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Corona und Gesundheit

Notarzt über die Corona-Krise: „Da sterben Leute dran!“

Vielen jüngeren Menschen sei die Corona-Gefahr nicht vollständig bewusst, sagt ein Berliner Notarzt. „Da sterben Leute dran.“ Schwere Covid-19-Verläufe beobachtet er bereits bei Unter-60-Jährigen. Deshalb mahnt er, angesichts der anstehenden Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen geduldig zu bleiben – und weiterhin Abstand zu halten. Unser Gesprächspartner ist Facharzt in einem Berliner Krankenhaus. Er befasst sich mit der Akutversorgung von Covid-19-Patient*innen und ist auch als Notarzt im Rettungswagen im Einsatz. Hier möchte er anonym bleiben. Der Name ist der Redaktion bekannt.

Ein Notarzt im Einsatz im Rettungswagen. Symbolfoto: Imago/Rainer Weisflog

tipBerlin Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die Corona-Beschränkungen bis zum 3. Mai im Wesentlichen fortzuführen und nur sehr vorsichtig zu lockern. Was denken Sie darüber?

Arzt Auf alle Fälle ist das richtig, glaube ich. Die Bilder, die wir aus Spanien, aus Italien und momentan vor allem aus den USA sehen, wo die Krankenhäuser nicht mehr in der Lage sind, alle Patienten zu versorgen, das existiert bei uns noch nicht. Es ist extrem wichtig, dass wir das System aufrechterhalten.

Notarzt über die Corona-Krise: Momentan können wir alle Patienten versorgen

tipBerlin Wie ist die Situation bei Ihnen im Krankenhaus?

Arzt Wir haben Covid-19-Patienten, aber wir haben genügend Betten und genügend Beatmungsmöglichkeiten. Wir haben auch noch genügend Schutzmaterialien und können alle Patienten adäquat versorgen.

tipBerlin Wird das so bleiben?

Arzt Momentan haben wir ein stabiles Niveau. Es ist nicht so, dass es von Tag zu Tag mehr Patienten werden. Aber ich habe natürlich auch nur einen Teil-Einblick. Wie es in anderen Kliniken in Berlin aussieht, kann ich nicht sagen. Aber es ist nicht so, dass Patienten quer durch die Stadt verlegt werden müssten, weil es irgendwo einen erheblichen Behandlungsengpass geben würde.

Covid-19: Es kann jede Altersgruppe treffen

tipBerlin Welche Altersgruppen sehen Sie im Krankenhaus in der Covid-19-Akutbehandlung?

Arzt Betreffen kann es alle Altergruppen. Das muss man immer im Hinterkopf haben. Junge Menschen mit leichten Symptomen sehe ich im Prinzip nicht als Patienten, die bei uns im Krankenhaus aufschlagen…

tipBerlin „Jung“ meint welches Alter?

Arzt 20-, 30-Jährige. Das kriegt man eher über Kollegen mit, die sich selbst infiziert haben: in der Pflege, im ärztlichen Dienst. Die Symptome sind aber sehr unterschiedlich.

tipBerlin Zum Beispiel?

Arzt Es wurde in Vergangenheit ja immer genannt: Husten, Erkältungssymptome, Fieber, Halsschmerzen seien typisch. Aber es gibt auch andere Patienten. Manche haben keinerlei Symptome. Andere haben Bauchschmerzen. Und es gibt Patienten, die einfach über Tage steigende Luftnot haben. Einige Patienten beschreiben das Gefühl eines „langsamen Ertrinkens“. Wenn man in die Altersstufe um die 40 bis 60 geht, gibt es dort einige Patienten, die das schwerer wegstecken. Die ältere Generation trifft es häufig schwerer.

tipBerlin Das bedeutet dann was?

Arzt Dass sie beatmet werden müssen. Dass die wirklich ein Lungenversagen bekommen.

tipBerlin Diese Gruppe um 40 bis 60 Jahre haben die meisten ja nicht als mitunter akut von einer Covid-19-Erkrankung bedrohte Altersgruppe auf dem Schirm.

Arzt 40-Jährige sind selten, das kommt aber auch vor. Aber im Alter zwischen 50 und 60 gibt es viele, die respiratorisch, also von der Eigenatmung her, im schlechten Zustand sind.

Einsatz im Rettungswagen: Mittlerweile wollen die Leute gar nicht mehr ins Krankenhaus – aus Angst

tipBerlin Sie sind auch als Notarzt im Rettungswagen unterwegs. Wie sind dabei Ihre Erfahrungen?

Arzt Auffallend ist, dass viele Patienten am Anfang der Pandemie anriefen, weil sie Symptome hatten und dachten, sie hätten die Krankheit. Mittlerweile sind die Patienten damit eher zurückhaltend, weil sie nämlich gar nicht mehr ins Krankenhaus wollen, weil sie Angst haben, sich dort zu infizieren. Diese Sorge ist auch absolut berechtigt. In manchen Bereichen haben sich deshalb die Einsatzzahlen bei Rettungseinsätzen wie auch die Konsultationen in den Notaufnahmen reduziert. Patienten mit bedrohlichen Erkrankungen, wie zum Beispiel Schlaganfall oder Herzinfarkt, sollen aber weiterhin unbedingt rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen!

tipBerlin Zum Hausarzt können die ja oft auch nicht gehen.

Arzt Das Problem ist, dass die Regelversorgung in vielen Bereichen im ambulanten Sektor nicht mehr so gut wie früher funktioniert. Altenheime zum Beispiel werden einfach nicht mehr so durch niedergelassene Kollegen versorgt, wie das vor der Corona-Krise der Fall war. Ich weiß nicht, wie es aktuell ist. Aber in der Vergangenheit lag das auch daran, dass die niedergelassenen Ärzte keine Möglichkeit hatten, sich selbst vor einer Corona-Infektion zu schützen. Mit Mundschutz, Kittel, Handschuhen.

tipBerlin Sind Sie selbst im Krankenhaus noch ausreichend versorgt?

Arzt Es gibt von den Fachgesellschaften Warnungen, dass zum Beispiel die Narkosemittel-Bestände schrumpfen. Momentan hat das aber noch keine wesentliche Auswirkungen auf unsere tägliche Arbeit. Was aber erschreckend ist: dass viele Artikel, die vor Corona Cent-Beträge waren, jetzt teilweise nicht mehr in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Wir sind angehalten, sparsamer mit den Ressourcen umzugehen, zum Beispiel beim Thema Mundschutz.

Lockerung der Corona-Beschränkungen: Wir brauchen noch ein bisschen Zeit

tipBerlin Schon vor Ostern gab es Debatten um eine baldige starke Lockerung zum Beispiel der Ausgangsbeschränkungen. Ein bisschen früh, oder?

Arzt Ich glaube ja. Weil wir momentan eigentlich sehen, dass die Maßnahmen greifen. Wir haben Neuinfektionen, können sie aber alle behandeln. Natürlich haben wir schwere Verläufe und auch Tote, auch wenn den meisten das nicht bewusst ist. Da sterben Leute dran! Aber ich glaube, man muss sich noch ein bisschen Zeit geben und in zwei, drei Wochen erneut den Verlauf beurteilen. In der Bewertung der Mortalität bleibt aber zu klären: Ist jemand wirklich an Covid-19 gestorben? Oder ist jemand mit Covid-19 gestorben? Das ist natürlich schwierig, wenn ich eine multimorbide Patientin habe, die alt ist: ob da die Erkrankung nur noch der letzte Anstoß zum Tod ist.

tipBerlin Was geht in Ihnen vor, wenn Sie beim einsamen Spaziergang im Park Gruppen sehen, die es sich gemeinsam auf der Wiese gemütlich machen?

Arzt Gruppen halte ich für schwierig. Corona-Partys für extrem schwierig. Ich finde das respektlos. Dass manche sich herausnehmen zu sagen: Ich will mich nicht an die Vorgaben halten.

tipBerlin Weil sich viele, wir sprachen vorhin über die betroffenen Altersgruppen, für unverwundbar halten, was eine mögliche Erkrankung betrifft? Weil sie nicht mit schweren Verläufen rechnen?

Arzt Na ja. Es ist aber auch auffallend, dass darunter viele sind, die nicht in der Sturm- und Drangphase ihres Lebens mit 15 bis 25 sind, sondern diese Phase eigentlich längst überschritten haben sollten, die sich jetzt nicht an die Kontaktbeschränkungen halten.

tipBerlin Nichts mit Altersweisheit?

Arzt Nee. Aber trotzdem finde ich es auch erstaunlich, wie viele Menschen sich diszipliniert verhalten.

Kommt die große Corona-Welle erst noch?

tipBerlin Kommt die große Erkrankungswelle erst noch? Manche Experten befürchten das.

Arzt Ich hätte erwartet, dass die Bilder, die wir aus Spanien, Italien und aus New York kennen, auch bei uns schon Realität geworden wären. Das ist nicht der Fall…

tipBerlin Was ja dann doch eine gute Nachricht ist.

Arzt Deswegen meine ich aber, dass es jetzt noch zu früh ist, die Maßnahmen zu lockern. Wenn wir dann nämlich sehen, dass wir nicht einen massiven Anstieg der Neuinfektionen und Todesfälle bekommen, die dann auch dazu führen, dass die medizinische Versorgung an ihre Grenzen gerät – dann haben wir alles richtig gemacht.

tipBerlin Ab nächste Woche sollen zum Beispiel in Berlin kleinere Läden bis 800 Quadratmetern wieder öffnen können. Wie finden Sie das?

Arzt Mund-Nasen-Schutz und Händehygiene sind etwas Entscheidendes. Dann ist es auch wieder möglich, in anderen Geschäften als nur im Baumarkt oder im Supermarkt einzukaufen zu gehen. Warum sollte ich nicht auch Kleidungsstücke mit einem Mund-Nasen-Schutz kaufen? (mehr dazu in unserem Mundschutz-Blog, Anm. d. Red)

Facharzt: Schulen halte ich für problematisch

tipBerlin Die Schulen sollen auch schrittweise öffnen. Berlin will dabei sogar schneller vorgehen, als Bund und Länder vereinbart haben.

Arzt Schulen halte ich deswegen für problematisch, weil man den Abstand nicht einhalten kann. Die Kinder sitzen da in Klassenräumen zusammen, die  jetzt schon in einem schlechten baulichen Zustand sind. Die Sanitäranlagen in den Berliner Schulen sind oft unter aller Sau! Wenn ich da hunderte von Kindern durchschleuse, weiß ich, dass sich die Infektionen relativ schnell verbreite.

tipBerlin Die Kinder wirken dann womöglich als Super-Spreader.

Arzt Was die meisten Kinder wahrscheinlich gesundheitlich nicht belasten würde. Aber die Übertragung auf Eltern, auf Großeltern ist wahrscheinlich das größere Problem. In Deutschland liegt das Infektionsalter im Durchschnitt bei ungefähr 50 Jahren. Die schweren Verläufe können in jungen Jahren auftreten. Das ist seltener, die gibt es aber. Ich kenne einige tragische Fälle. Aber natürlich ist das Risiko eines schweren Verlaufs in der Breite bei Älteren viel größer. Und wenn man sich anguckt, wie viele Lehrer über 50 sind, dann wird das natürlich problematisch. Dann haben wir plötzlich nur noch die Hälfte der Lehrer zur Verfügung, die unterrichten können. Und dann wollen wir kleinere Klassengrößen haben? Das muss alles noch diskutiert werden.

tipBerlin Wie optimistisch sind Sie, dass wir auch die nächsten Wochen vergleichsweise glimpflich überstehen?

Arzt Ich glaube, dass wir andere Probleme kriegen werden und sich damit die Sichtweise auf die Pandemie verändern wird, weil immer mehr Leute psychische Probleme bekommen, ihre Sozialkontakte nicht mehr pflegen können, wirtschaftliche Probleme dazu kommen. Diese veränderte Sichtweise kann auch dazu führen, dass Leute nicht mehr bereit sind, gewisse Maßnahmen einzuhalten, um sich und andere zu schützen. Sondern dass der eigene Egoismus wieder vorgeht.


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