Aus dem Jahr 1935 stammt der Mietvertrag des 54-jährigen Peter Strzelczyk. Berlins
Öffentlichkeit ist kein älteres Dokument dieser Art in der Stadt bekannt, das noch gültig ist.
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Ja, es gibt noch einen Mietvertrag von 1935
Der Mietvertrag, der eine Rarität ist in der an Wunderlichkeiten nicht gerade armen Geschichte des Berliner Wohnungsmarkts, datiert vom 23. Mai 1935. In diesem Jahr haben Adolf Hitler und die NSDAP längst eine Diktatur errichtet, feiert der US-Leichtathlet Jesse Owens andernorts fünf Weltrekorde – und wird auf der Internationalen Funkausstellung das erste Tonband vorgestellt.
Der Schriftsatz, teils in Fraktur, ist noch immer gültig. Ausgestellt für eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Hinterhaus eines ansehnlichen Gebäudekomplexes aus dem späten 19. Jahrhundert in Tiergarten – an der Straße Alt-Moabit. Ein Ensemble unter Denkmalschutz, dessen schnörkelige Fassaden zurzeit osteuropäische Arbeiter restaurieren. Den Mieter kann man dort antreffen.
Gestatten: Peter Strzelczyk, 54, Stuckateur und Berufsschullehrer, naturgemäß ein Urberliner, dunkelblonde Haare, Lesebrille, trotzdem jugendlich. An einem Tisch im Gemeinschaftsgarten hat er diese Sensation – den wohl ältesten Mietvertrag mit rechtlicher Geltung, der der Berlins Öffentlichkeit bekannt ist – aus einer Aktentasche hervorgeholt. Zusammen mit Schwarz-Weiß-Fotos und einem Übergabeprotokoll, damals angefertigt vor der Unterschrift.
Unter dem Schatten der Bäume im Garten, der übrigens eine Oase auf dem backyard des Grundstücks ist, entfaltet er den Hintergrund des vierseitigen Dokuments.
Eine Familiensaga kristallisiert sich heraus: Peter Strzelczyk ist der Enkel des Mannes, der den Vertrag unterschrieben hat. Der Vermieter: eine Firma, die sein Arbeitgeber war. Strzelczyk hat das Relikt aus der Großelterngeneration geerbt.
Sein Großvater Kurt war Mitte 20, als er damals in sein neues Domizil zog, ein junger Mann, der mit Lisbeth verlobt war. Die Kaltmiete betrug seinerzeit jährlich 720 Reichsmark, also 60 im Monat.
Das Paar, sehr bald verheiratet, sollte fortan mehrere Jahrzehnte an dieser Adresse leben. Einfache Leute wie sie in den hinteren Gebäudesegmenten, vorne im Haus die Schickeria. Irgendwann auch mit zwei Kindern, darunter Peter Strzelczyks Mutter.
Ein Mietverhältnis im Spiegel der Zeitgeschichte: Nach der Reichsmark wurde der Mietzins in Deutscher Mark fällig.
Nachdem seine Großmutter im Januar 2001 starb, mietete Peter Strzelczyk, damals Anfang 30, die Wohnung – und staubte den prähistorischen Mietvertrag ab. Nun war der Euro die Devise. Der Großvater, eigentlich der prädestinierte Erbe, war zehn Jahre zuvor gestorben.
Der älteste Mietvertrag Berlins: Zwischen Miet- und Erbrecht
Das Pfund des Peter Strzelczyk, dieses Stammhalters aus der dritten Generation: der Paragraf 563 im Bürgerlichen Gesetzbuch, der letzte Dinge regelt, an der Schnittstelle zwischen Miet- und Erbrecht.
Er besagt unter anderem, dass nach dem Tod eines Mieters das Mietverhältnis an Familienangehörige übergehen, falls sie mit der Person einen gemeinsamen Haushalt geführt haben – und zugleich Ehegatte oder Lebenspartner ihren Anspruch nicht geltend machen. Etwa weil sie verblichen sind. Peter Strzelczyk, Omas Liebling, war bereits gemeldet im Objekt – und andere Verwandte hatten kein Interesse an dem Betongold.
Die nötige Expertise hat ihm der Mieterverein verliehen. Die Hausverwaltung habe ihm nach dem Ableben seiner Großmutter zunächst einen neuen Vertrag unterjubeln wollen, wohl zu schlechteren Konditionen, wie er erzählt. Strzelczyk schlug das Geschäft aus. Und so gilt bis heute der Mietvertrag von 1935. Wie viel Strzelczyk im Monat bezahlt, verrät er nicht. Sicher ist, dass die Wohnung heute für ein Vielfaches mehr vermietet werden könnte.
Aufgewachsen ist er eigentlich im unspektakulären Tegel, aber er verfiel schon als Kind der Wohnung nahe JVA Moabit und Spreeufer.
„Bei Oma habe ich in die Decke geguckt“, erinnert er sich. Zu sehen war Stuck, teils rissig, auch kaputte Stellen, die notdürftig überschmiert waren. Die Druckwellen von Luftminen, abgeworfen von Alliierten während des Zweiten Weltkriegs, hatten Ornament weggeblasen. Er sagt: „Als Köttel hat mich das interessiert.“ Wegen dieser Sozialisierung ist er später Stuckateur geworden. Jemand, der die Schönheit verteidigt.
Drei Ordner belegen die epochenübergreifende Historie des Mietverhältnisses. Das zugrundeliegende Papier ist darin archiviert, ebenso Briefe aus den Kanälen des Vermieters, ob aus der Herrschaftsphase des Dritten Reichs, aus der Nachkriegszeit, aus der jüngeren Vergangenheit nach 89/90. Aus dieser Korrespondenz lässt sich auch die Entwicklung des Mietzinses ablesen.
Berlins ältester Mietvertrag: Es gibt weitere Antiquitäten
Andere vorsintflutliche Mietverträge in der Hauptstadt, von denen schon berichtet worden ist, stammen aus den Dekaden nach dem Nationalsozialismus. Das „MieterMagazin“ hat von dem Phänomen berichtet, unter der Schlagzeile „Oldies but Goldies“. Darin wird reportiert: „Viele Bewohner in Berlins Ost-Bezirken haben noch einen Mietvertrag aus DDR-Zeiten. Aber auch im Westen existieren Verträge, die bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts und noch früher zurückreichen. Manche Regelungen sind, gemessen am heute Üblichen, ungewöhnlich. Aber sie gelten.“ Der Artikel ist etwas angestaubt; 2011 wurde er verfasst.
Bis in die 1980er-Jahre war der E-förmige Gebäudekomplex in Tiergarten die Liegenschaft eines Unternehmens namens Kampffmeyer Mühlen. Ein Nahrungsmittelhersteller, weit verzweigt, 1883 in Potsdam gegründet, der Brotfabriken landauf, landab die wichtigste Zutat lieferte, nämlich Mehl. Gegenüber der Immobilie hatte das Unternehmen eine Betriebsstätte.
Es handelt sich um dieselbe Firma, die 1935 den Großeltern die Zwei-Zimmer-Wohnung, rund 75 Quadratmeter, zugespielt hatte. Der Großvater war dort zeitweise angestellt, als Bürovorsteher. Sein Name ist bis heute auf dem Klingelschild eingraviert.
Heute gehört Alt-Moabit 89 einem Fonds; im Vorderhaus residiert das Hotel Tiergarten, wo Handelsleute, Touristinnen, Partypeople nächtigen. Das Profitinteresse gelte diesem Gebäudeteil, sagt Peter Strzelczyk. Die Mieterinnen und Mieter hinter der Frontpartie weilen in einer Nische, darunter eine Literaturwissenschaftlerin und ein betagtes Paar.
Menschen, über die das stürmische Geschehen des Immobilienmarkts nahezu hinweggegangen ist.
Ein leerstehendes Juwel: Das Haus Lindberg am Viktoriapark. Die wohl schönsten öffentlichen Toiletten nennt man in Berlin Café Achteck – wir blicken auf ihre Geschichte. Ruinen und Fehlinvestitionen: Wir zeigen euch leerstehende Häuser in Berlin. Alles, was Berlin bewegt, deckt unsere Stadtleben-Rubrik ab. Wir führen euch durch das Werk der wichtigsten Architekten der Moderne in Berlin. Immer neue Texte lest ihr in unserer Architektur-Rubrik.