTW Berlin

Für Felix Richter, den Fachmann von der HTW Berlin, ist die Longevity-Idee in der Medizin schon stärker auf dem Vormarsch: „Es gibt erste Ansätze, Longevity zu standardisieren und vernunftgeleitet zu machen und nicht bloß Geld damit zu verdienen. Auf kurz oder lang wird sich Longevity-Medizin in den meisten Ländern durchsetzen.“ Für Richter ist das jetzt schon in Ansätzen zu sehen – in Ländern wie den USA oder England ist Longevity-Medizin schon als Fachrichtung institutionalisiert. Aber auch Bonusprogramme von Krankenkassen zählen dazu. Denn warum warten, bis sich Krankheiten manifestieren und sie dann erst behandeln, wenn man vielen Erkrankungen vorbeugen kann?

Noch etwas verschafft der Longevity-Medizin ein großes Potenzial: Statistisch hat sich die Lebenserwartung in den letzten Jahren immer weiter erhöht. Die Anzahl an lebenswerten, gesunden Jahren ist dabei aber nur geringfügig gestiegen. Die Hoffnung auf Longevity richtet sich also auch auf ein Gesundheitssystem, das den Menschen nicht nur am Leben hält, sondern das Leben möglichst lange lebenswert macht. Bleibt nur die Frage, wer sich das leisten soll? Felix Richter hält dagegen: Longevity müsse überhaupt nicht kostspielig sein. Im Grunde seien die Methoden am wirksamsten, die jeder Hausarzt empfehle: „Kalorienrestriktion, regelmäßiger Sport und eine gesunde Ernährung.“ Ein ganz und gar bodenständiges Rezept jenseits der Heilsversprechen einer profitorientierten Biotech- und Wellness-Industrie.


Mehr zum Thema

Berlin ist bei dem Hype um die Langlebigkeitsmedizin ganz vorne dabei – aber auch das Thema Mental Health gewinnt an Bedeutung, etwa in der Clubkultur. Das Forschungsprojekt „Mental Health in Clubs“ hat gefragt, wie es dem Club-Personal geht. Und wenn ihr selbst therapeutische Hilfe benötigt: Wie ihr einen Therapieplatz in Berlin findet, zeigen wir euch hier. Neue Trends, Hypes und interessante Orte findet ihr in unser Stadtleben-Rubrik.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad