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Gesellschaftskritik

Max Czollek im Interview: Radikale Vielfalt und vergoldete Dönerspieße

Max Czollek ist Dichter, Denker und Mitinitiator des Desintegrationskongresses (2016) und der Radikalen Jüdischen Kulturtage (2017) am Gorki. Zuletzt erschien von ihm der Essayband „Gegenwartsbewältigung“. Nun kuratiert Czollek die „Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“. Wir sprachen mit ihm über eine andere Erzählung der Wiedervereinigung, radikale Vielfalt und vergoldete Dönerspieße.

Max Czollek ist Dichter, Denker und Buchautor. Foto: Konstantin Börner

tipBerlin Herr Czollek, welches Verhältnis haben Sie zum 3. Oktober 1990?

Max Czollek Ich finde es gut, dass die Mauer gefallen ist. Zugleich finde ich es inakzeptabel, dass die Erzählung von der Wiedervereinigung viele Menschen und ihre Erfahrungen aus dem öffentlichen Erinnern ausschließt. Für migrantisierte, jüdische oder afrodeutsche Minderheiten markiert der 3. Oktober 1990 den Beginn von etwas Schrecklichem – nämlich der krassen Zunahme rechter, völkischer und nationalistischer Gewalt. Und auch dafür braucht es einen Platz in der Gesellschaftserzählung vom 3. Oktober!

tipBerlin „Tag der VerUnEinigung“, heißt gleich die zweite Veranstaltung der von Ihnen kuratierten Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur  mit der Schwarzen deutschen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und transkulturellen Trainerin Peggy Piesche, der Filmwissenschaftlerin und Autorin Angelika Nguyen und der Journalistin Mely Kiyak über eine „andere Erzählung“ der Wiedervereinigung. Welcher?

Max Czollek Es geht darum, Sichtbarkeit für diese Erfahrungen zu schaffen. Denn für einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft war die Vereinigung eben kein Freudentag, die waren mit dem Begriff Vereinigung nicht einmal gemeint. Dabei wird auch etwas deutlich, was ich hier noch einmal unterstreichen möchte: Der Begriff der Wiedervereinigung ist Ausdruck eines nach wie vor aktuellen völkischen Denkens. Denn wer wird denn hier wieder vereinigt, wenn nicht das getrennte Deutschland? Und was findet dabei zusammen, wenn nicht das sogenannte deutsche Volk, in dem eben kein Platz ist für all die Anderen, die ebenfalls in diesem Land leben und nicht unter diese Kategorie des getrennten und vereinigten deutschen Volkes fallen?

Max Czollek: „Mit der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur fragen wir danach, was diese Gesellschaft in der Gegenwart eigentlich ausmacht“

tipBerlin Was genau ist für Sie eigentlich die Jüdisch-Muslimischen Leitkultur?

Max Czollek Die Jüdisch-Muslimische Leitkultur stellt eine Intervention in einen öffentlichen Raum dar, der nach wie vor mit Vorstellungen von Homogenität, deutschen Dominanzansprüchen, der Forderung nach Integration, Heimat und Harmonie operiert. Mit der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur fragen wir danach, was diese Gesellschaft in der Gegenwart eigentlich ausmacht – und behaupten: wir sind schon deutlich weiter, als es auch die Wiedervereinigung suggeriert. Diese Gesellschaft ist eine der radikalen Vielfalt. Und es wird Zeit, dass die politischen Konzepte entsprechend aktualisiert werden.

tipBerlin Wie wurde daraus ein dezentraler Kongress, der mehr als einen Monat dauert und in einem Dutzend Städten stattfindet?

Max Czollek 30 Jahre Vereinigung kommen ja nicht ganz überraschend. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich darum angefangen, Orte anzuschreiben, mit denen ich in der Vergangenheit bereits zu tun hatte. Mir war dabei klar, dass die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur vor allem an Theatern stattfinden mussten, weil es sich ja um eine Intervention mit künstlerischen Mitteln handelt. Die Idee ist dabei auch: Wenn man eine Gegenerzählung schaffen möchte, dann muss man das genauso dezentral organisieren, wie Erinnerungstage organisiert sind. Sonst verpufft die Wirkung. Oder, wie es im Untertitel der TdJML heißt: Raus aus der Bubble, rein in die Charts!

„Raus aus der Bubble, rein in die Charts!“ lautet das Motto der „Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“

tipBerlin Bis zum 9. November vereint das Programm überaus heterogene Teilnehmer*innen: von der viel diskutierten taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah über den großen Berliner Schriftsteller Aras Ören bis zum immer streitbaren Michel Friedman. Was war Ihnen bei der Zusammenstellung besonders wichtig?

Max Czollek Ja, eine tolle Zusammenstellung, oder? Wichtig war mir dabei zweierlei: die Suche nach einem möglichst breiten institutionellen Netzwerk, um eine Strahlkraft über Berlin hinaus zu erzeugen. Und eine möglichst präzise künstlerische Intervention mit einer klar vernehmbaren Aussage. Das unterscheidet die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur auch von so etwas wie jüdischen oder muslimischen Kulturtagen. Denn mir geht es, polemisch gesagt, nicht um Klezmer und Falafel, sondern um die Frage, wie die deutsche Gesellschaft über sich selber nachdenkt, wen sie mitdenkt und wen nicht. Und die Forderung, dass sich das ändern muss.

tipBerlin Am Anfang steht ein inszeniertes Auftaktfestmahl im Gorki. Wer sitzt am Tisch? Was gibt’s zu essen?

Max Czollek Am Tisch sitzt die Familie, mit der ich seit dem Desintegrationskongress und den Radikalen Jüdischen Kulturtagen zusammenarbeite. Ich bin zwar diesmal der einzige Kurator, aber ohne diese Menschen und ihre Visionen wäre so eine Arbeit überhaupt nicht vorstellbar. Der einzelne Name auf dem Buchcover oder unter einem Stück ist immer eine Lüge. Zum Auftakt sitzen wir im Mamorsaal des Palais am Festungsgraben mit vergoldetem Knoblauch, einen goldenen Dönerspieß und Weintrauben auf dem Tisch. Unsere Jüdisch-Muslimische Leitkultur überschreibt also die Räume der bürgerlichen deutschen Hochkultur. Weil sie witziger ist. Und weil sie wehrhafter ist angesichts der Aktualität völkischen Denkens, das bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht.

Vielfalt als Grundlage der Gesellschaft

tipBerlin Der Kongress hat drei „Jahrestage“ als Klammer: 30 Jahre Wiedervereinigung, 20 Jahre Leitkulturdebatte, 10 Jahre Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Wie sieht Ihr Gegenentwurf einer Gesellschaft radikaler Vielfalt aus?

Max Czollek Der Begriff der radikalen Vielfalt stammt aus dem Denklabor des Instituts für Social Justice und Radical Diversity, von dem ich ein Teil bin. Aktuell dominante Konzepte wie Integration oder Leitkultur unterstreichen, dass man Vielfalt derzeit vor allem als gesellschaftliches Problem begreift, das bewältigt werden muss. Und das ist doch eine sehr fragwürdige Perspektive für eine plurale Demokratie. Mit dem Begriff der Radikalen Vielfalt wollen wir einen Paradigmenwechsel markieren, weil Vielfalt hier nicht mehr als Problem, sondern als Grundlage der Gesellschaft verstanden wird, in der wir leben.

tipBerlin Wie würden Sie den „Tag der deutschen Einheit“ nennen? Ihn umdefinieren? Oder würden Sie ihn ganz woanders hin verlegen? Oder abschaffen?

Max Czollek Das ist keine Frage, die irgendjemand allein beantworten kann. Das müssen wir schon zusammen machen. In meiner Arbeit geht es mir darum, die Frage aufzuwerfen, für wen öffentliche Rituale eigentlich inszeniert werden, welches Publikum von ihnen gemeint ist und wer ausgeschlossen bleibt. Die Herausforderung einer pluralen und sich immer weiter pluralisierenden Demokratie ist, in ein gemeinsames gesellschaftliches Gespräch einzutreten, bei dem so viele Menschen und Erfahrungen wie möglich einbezogen werden. Ich denke, die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur könnten dabei ein guter, lustiger, irritierender und provokativer Aufschlag sein. Es ist an der Zeit, dass wir uns miteinander unterhalten.

  • Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur diverse Orte/Städte, 3.10.–9.11., Online- & Offline-Formate; alle Infos unter: www.tdjml.org

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