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Interview

Modellierer Dirk Brockmann: Wir können Corona nicht wegignorieren

Der Modellierer Dirk Brockmann ist in der Corona-Pandemie bekannt geworden. Wir sprachen mit dem Berliner Physiker über die Logik des Maßnahmen-Endes, Talkshows mit Wolfgang Kubicki, Worst Cases und Monsterkrisen, die Titelseite der „Bild“, Langzeiteffekte einer Covid-Infektion, sein Datenspende-Projekt und den Podcast von Sandra Ciesek und Christian Drosten.

Corona-Modellierer Dirk Brockmann: „Das ist eine Übung für den Klimakollaps.“ Foto: Imago/Teutopress

Corona-Modellierer Dirk Brockmann: „Kontinuierlicher Übergang in die Normalität“

tipBerlin Herr Brockmann, ein Mantra in den gut zwei Corona-Jahren ist: Wir wollen unser altes Leben zurück. Wie sah Ihres vor der Pandemie aus?

Dirk Brockmann Das habe ich schon vergessen.

tipBerlin Keine Talkshow-Einladung von Lanz, keine Schalte zu den „Tagesthemen“…

Dirk Brockmann Ich habe Sehnsucht nach Dingen, mit denen ich mich vor der Pandemie beschäftigt habe. Ich komme aus der Komplexitätsforschung. Die Modellierung von Infektionskrankheiten ist nur ein Thema, nur ein Element meiner Forschung. Ich sehne mich wieder nach anderen Fragen, anderen Themen. Auch die Interaktion mit den Studierenden ist durch meine Pandemiearbeit schlechter geworden, weil die Zeit fehlt. Und das tut mir besonders leid. 

tipBerlin Als Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Ende Oktober letzten Jahres  einen „Freedom Day“ forderte, sagten Sie in einem Podcast: „Ich verstehe die Logik nicht.“ Verstehen Sie die Logik des 20. März, an dem nun von Seiten der Bundesregierung die meisten Corona-Maßnahmen fallen sollen?

Dirk Brockmann Na ja, ich kann das emotional nachvollziehen. Man mag den Wunsch haben, dass zeitlich die Pandemie irgendwie ausgeknipst wird, aber wir können die Pandemie nicht einfach wegignorieren. Das ist ein kontinuierlicher Übergang in die Normalität, der wird sich über Jahre hinziehen. Ich halte es für klüger, der Sache nüchtern entgegenzutreten und abzuschätzen, womit wir uns arrangieren müssen. Das ist auch eine Übung für die viel größere Katastrophe, die vor uns liegt: den Klimakollaps. 

Corona-Modellierer Dirk Brockmann: „Das ist doch irre, oder?“

tipBerlin Wie fühlte es sich für Sie an, als Sie zu Beginn der Pandemie wegen Corona plötzlich in den Talkshows saßen?

Dirk Brockmann Ein Teil meiner Wissenschaftsphilosophie ist, dass ein wissenschaftliches Ergebnis erst dann existiert, wenn es kommuniziert ist. Als Professor einer deutschen Uni bin ich ja Beamter und damit im öffentlichen Dienst. Da ist der Staat oder das Land Berlin in meinem Fall, das sagt: Du kriegst ein Gehalt bis zum Ende deines Lebens. Du kannst machen, was du willst. Das ist doch irre eigentlich, oder? Für mich bedeutet das aber auch immer, dass ich denen diene, die mein Gehalt zahlen – den Steuerzahlern. Also erzähle ich, was ich mache und warum ich das mache. Ich hatte das schon in den USA erlebt während der H1N1-Pandemie…

tipBerlin … das H1N1-Virus löste 2009 die so genannte „Schweinegrippe“-Welle aus…

Dirk Brockmann Ich war dort Professor an einer Privatuni, die meisten guten und sehr guten Unis sind dort Privatunis. Das heißt: Die verkaufen Bildung. Das kann man gut oder schlecht finden, aber wenn die das nicht gut machen, müssen sie dicht machen. Das ist in Deutschland nicht so. Hier kann man sozusagen ohne Konsequenzen mittelmäßig oder sogar schlecht sein. Also: Es passiert einem nichts, wenn man nichts leistet. Ich kann mich nicht über wissenschaftsfeindliche Einstellungen beschweren, während ich nichts dafür mache, denen die mich bezahlen zu erklären was ich mache. Deshalb waren diese Elemente der Wissenschaftskommunikation, ob das nun in den sozialen Medien ist oder im Fernsehen, im Radio, in Blogs oder in guter Lehre, wichtig für mich. Eigentlich ist das eine Bringschuld. Und als ich in der ersten Talkshow, das war, glaube ich, „Markus Lanz“ war, war das zwar interessant, aber von der Herausforderung her nichts Neues. 

Mit Wolfgang Kubicki bei Markus Lanz: „Wie kommt der zu dem Schluss?“

tipBerlin Einmal sah ich Sie bei Lanz in Ihrer ruhigen Art die Pandemie sortieren, da saß Wolfgang Kubicki von der FDP dabei, bekanntlich kein Fan der Corona-Maßnahmen.

Dirk Brockmann Das weiß ich auch noch! 

tipBerlin Wie schafft es  ein Wissenschaftler, bei einem Kubicki nicht aus der Haut zu fahren?

Dirk Brockmann Die Leute, die ich öffentlich wahrnehme im Fernsehen, in den Nachrichten, das sind ja meist Politiker, die erlebt man im Fernsehen meist nur sehr eindimensional. Die ordne ich im Kopf natürlich auch ein. Den finde ich gut, den finde ich blöd. Wenn man diese Leute dann trifft, sind die aber ja mehrdimensional. Und da ist es halt in so einer Talkshow, in der ich mit Kubicki sitze, mit dem ich politisch überhaupt nicht eins bin, dass ich wenigstens probiere zu verstehen: Wie sieht der die Welt?: Wie kommt er zu diesem Schluss? Denn er ist ja intelligent. Also wird er unterschiedliche Annahmen haben. Und da will ich dann hin. Das will ich verstehen.

tipBerlin Ich weiß gerade nicht, ob ich Sie um die Aufgabe beneiden soll, Herrn Kubicki verstehen zu wollen.

Dirk Brockmann Andere Meinungen sind für mich viel interessanter als meine eigene. Ich verstehe zum Beispiel gar nicht, wieso man sich in den sozialen Medien Informationen sucht, die die eigene Einstellung bestätigen. Das ist, als wenn man immer am gleichen Ort Urlaub macht. Faszinierend und neu sind ja die Dinge, die man noch nicht kennt, oder nicht sofort nachvollziehen kann.

Dirk Brockmann über die Impfdebatte: „Wie verwöhnt, egozentrisch und entrückt muss man sein“?

tipBerlin Sie müssen nach solchen Erfahrungen nicht mit ihrem Motorrad auf die Piste, um sich abzureagieren?

Dirk Brockmann Selten. Es gibt Dinge, die mich viel mehr aufregen oder emotional erschüttern. 

tipBerlin Zum Beispiel?

Dirk Brockmann Der Krieg in der Ukraine. Dieses unfassbare Leid! Und das nur, weil eine Figur so krank im Kopf ist. Zwei Pfund Hirnmasse irgendwo im Kreml lösen in einem ganzen Land so viel Schmerz und Leid aus. Aber ich will mal diesen Krieg ausklammern, weil Sie über Corona reden wollen. 

tipBerlin Bitte sehr.

Dirk Brockmann Was mich da aufregt, und das hat auch etwas mit der Perspektive des anderen zu tun, an dieser Diskussion in Deutschland mit den Wellen und den Lockdowns und den Öffnungen oder auch den Impfungen: Wir sehen das ja an diesem Krieg oder an den vielen Geflüchteten, die schon vor Monaten an der europäischen Grenze im Wald erfroren sind oder im Mittelmeer ertrinken. Das sind Monster-Krisen. Genauso der Klimakollaps. Und wir reden darüber, dass eine Impfung ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist! Wie verwöhnt, egozentrisch und entrückt muss man sein, dass man das in einer Talkshow debattiert?

Masken im Einzelhandel: „Abschätzen, womit wir uns arrangieren müssen“ Foto: Imago/aal.photo

„Lockdown-Macher“ in der „Bild“: „Da schließt man schon mal die Tür ab“

tipBerlin „Bild“ hat Sie persönlich Anfang Dezember vergangenen Jahres gemeinsam mit der Physikerin Viola Priesemann und dem Modellierer Michael Meyer-Hermann auf der Titelseite „Die Lockdown-Macher“ genannt: „Sie haben uns den Lockdown eingebrockt“. Wie war Ihre erste Reaktion?

Dirk Brockmann Ich hatte mich erschreckt. Dann fand ich es total krass. Mal abgesehen von der Absurdität der Aussage. Die hätten auch schreiben können: „Die drei haben den Mond gemacht!“

tipBerlin Guckt man da nach der Arbeit ein bisschen, dass man im Hellen nach Hause kommt?

Dirk Brockmann Ja, genau. Wir hatten dann auch Angst. Da schließt man auch schon mal die Tür ab. Dann entsteht aber auch eine Wut und ein Unverständnis, dass Leute so skrupellos sind. Irgendwer muss sich das ja ausgedacht haben. Irgendjemand hat auch die Entscheidung getroffen. Und dann versuche ich auch wieder da reinzugehen. Was geht in diesen Menschen vor? Wo ist bei denen die Grenze?

Prognose 2000er-Inzidenz: „Das passiert, wenn niemand reagiert“

tipBerlin Vor einem Jahr wurde eine 2000er Siebentage-Inzidenz befürchte. Und Ende 2021 warnte der Modellierer Kai Nagel von der TU Berlin vor 100.000 zusätzlichen Toten in der Winterwelle. Beide Worst-Case-Szenarien blieben aus. Es gab damals viel Kritik an den Modellierern. Zu Recht?

Dirk Brockmann Da kommen verschiedene Dinge zusammen. Zum Beispiel ist in Deutschland die Modellierung von Infektionskrankheiten praktisch ganz neu. In Großbritannien hat das 40 Jahre Tradition. Ähnlich stark ist das in den USA und den Niederlanden. Durch die Integration von Biologie, Sozialwissenschaften und Physik hat sich dieses Feld etabliert. Das ist ein sehr antidisziplinäres Denken. Wissenschaftskulturell ist das in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht so ausgeprägt. 

tipBerlin Was folgt daraus?

Dirk Brockmann Kai Nagel zum Beispiel ist ein super Verkehrsforscher. Er hat aber jetzt durch die Pandemie angefangen mit der Modellierung von Infektionskrankheiten. Und viele andere machen es auch zum ersten Mal. Das macht aber nichts. Irgendwann muss man mal anfangen. Aber wenn man so ein bisschen Erfahrung hat, weiß man, dass es zum Beispiel nicht darum geht, exakte Fallzahlen vorherzusagen. Sondern da gibt es eine ganze Kurvenschar. Wenn man zum Beispiel eine 2000er Inzidenz vorhersagt, muss man dazusagen: Das passiert, wenn niemand reagiert, und sich alle weiter so verhalten wie bisher. Man muss also in die Kommunikation mit reinlegen, dass das ein Szenario ist, das eintritt, wenn keine gesellschaftliche Reaktion stattfindet. Und die gab es ja.

Omikron-Welle: Auf dem Feld in der Uckermark natürlich weniger Kontakte als im Berghain

tipBerlin Was kann die Modellierung dann leisten?

Dirk Brockmann Wie diese Inzidenz-Kurven verlaufen, hängt sehr stark davon ab, wie wir uns verhalten. Und das muss man besser verstehen. Zum Beispiel, wie die Pandemie von den Kontaktnetzwerken abhängt. Das weiß niemand, weil wir es nicht messen können. Ganz viele Phänomene in der Omikron-Welle sind in Großstädten anders verlaufen als auf dem Land.

tipBerlin Haben Sie dabei eine Vermutung?

Dirk Brockmann Da gibt es verschiedene Hypothesen, die man nur ganz schwer belegen kann. Das kann mit der Populationsdichte zu tun haben. Es ist ja logisch, dass ich in der Uckermark weniger Kontakte habe, wenn ich auf dem Feld rumlaufe, als wenn ich im Berghain stehe. Aber die Ansteckung ist überproportional zur Populationsdichte, das kann man sehen. Also muss es etwas anderes sein.

tipBerlin Vielleicht, weil die Dorfkneipen alle über die Jahre dicht gemacht haben?

Dirk Brockmann Genau. Es muss irgendetwas damit zu tun haben, dass wir in den Städten vielleicht eher in Situationen sind, wo wir keine Maske tragen und viele Leute unterwegs sind. Aber wir können es nicht messen. Wir wissen es halt nicht. Wir können plausible Annahmen machen. Es würde einen großen Unterschied machen, wenn man die Kontaktnetzwerke messen könnte, indem man zum Beispiel digitale Technologien nutzt.

Corona-Datenspenden-Projekt: „Für mich ist das einzigartig“

tipBerlin Sie leiten das Corona-Datenspende-Projekt am Robert-Koch-Institut, bei dem 530.000 Menschen freiwillig ihre Fitness-Armband-Daten in eine App geben.

Dirk Brockmann Für mich persönlich ist das einzigartig. Ich habe mich schon vor der Pandemie für Citizen-Science-Projekte eingesetzt. Wir haben zuletzt bei 50.000 Menschen feststellen können, und nur über diese Datenspende, und Kolleginnen und Kollegen aus den USA haben genau das Gleiche rausgefunden mit einem ähnlichen Projekt: Wenn man eine Covid-Infektion hatte, braucht es im Mittel drei Monate, bis der Ruhepuls wieder auf einem normalen Level ist. Wir konnten auch sehen, wenn Leute eine Infektion hatten, aber vorher geimpft waren, dass dieser Effekt weniger stark war. Was mich aber neben diesen Erkenntnissen daran fasziniert ist, dass man natürlich so etwas etablieren könnte. Eine Zusammenarbeit zwischen der Bevölkerung und der Wissenschaft. 

Dirk Brockmann über Sandra Ciesek und Christian Drosten: „Dieser Podcast hat Menschenleben gerettet!“

tipBerlin Ende März hören Sandra Ciesek und Christian Drosten mit dem „Coronavirus-Update von NDR Info“ auf. Hätten Sie nicht Interesse, einen Podcast zu übernehmen? 

Dirk Brockmann Nee. Das machen die so super. Dieser Podcast hat Menschenleben gerettet! Das ist eine unfassbare Leistung und schließt auch an das an, was ich zum Anfang gesagt habe: dass Wissenschaft dann existiert, wenn sie auch kommuniziert wird. Ich glaube, die Leute, die vernunftempfänglich sind, wurden durch diesen Podcast durch die Pandemie getragen. Das ist für mich eine der größten Leistungen überhaupt.

  • Dirk Brockmann ist Mathematiker und Physiker und seit 2013 Professor am Institut für Theoretische Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin und am Robert Koch-Institut. Zuvor lehrte er seit 2008 an der Northwestern University in Evanston, Illinois, USA.
  • Im September 2021 erschien sein Buch „Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen“ im dtv-Verlag.

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