Seit 1998 bietet das Netzwerk Stimmenhören in Berlin Beratung und Information für Menschen, die Stimmen hören, deren Angehörige, allgemein Interessierte sowie im psycho-sozialen Bereich tätige Menschen. Jetzt ist die ehrenamtlich betriebene Initiative bedroht, weil notwendige Fördergelder, die bisher die Infrastruktur finanziert haben, weggefallen sind. Wir haben mit Jonas Heintz vom Netzwerk Stimmenhören über seine Arbeit, das Phänomen Stimmen hören, psychische Gesundheit, Stigmatisierung und die Zukunftsperspektiven gesprochen.
„Es gibt Menschen, die in ihrem Kopf Stimmen hören. Für viele ist das kein Problem, aber es gibt auch Menschen, die unter diesen Stimmen leiden“, sagt Jonas Heintz vom Netzwerk Stimmenhören
tipBerlin Könnten Sie zu Beginn kurz erklären, was das Netzwerk Stimmenhören ist und womit Sie sich beschäftigen? Viele Menschen haben vermutlich noch nie von Ihnen gehört.
Jonas Heintz Gerne. Es gibt Menschen, die in ihrem Kopf Stimmen hören – also gesprochene Worte wahrnehmen – und das auf ganz unterschiedliche Weise. Für viele ist das kein Problem; sie leben damit gut und fühlen sich nicht belastet. Aber es gibt auch Menschen, die unter diesen Stimmen leiden. Und um diese Menschen kümmern wir uns im Netzwerk Stimmenhören – durch Beratungsangebote und in Form von Selbsthilfegruppen.
tipBerlin Stimmenhören fällt also in den Bereich der psychischen Gesundheit, man könnte an Menschen denken, die eine Schizophrenie haben. Wäre das eine richtige Einschätzung?
Jonas Heintz Viele Menschen denken bei dem Thema sofort an Schizophrenie oder Psychosen. Das ist allerdings ein Irrtum. Stimmenhören kann in vielen Kontexten auftreten – auch unabhängig von psychiatrischen Diagnosen. Es gibt Menschen, die in belastenden Lebenssituationen oder bei anderen psychischen Erkrankungen Stimmen hören, zum Beispiel im Rahmen einer Depression. Und auch unter den Menschen mit Schizophrenie hören nicht alle Stimmen – etwa 60 Prozent tun es. Es ist also ein sehr individuelles Phänomen.
tipBerlin Sie haben den Leidensdruck angesprochen. Wenn dieser auftritt, wie kommen die Menschen dann zu Ihnen? Erfolgt das über die psychiatrische Regelversorgung oder direkt?
Jonas Heintz Das ist unterschiedlich. Manche Menschen haben bereits Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht und suchen nach alternativen Ansätzen. Andere hören über Bekannte oder durch Recherchen von uns – ohne je zuvor in psychiatrischer Behandlung gewesen zu sein. Der erste Kontakt erfolgt oft über unsere telefonische Beratung. Dort kann man eine Nachricht hinterlassen, und wir rufen zurück. Außerdem haben wir ein Büro in Berlin-Neukölln, in der Schudomastraße 3. Dort bieten wir persönliche Beratungstermine an. Für viele ist der nächste Schritt dann der Besuch einer Selbsthilfegruppe.
tipBerlin Das Netzwerk wurde 1998 gegründet. Wie hat es sich seither entwickelt?
Jonas Heintz Ja, uns gibt es seit 1998. Wir gehören zur internationalen Hearing Voices Bewegung, die ursprünglich in den 80er Jahren in den Niederlanden begonnen hat. In dem Zuge haben sich „Hearing Voices Networks“ gegründet. In Deutschland nennt sich das dann „Netzwerk Stimmenhören“. Diese Netzwerke bestehen in der Regel aus Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten. Wir arbeiten trialogisch – das heißt, alle Beteiligten begegnen sich auf Augenhöhe. Aktuell werden unsere Gruppen aber überwiegend von Betroffenen moderiert. Doch unser Konzept schließt auch Angehörige und Fachpersonen mit ein. Diese übergreifende Zusammenarbeit ist ein zentrales Element unserer Arbeit.
tipBerlin Nehmen Sie auch gesellschaftliche Entwicklungen wahr – etwa mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen? Gibt es Fortschritte beim Thema Entstigmatisierung?
Jonas Heintz Ja, durchaus. Es gibt inzwischen viele Initiativen und Vernetzungsgruppen, auch im Bereich Schizophrenie. Ein Beispiel ist das „mäd Festival“ – ein Festival von und für Menschen mit Psychoseerfahrung, das sich stark für Entstigmatisierung einsetzt. Auch wir tragen dazu durch unsere Öffentlichkeitsarbeit bei. Dennoch bleibt Stimmenhören stärker stigmatisiert als etwa Depressionen. Viele Menschen wagen es nicht, offen darüber zu sprechen – insbesondere im Berufsleben. Leider führt Stigmatisierung in manchen Fällen sogar dazu, dass Menschen keine Hilfe suchen – mit fatalen Folgen.
tipBerlin Was unterscheidet Ihre Angebote von denen der klassischen psychiatrischen Versorgung?
Jonas Heintz Wir verfolgen einen anderen Ansatz. In der klassischen Psychiatrie wird häufig auf „Krankheitseinsicht“ bestanden – also darauf, dass Betroffene die medizinische Diagnose akzeptieren. Erst dann werden bestimmte Therapieangebote, wie Psychotherapie, zugänglich. Bei uns ist das anders: Wir akzeptieren jedes Erklärungsmodell. Ob jemand sagt, die Stimmen kommen von Aliens, durch Telepathie oder als Folge von Stress – für uns sind alle Perspektiven gleichwertig. Das erlaubt einen offenen und respektvollen Austausch. Medikamente sind bei uns kein Muss, und viele Menschen empfinden unsere Haltung als entlastend.
„Ziel unserer Gruppen ist nicht, die Stimmen zum Verschwinden zu bringen, sondern Wege zu finden, gut mit ihnen zu leben“
tipBerlin Sie beschreiben eine sehr akzeptierende, nicht pathologisierende Haltung. Was bedeutet das konkret für die Betroffenen?
Jonas Heintz Es bedeutet, dass Menschen sich angenommen fühlen – unabhängig von ihrer Erklärung für das Stimmenhören. In unseren Gruppen begegnet man sich auf Augenhöhe. Ich selbst habe das in einer Gruppe in Schöneberg erlebt: Da waren Menschen, die seit Jahrzehnten Stimmen hören, und ihr Erfahrungswissen hat mir sehr geholfen. Ziel unserer Gruppen ist nicht, die Stimmen zum Verschwinden zu bringen, sondern Wege zu finden, gut mit ihnen zu leben.
tipBerlin Ein solches Angebot kostet sicher auch Geld. Wie finanziert sich das Netzwerk?
Jonas Heintz Das ist aktuell ein großes Thema. Ehrenamtliches Engagement allein reicht nicht aus. Wir haben laufende Kosten – für Miete, Telefon, Webseite, Buchhaltung etc. Früher haben wir über Fördergelder finanzielle Unterstützung erhalten – nach aufwändigen Antragsverfahren. In den letzten drei Jahren wurden uns diese Mittel jedoch verweigert.
tipBerlin Warum wurden die Fördergelder gestrichen?
Jonas Heintz Die Begründung lautete, dass wir „nicht ausschließlich Selbsthilfe“ anbieten, weil wir auch Angehörige und Fachleute einbeziehen – also trialogisch arbeiten. Für uns ist das allerdings ein Grundprinzip. Eine Möglichkeit zum Widerspruch gibt es nicht – wir müssten klagen, was für uns kaum umsetzbar ist. Das stellt unsere Existenz massiv in Frage.
„Die Förderung durch Krankenkassen wurde gestrichen“
tipBerlin Wie sehen Ihre Zukunftsaussichten aus?
Jonas Heintz Wir sind optimistisch. Vor wenigen Tagen haben wir die Zusage erhalten, dass die Anni Gruber Stiftung die Mietkosten für unser Beratungsbüro in Berlin-Neukölln im Jahr 2025 übernimmt – darüber sind wir sehr dankbar! So wurde das NeSt erstmal vor der Insolvenz gerettet. Das gibt uns etwas Luft und die Möglichkeit, unsere persönliche Beratungsarbeit vor Ort fortzusetzen. Gleichzeitig bleibt unsere finanzielle Lage angespannt. Die Förderung durch Krankenkassen wurde wie gesagt gestrichen, und da unsere Arbeit fast vollständig ehrenamtlich getragen ist, sind wir weiterhin auf Spenden und neue Mitglieder angewiesen. Wichtig ist uns aber, dass wir dem trialogischen Grundsatz treu bleiben. Wir wollen uns nicht verbiegen, nur um wieder förderfähig zu sein. Uns ist wichtig, dass Betroffene, Angehörige und Profis gemeinsam und gleichberechtigt an Lösungen arbeiten – so, wie wir es seit über 25 Jahren tun.
- Netzwerk Stimmenhören e.V. weitere Informationen gibt es hier
Mehr Berlin
Was hat es mit dem Trend auf sich? Der erste Offline-Club kommt nacht Berlin. Berlins Polizei poliert ihr Erscheinungsbild auf, indem sie sich auf Social-Media-Kanälen verstärkt präsentiert, etwa beim Twittern von Notrufen mit Einblicken in die tägliche Polizei-Praxis. Immer wieder stoßen die Beamten wegen umstrittener Vorfälle auf Unverständnis in Teilen der Gesellschaft. Typisches Beispiel: dass eine tragfähige Studie über Rassismus in den eigenen Reihen verhindert wird, auch in der Hauptstadt.