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Viren im Abwasser: Lässt sich so die nächste Pandemie vorhersagen?

Seit der Corona-Pandemie forscht das Max Delbrück Center an Viren aus dem Abwasser. Eine Studie zeigt, wie viel die Erreger über den Gesundheitszustand der Bevölkerung aussagen können. Lässt sich so die nächste Pandemie vorhersagen oder sogar verhindern?

Dr. Emanuel Wyler ist Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe „RNA Biologie und posttranskriptionale Regulation“ am Max Delbrück Center. Foto: Makar Artemev

Von der Berliner Kanalisation ins grelle Laborlicht

Endlich ist die Zeit gekommen. Nach stundenlangem Fließen durch die jahrhundertealte Kanalisation Berlins, angereichert mit Feststoffen, Pilzen, Tieren, kurz vor dem Garaus in der Kläranlage, darf diese Probe des Berliner Abwassers der Molekularbiologie noch einen letzten Dienst erweisen: als Forschungsgegenstand. Gelb und trüb ist diese 500 Milliliter große Probe, die Emanuel Wyler gleich filtrieren wird. Der Molekularbiologe, der im Labor des Max Delbrück Center (MDC) an der Hannoverschen Straße in Mitte steht, interessiert sich aber nicht für die Kokain- oder Ketaminrückstände, die Raver ins Abwasser ausscheiden. Wyler interessiert sich nur für die Viren. Denn mit den Erregern lassen sich vielleicht bald ganze Pandemien vorhersagen.

Eine Abwasserprobe der Berliner Wasserbetriebe, kurz vor der Filtrierung. Foto: Makar Artemev

Im Januar 2021, mitten in der Corona-Pandemie, startete die Arbeitsgruppe „RNA Biologie und posttranskriptionale Regulation“ eine Studie am Berliner Abwasser. Die Methode: eine Metagenom-Sequenzierung, sprich: die Aufschlüsselung der Erbinformationen aller Organismen in einer Probe. Über 17 Monate hinweg fand die Sequenzierung statt, an der auch die Berliner Wasserbetriebe und das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin (Lageso) beteiligt waren.

Tausende neue Viren im Berliner Abwasser entdeckt

Am Abwasser zu forschen, ist erstmal nichts Neues. Bereits seit Jahrzehnten nutzt die Forschung die Kloake, um die Ausbreitung von Krankheitserregern zu verstehen. Meist kommen dabei Tests wie die PCR-Methode zum Einsatz. Mit dieser lassen sich einzelne Moleküle und somit ganz bestimmte Viren identifizieren, etwa das in der Pandemie berühmt gewordene SARS-CoV-2-Virus. Der Vorteil: Mit den Abwassertests ist man näher am tatsächlichen Infektionsgeschehen dran als mit den gemeldeten Fällen – die immer nur einen Teil der infizierten Bevölkerung abbilden. Umfangreiche RNA- und DNA-Sequenzierungen des Abwassers aber, mit denen sich nicht nur alle bekannten Viren untersuchen lassen, sondern auch neue Viren entdeckt werden können, gibt es noch nicht viele.

Blick ins Labor des Max Delbrück Center an der Hannoverschen Straße in Mitte. Foto: Makar Artemev

Das Max Delbrück Center hat mit dieser Metagenom-Sequenzierung tausende neue Viren entdeckt – indem die Forscher:innen  nach einem spezifischen Muster im Erbgut suchten, das bei allen Viren vorkommt. So entdeckte das Forschungsteam die Familie der Bunyaviren, ein Erreger, der vor allem Insekten und Amöben infiziert. Je mehr die Welt der Viren entschlüsselt wird, desto eher lassen sich Zoonosen verhindern. Also Infektionskrankheiten, die sich vom Tier auf den Menschen übertragen können. Viele Forscher:innen erklären sich heute den Ursprung der Corona-Pandemie mit dem Handel von Wildtieren und der dabei ausgelösten Zoonose.

Zurück zur Abwasseranalyse im Forschungslabor in Mitte: Wyler vom Max Delbrück Center hält das Ergebnis der Filtration in der Hand. Die Farbe ist weg, es bleibt eine durchsichtige Flüssigkeit. 50 Mikroliter in einer Kapsel, das ist etwa ein Fingerhut voll. Darin befinden sich rund zehn- bis zwanzigtausend verschiedene Organismen. Wyler, der Molekularbiologe, führt den Versuch im Rahmen einer Simulation vor. Um dem tipBerlin-Reporter seine Arbeit praktisch zu demonstrieren. Mit dieser detektivischen Tätigkeit gewinnt das Forschungsteam nämlich seine virologischen Einblicke.

Wyler zeigt auf das Display-ähnliche Feld von „FlowCell“: Hier liest die Maschine das Erbgut der Moleküle aus der Abwasserprobe aus. Foto: Makar Artemev

Mit „FlowCell“, einem Gerät in der Größe eines Schuhkartons, lässt sich die Sequenzierung der Metagenome durchführen. Wyler hält dieses Gerät in der Hand und zeigt auf den Vorbau, wo sich eine Anzeige mit einer Milliarde Punkten befindet. Weil sich an jeden Punkt ein Molekül aus der Abwasserprobe heftet, kann das Auslesegerät die Erbinformation von 100 Millionen Molekülen auslesen. Die Speerspitze der Nanotechnologie. 24 Stunden dauert dieser Prozess.

Über die Verbreitungsmuster von Viren lassen sich in Zukunft Pandemien vorhersagen

Mit solchen Sequenzierungen konnte das Team zeigen, wie sich Erregerstämme von Virusfamilien räumlich und über die Zeit hinweg entwickeln. Etwa das Astrovirus, einer der häufigsten Erreger, der Magen-Darm-Erkrankungen verursacht. Zunächst stellte das Team fest, dass das Auftreten der Astrovirenstämme dem zeitlichen Muster der pandemischen Infektionswellen folgte. Das Max Delbrück Center verglich die eigenen Ergebnisse mit Daten aus Los Angeles und Nagpur (Indien) aus dem Jahr 2021. Es wurde festgestellt, dass sich das Virus dennoch global verbreiten konnte – obwohl damals weltweit Kontakt- und Reisebeschränkungen galten und ein Austausch von Viren zwischen Städten wie Los Angeles und Nagpur eher unwahrscheinlich war.

Wyler erklärt, wie groß das Potenzial dieses Virus-Trackings ist. „Wenn man den globalen Flux etwa von Astroviren nachverfolgen kann, dann lässt sich ein ganzes Netzwerk erstellen, wie Viren sich weltweit verbreiten.“ Weil Viren, im Gegensatz zu Bakterien, sich nur mit Wirtszellen von beispielsweise Tieren oder Menschen verbreiten, lassen sich Aussagen darüber treffen, wie menschliche Bewegungen das virale Geschehen beeinflussen.

So ließe sich gezielt intervenieren, um einen Ausbruch einzudämmen. Stark frequentierte Orte wie Flughäfen seien dafür entscheidend. „Wenn also ein Virus irgendwo auf der Welt ausbricht, könnte man Menschen entlang der Ausbreitungsrouten gezielt testen“, sagt Wyler. Für ein epidemiologisches Netzwerk, das hinreichend Informationen bereithält, braucht es mehr Messorte und Daten. Somit ist Abwasser längst ein wichtiger Informationsträger geworden.


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