Kommentar

Autofreies Berlin: Weniger jammern, mehr argumentieren

Es gibt vieles, das für ein autofreies Berlin spricht. Etwa das Kriegstreiben auf den Straßen, die Blechschlachten zwischen Fahrrädern und Autos, in denen Fußgänger:innen Speichen und Radkappen wie Schrapnelle um die Ohren fliegen. Abgase, die sich zu einem Cocktail vermischen, der Lungenflügel abstürzen lässt. Zugeparkte Bürgersteige und Gassen. Eine ernsthafte Diskussion über weniger Verkehr wäre also angebracht.

Die Initiative „Volksentscheid Berlin Autofrei“ regte sie bereits an. Geht es aber um das Thema, schlagen Politiker:innen zusammen mit Autofahrer:innen ihre Zelte im Phrasenreich auf. Sie wollen keine Verbotspolitik, sondern Freiheit, Lebensqualität – und die könne scheinbar nur stetes Autofahren erhalten. Drei Argumente gegen ein autofreies Berlin fallen besonders häufig. Unser Autor hat sie sich angesehen und findet: Sie fallen ziemlich schwach aus.

Autofreies Berlin: Bis Ende Oktober ist das zumindest auf einem Abschnitt der Friedrichstraße Realität. Warum das Ganze nicht ausweiten? Foto: Imago/Chromorange
Autofreies Berlin: Bis Ende Oktober ist das zumindest auf einem Abschnitt der Friedrichstraße Realität. Warum das Ganze nicht ausweiten? Foto: Imago/Chromorange

Autofreies Berlin heißt Verzicht auf Einsatz- und Lieferwagen!

Das wäre heftig. Unfallopfer würden mit Rikschas oder Kutschen abgeholt; Supermärkte nur noch via Lastenrad beliefert; Paketdienste schicken ihre Kuriere mit Wanderrucksäcken los. Die Infrastruktur bricht zusammen, an allen Ecken herrscht Unterversorgung. Gerade deshalb fordert das niemand. Ziel einer autofreien Stadt wäre, Fahrzeuge aufgrund ihres Gebrauchtwerts zu nutzen, schreibt „Berlin Autofrei“. Rettungs- und Pflegedienste, aber auch Polizei sowie der Wirtschaftsverkehr hätten freie Fahrt. Sind Privatpersonen auf ein Auto angewiesen, etwa wegen einer Behinderung, bekämen sie eine Sondernutzungserlaubnis. Alle anderen hätten 12 Freifahrten im Jahr. Letzteres ließe sich schwer kontrollieren, aber sei’s drum.

Grundsätzlich ist es gut für alle lebenswichtigen Verkehrsteilnehmer:innen, wenn die Straßen Berlins nicht mehr überfüllt sind. Derzeit braucht die Feuerwehr Berlin bei 61 Prozent aller Notrufe mehr als acht Minuten, um einen Einsatzort zu erreichen, berichtet der „Tagesspiegel“ hier. Der Senat gibt jedoch für 75 Prozent aller Fälle eine Acht-Minuten-Frist vor. Gründe für die Verspätung seien Mitarbeitermangel, zugeparkte Einsatzorte und eben Verkehrsteilnehmer:innen, die keine Rettungsgassen bilden. Der Wirtschaftsverkehr leidet ebenfalls unter hochfrequentierten Straßen, können Waren doch nicht pünktlich geliefert werden.

Warum sich das Argument, trotz Widerlegung, hartnäckig hält, unklar.

Wir brauchen nicht noch mehr Verbote!

Bei der „Zeit“ sprach CDU-Politiker und Opa-Enkel-Chimäre Philipp Amthor im Zusammenhang mit einem autofreien Berlin von Verbotspolitik. Auch Berlins SPD-Chefin Franziska Giffey wünscht sich „Angebot statt Verbote“. Wahlkampf lebt von freiheitsliebenden Plattitüden, aber auch rhetorischen Platzpatronen. Amthor bezieht sich auf das Grundgesetz, sagt, jede Beschränkung der Freiheit müsse gerechtfertigt sein. Angesichts der Verkehrslage Berlins wäre sie das auch.

Im vergangenen Jahr starben 50 Menschen im Berliner Straßenverkehr, insgesamt gab es laut Unfallstatistik mehr als 126.000 Unfälle, Blechschäden eingerechnet. In Berlin ist die Unfalllage zwar weitaus weniger kritisch als in Ländern wie Sachsen-Anhalt (auf eine Million Einwohner:innen kommen 56 Tote), doch die Unfälle sind nicht das einzige Problem. Berlin schafft es gerade so, die Feinstaubvorgaben der WHO einzuhalten. Dass Notdienste Unfallstellen häufig verspätet erreichen, spielt ebenfalls eine Rolle.

Eingriffe vom Staat sind gelegentlich gerechtfertigt, Beispiel Rauchverbot in Kneipen. Gelegentlich müssen Unbeteiligte geschützt werden. Radfahrer:innen und Fußgänger:innen stehen in der Asphalt-Nahrungskette weit unten. Sie werden gefährdet, ohne selbst (stark) zu gefährden. Berlin bietet eine vergleichsweise gute Anbindung, fast jeder Bezirk ist leicht mit den Öffis zu erreichen. Ein Fahrverbot in manchen, gerechtfertigten Fällen könnte so kompensiert werden. Anreize wie eine Teilkostenübernahme von Tickets dürften das bittere Verbot zudem versüßen.

Das öffentliche Verkehrsnetz ist darauf nicht ausgerichtet!

Das stimmt. So, wie das öffentliche Verkehrsnetz derzeit aufgebaut ist, wäre ein Fahrverbot kaum zu stemmen. Gilt besonders für beliebte Strecken, etwa die der U8. Hier müsste die Politik nachhelfen und viel Geld in den Ausbau stecken. Es braucht mehr Busse und Bahnen, zusätzliche Schienennetze, eine bessere Anbindungen für Bezirke außerhalb des Stadtkerns, etwa Spandau. Für eine grüne Verkehrswende wäre all das ohnehin angebracht.

Ein autofreies Berlin lässt sich demnach sehr wahrscheinlich nicht mal eben umsetzen, vorerst. Vielleicht ist die Initiative „Volksentscheid Berlin Autofrei“ in diesem Punkt derzeit etwas zu optimistisch, Stichwort Kontrollen. Doch Optimismus und ein Quäntchen Naivität gehören zum Aktivismus dazu. Dass sich Franziska Giffey mit dem Thema beschäftigt und der ADAC vor Verboten in Zuge dessen warnt, dass Philipp Amthor – sonst rhetorisch so geschickt – von Scheinargument zu Scheinargument stolpert, zeigt, welche Wirkung die Initiative erzeugt. Ja, ihre Forderungen sind nichts für die Gegenwart, aber für die Zukunft – sofern sich die Stadt entsprechend wappnet.


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