Während die Menschen in Berlin derzeit wahlweise in Kleingruppen an der frischen Luft oder in der eigenen Wohnung ausharren, sperren in der Schweiz trotz hoher Inzidenzen Restaurants und Kinos auf. Der Kontrast zwischen den Hauptstädten Berlin und Bern gibt zu denken: Können wir zurecht neidisch sein – oder ist die Berliner Strategie die bessere?
Es sollten eigentlich nur zwei Wochen Urlaub bei den Schwiegereltern in spe werden. Mal schauen, wie es sich während der Coronakrise so in Bern lebt, dachten wir uns. Immerhin gibt es rund um die Schweizer Bundeshauptstadt unberührte Natur, in der es sich spazieren lässt. Diese verspricht für den abendlichen Spaziergang ein höheres Maß an Abwechslung als die, wenn auch sehr schönen, Berliner Parks.
Nun sind die zwei Wochen rum. Und wir? Immer noch hier. Die Gründe, zurück nach Berlin zu fahren, lassen sich momentan an weniger als einer Hand abzählen. Und die Gründe noch länger in der Schweiz zu bleiben übersteigen zehn Finger bei Weitem. Während Berlin die Notbremse gezogen hat und Lockdown-Maßnahmen nie dagewesener Stringenz, wie die Ausgangssperre, den Hauptstadtalltag bestimmen, kehren die Schweizer seit einer Woche mit großen Schritten zur Normalität zurück.
Auch in Bern habe ich den Mundschutz immer dabei. Dieser ist aber, vorausgesetzt man möchte nicht einkaufen oder ins Restaurant, mehr ein gewissenhaftes Accessoire als ein nerviges Must-Have.
Inzidenz nur geringfügig besser: Aber die Schweizer Mentalität ist eine andere
Die Entwicklungen in der Schweiz sorgen anderswo in Europa, so auch im benachbarten Deutschland, in diesen Tagen für Kopfschütteln – und vielleicht auch für ein bisschen Neid. Denn in Bern wie auch anderswo in der Schweiz dürfen Restaurants ihre Gäste seit einer Woche wieder draußen bewirten, Kinos dürfen Publikum empfangen, Menschen können zum Training wieder in ihr Lieblings-Fitnessstudio und in nur wenigen Wochen sollen auch noch erste Pilotprojekte unter freiem Himmel lanciert werden: Konzerte und Veranstaltungen für bis zu 5.000 geimpfte Personen sind noch im Frühsommer geplant, in selbstbewussten Schritten will man dann wenig später Open-Air-Events für bis zu 10.000 Personen, im Herbst für bis zu 20.000 Personen erlauben.
Dabei liegt die Corona-Sieben-Tage-Inzidenz in der Schweiz nur geringfügig unter der in Deutschland – 163 zu 170 – Wie kann es also sein, dass die Nachbarn selbstbewusst Freiheit versprechen, während Berliner*innen bei gleichbleibend schlechten Zahlen inzwischen sogar nachts eingesperrt werden?
Der Grund ist eine lösungsorientierte Mentalität – von der man nur hoffen kann, dass sie sich auszahlt
Lange nicht alle Zeichen stehen im Nachbarland auf Besserung. Derzeit ist die Situation auf den meisten Schweizer Intensivstationen noch „stabil“, mancherorts stoßen Krankenhäuser jedoch an ihre Kapazitätsgrenzen. Aber die Schweizer Politik hat sich für eine lösungsorientierte Politik entschieden, die sie mit Hilfe einer gehörigen Prise Optimismus verfolgt.
In puncto Impfung schreitet die Schweiz seit einigen Wochen mit ihrem typischen Ruhepuls voran. Auch hier hieß es: Alte und Risikogruppen first. Aber es gab keine Irrungen um Impfstoffwirksamkeiten – Astrazeneca wurde in der Schweiz nicht einmal zugelassen. Und Moderna- und Pfizer-Engpässe wurden mit Geduld überspielt und in der Zwischenzeit wurde mit der Regelmäßigkeit eines Schweizer Uhrwerks weitergeimpft, wo es möglich war.
Weniger Skandale, weniger Schuldzuweisungen
Bis Juni sollen alle besonders gefährdeten Personen, 40 Prozent aller Schweizer, geschützt sein. Dann soll die sogenannte „Stabilisierungsphase“ beginnen, die auch die Rückkehr des Präsenzunterrichts an Schulen und die Öffnung der Innenbereiche der Gastronomie einläuten soll.
Ob Berlin wirklich Grund hat neidisch zu sein, wird sich zeigen
Im Gegensatz zum Schweizer Bundesrat sind jedoch bei Weitem nicht alle Wissenschaftler:innen vom liberalen Corona-Kurs so überzeugt wie die Bevölkerung selbst, die in der vergangenen Woche Sonne und Normalität in den Biergärten von Bern, Zürich und Luzern genoss.
Wie bereits angeschnitten: Viele Schweizer Intensivstationen füllen sich weiter – überraschenderweise zunehmend mit jüngeren Menschen zwischen 30 und 70.
Diese Verjüngung des durchschnittlichen Intensiv-Patienten wird von der Schweizer Regierung zum einen auf die voranschreitende Durchimpfung der älteren Bevölkerung geschoben, aber man rechnet zurecht zum anderen auch eine gewisse Sorglosigkeit mit ein, die jüngeren Menschen wohl nicht zuletzt durch die großzügigen Corona-Lockerungen signalisiert wird.
So sehen also auch in diesen Tagen lange nicht alle Berner:innen die Situation unkritisch. Einem Wirt fällt auf Anfrage kein wirklich positives Statement zu den Lockerungen ein, und das obwohl das Restaurant mit Blick über Bern in dieser Aprilwoche mehr als gut besucht ist. Mit Sorge beobachtet er, dass bei den euphorisierten Besucher:innen buchstäblich alle Hüllen fallen, so auch die Masken, die auch während des Konsumierens zwischenzeitlich eigentlich wieder aufgesetzt werden müssten. Aber die meisten Schweizer scheinen es gerade ein bisschen lockerer zu nehmen.
Die nächsten Wochen werden es zeigen: Sollte der Schweizer Masterplan nicht aufgehen und der Optimismus zu hoch kalkuliert sein, könnte es ein harter Sommer für das Alpenland werden. Ich würde es jedem von Herzen gönnen, dass der Sommer 2021 Normalität mit sich bringt.
Vielleicht aber wird Berlin nach diesen extralangen und harten Frühlingswochen die Hauptstadt sein, die zuletzt lacht. Aber auch nur vielleicht.
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