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Kommentar

Neukölln ist ein Dorf – in Corona-Zeiten

Neukölln ist in Corona-Zeiten zum Dorf mutiert. Abends wird es in der Karl-Marx-Straße und Hermannstraße so still, dass selbst die Security-Männer ihren Augen nicht trauen. Die Partytouristen fehlen und die Hipster und Künstler*innen wissen nicht so recht, wohin. Man könnte fast sagen: Neukölln ist jetzt Idylle. Ein Kommentar von Philipp Wurm.

Neukölln Arcaden in der Karl-Marx-Strasse. Foto: Imago/Joko
Neukölln Arcaden in der Karl-Marx-Strasse. Foto: Imago/Joko

Berlin ist ja zum Glück eine Stadt, wo der sportliche Ehrgeiz gering ist. Wie Hertha und Union spielen, interessiert nur einen eingeschworenen Kreis von Leuten, die in Köpenick oder Charlottenburg, Tempelhof oder Oberschöneweide sozialisiert worden sind. Ebenso wenig fällt alles andere ins Gewicht, das Menschen und Gruppen in Wettbewerbsverhältnisse zueinander setzt. Es gibt kaum Schützenfeste, selten Golfturniere. 

Nur in einem Parameter messen sich die Berliner wie Olympioniken: wenn es um den Wohnort geht. Der eigene Kiez ist so etwas wie der Goldstandard der sozialen Credibility. Ein Status-Symbol, taxierbar in In- und Out-Listen. Im Mittelmaß schwankt, wer ewiges next big thing ist. „Der Wedding ist im Kommen“, lautet ein abgedroschenes Urteil über das Quartier an der Panke. 

Angegriffen fühlt sich, wer sich anhören muss: „Du wohnst in einem Dorf.“ Der Bepöbelte lebt häufig in Prenzlauer Berg. 

Während der Corona-Krise ist Neukölln provinziell geworden

Warum das eine Rolle spielt? Weil während der Corona-Krise Neukölln provinziell geworden ist wie nie. Ausgerechnet Neukölln, angesagtester Stadtteil Berlins, vielleicht sogar Deutschlands, womöglich Europas. Dieser Wohnort aller Medienkünstler*innen aus Williamsburg und Galerist*innen aus Paris, aller Styler aus Marl, Esslingen oder Limburg. Die Kulisse für „4 Blocks“, das Zuhause der Checker, mancher authentischer Ur-Berliner*innen und der arabisch- und türkischstämmigen Community, der Shisha-Bars und Baklava-Stuben.

Tagsüber sind Karl-Marx-Straße und Hermannstraße in diesen Wochen nur noch triviale Shopping-Meilen, wo die Menschen mit Rossmann-Tüten über die Bürgersteige huschen. Abends wird es dort so still, dass selbst die Security-Männer, die kurz nach acht die Ladentüren schließen, ihren Augen nicht trauen. In den restlichen Straßen herrscht dann schon längst der große Kehraus. 

Cafés und Bars sind geschlossen, Restaurants dürfen erst jetzt nach und nach wieder öffnen. Die Folge: keine Partytouristen mehr, ebenso wenig Gastro-Gänger oder Vernissage-Besucher aus anderen Gegenden. Stattdessen bleiben die Neuköllner, ob 1981 oder 2017 hierher gezogen, unter sich. 

Wo es keine Orte der Zerstreuung gibt, wird der öffentliche Raum zum Theater der Menschlichkeit

Und begegnen sich wie in einer Kleinstadt, die mehr lebensbejahendes San Gimignano als misanthropisches Eifeldorf ist. Ein ungewohntes Schauspiel: Wo es keine Orte der Zerstreuung gibt, wird der öffentliche Raum zum Theater der Menschlichkeit. 

Radler*innen trällern auf ihren Strecken ihre Lieblingssongs. Auf Stromkästen verspeisen Leute ihr Abendessen, eine Pizza oder das Take-Away-Food vom vietnamesischen Imbiss – sonst würden sie sich im warmen Licht eines Restaurants über die Speisekarten beugen. 17-Jährige treffen sich an Tischtennisplatten, um erste Marlboros zu rauchen. 

Vor dem Sonnenuntergang ist das Tempelhofer Feld der große Treffpunkt. Wo Nachbarn, ob nah oder entfernt, ein bisschen schwätzen. Die Skater ihre Bahnen drehen, die Urban Gardener aufs Grün schauen. Bevor dann die knallrote Sonne hinter dem Horizont verschwindet.

Was alle eint, ist eine große Toleranz. Man könnte fast sagen: Neukölln ist jetzt Idylle. Dieser Stadtteil, der Nabel der Welt war, kommt zur Ruhe. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten pausiert. Und findet während der Corona-Krise zu sich selbst. Weil man sich auf die Ausnahmesituation einlässt – und das Beste draus macht. Ob Neukölln dabei cool ist, ist nur noch eine belanglose Frage aus einer anderen Zeit. Was für ein Luxus!


So vielfältig ist Neukölln: 12 Impressionen, die euch überraschen werden. Ungewohnte Eindrücke gibt es derzeit auch in der leeren Nacht – etwa die Clubs, die keiner mehr besucht. Neukölln hat wirklich viel zu bieten: Was man über den Stadtteil wissen muss. Wer Neukölln besser kennenlernen will, aber die Öffis meiden will – in diesen Fahrradläden werdet ihr gut beraten. Und wer jetzt Lust aufs Entdecken bekommen hat: Diese Ausflüge lohnen sich in und um Berlin.

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