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Kommentar

Berlin riecht den Frühling: Aber die Vernunft darf noch nicht schmelzen…

Liebes Berlin, Sonne und 20 Grad plus können die Realität nicht ändern: Eine dritte Welle ist möglich, zu viel Leichtsinn durch Frühlingsgefühle könnte fatale Folgen haben.

Vor-Frühling am Landwehrkanal in Kreuzberg: Pandemie-Müdigkeit und Frühjahrs-Leichtsinn ergeben eine explosive Mischung.
Vor-Frühling am Landwehrkanal in Kreuzberg: Pandemie-Müdigkeit und Frühjahrs-Leichtsinn ergeben eine gefährliche Mischung. Foto: Imago/Held

So deutlich zu spüren wie die Sonne auf der Haut: der Freiheitsdrang der Berliner

Jeder, der etwas für Berlin übrig hat, wird besonders im Frühling daran erinnert, wieso. An sonnenverwöhnten Tagen, nach Wochen der Dunkelheit und Kälte, zeigt sich die neurotische Stadt von ihrer besten Seite: Wo sonst der Regen den Sperrmüll auf den Gehwegen durchweicht, sitzen und stehen plötzlich lächelnde Straßenmusiker*innen und besingen ihre Stadt, die unversehens zum Verlieben schön aussieht. Selbst im griesgrämigen, miesepetrigen Berlin gibt es dann mal ein Lächeln für lau.

Ein bisschen anders war es jedoch im Frühling 2020. Berliner*innen flohen damals von der Corona-Isolation ins Freie, doch Zurückhaltung, den Berliner*innen sonst eigentlich gar nicht eigen, bestimmte vielerorts die Atmosphäre – aus Respekt vor der neuen Krankheit, die noch so diffus, irgendwie nah und weit weg wirkte. Zum Glück wog der Verzicht noch nicht so schwer, wusste man ja, was auf dem Spiel stand, mal abgesehen von den Profis, die einen Boot-Rave organisierten – weitere Wochen der Isolation, fernab der Normalität.

Ein Jahr später, im Vor-Frühling 2021, kann von Normalität zwar noch keine Rede sein, aber der Verzicht wiegt langsam unaushaltsam schwer. Das vergangene Jahr war so komisch, die Menschen haben sich schon so lange zusammengerissen, und es scheint einfach nicht besser zu werden: In der Vorfrühlings-Sonne des letzten Wochenendes fiel in Berlin daher vielerorts alle Zurückhaltung.

Mancherorts eskalierten die Berliner Frühlingsgefühle

Berlin Die Berliner Polizei kontrollierte die Einhaltung der Abstandsregeln auch im Treptower Park. In dem großen Park war das noch verhältnismäßig gut möglich.
Die Berliner Polizei kontrollierte die Einhaltung der Abstandsregeln auch im Treptower Park. In dem großen Park war das noch verhältnismäßig gut möglich. Foto: Imago/Held

Berlin ist müde von Einschränkungen – das wurde am letzten Wochenende sehr deutlich. Beispiel Mauerpark am Sonntag: Tausende Menschen drängeln sich auf der Wiese und auf dem Atrium im Park aneinander, ausgelassen sitzt man in kleinen Grüppchen beisammen, grillt, lacht und verdrängt.

Hunderte Menschen applaudieren und johlen, als ein Mann von Polizisten zurecht gewiesen wird, weil er sich nicht an die Abstandsregeln und das Alkoholverbot im Park gehalten hatte. Der Applaus der Menschen gilt allerdings nicht den Ordnungshütern, die Menschen im ganzen Stadtgebiet an diesem Wochenende an die Einhaltung der Corona-Regeln erinnern, sondern dem Mann, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den überforderten Beamten einen schnippischen Kommentar reinzudrücken und seine Abneigung ihnen gegenüber mit abwinkenden Handbewegungen deutlich zu machen.

Im Mauerpark, wo sich ein Corona-müder Mob junger Menschen konzentrierte, wurde der Freiheitsdrang der Berliner*innen an diesem sonnigen Wochenende besonders deutlich. Nicht anders sah es am Ufer des Landwehrkanals aus – Volksfestatmosphäre. Und auch andernorts war die Stadt total aus dem Häuschen und die Pandemie schien zwischendurch praktisch nicht mehr existent.

Man muss sagen: Es ist schon irgendwie unfair, sich als Spielverderber fühlen zu müssen, wenn man sagt: Das könnt ihr gerade alles nicht machen, auch wenn es geil ist! Weil die nächsten Wochen darüber entscheiden, ob wir 2021 in relativer Freiheit oder Zurückgezogenheit, ohne oder mit Geldsorgen, in Angst oder entspannter leben müssen beziehungsweise können.

Von unserem Verhalten jetzt hängt ab, was im Lockdown lockerer wird

Berlin Am 22. Februar 2021 öffneten Berlins Schulen wieder: Die Stadt steht vor einer heißen Phase im Kampf gegen die Pandemie.
Am 22. Februar 2021 öffneten Berlins Schulen wieder: Die Stadt steht vor einer heißen Phase im Kampf gegen die Pandemie. Foto: Imago/Xinhua

„Im Frühling wird eh alles entspannter: Inzidenz- und R-Wert zählen kaum noch, wenn Menschen ihre Zeit an der frischen Luft verbringen.“ Dieser Gedanke dürfte vielen von uns in den letzten Wochen zwischendurch durch den Kopf geschossen sein – das hat das letzte Mal, als die Sonne schien, irgendwie so gestimmt.

Doch die Situation ist 2021 anders. Wir haben soviel geschafft, was wir jetzt, durch falsche Entscheidungen und Leichtsinn, wieder zunichte machen könnten. Daher wird über die Lockerungen in Berlin derzeit hitzig diskutiert. Besonders große Sorgen machen Expert*innen die Virusmutationen, durch die es in ganz Deutschland, und somit auch in Berlin, zu einer dritten Welle kommen könnte.

Und was die Kapazitäten auf den Intensivstationen betrifft, steht Berlin im bundesweiten Vergleich derzeit auch nicht berauschend da: 14 Prozent der Intensivbetten sind frei, ein gutes Drittel der belegten Betten wird von Covid-Patient*innen in Beschlag genommen. Genauso wenig oder noch weniger Platz haben derzeit nur die Bundesländer Hessen und Bremen.

Berliner Inzidenzwert steigt wieder – aber die Schulen machen wir auf

Seit Kurzem steigt auch der Berliner Inzidenzwert wieder, trotzdem wird umfassend über Lockerungen diskutiert und Schulen und Kitas sind seit heute wieder geöffnet. Wir befinden uns in einer heißen Phase der Pandemie. Die nächsten Wochen werden entscheiden, ob Deutschland in die dritte Welle kippt oder, begleitet von den Impfungen, in eine neue „bessere“ Phase der Pandemie eintritt, in der ein bisschen Normalität wieder etwas näher kommt.

Es scheint, als würden wir nach Wochen des „Aushaltens“ und „Zurücksteckens“ durch den verlockenden Vor-Frühling auf eine harte Probe gestellt. Die Folgen könnten jetzt, durch zuviel Frühjahrs-Leichtsinn, umso fataler ausfallen.

Es ist eine Probe, die wir bestehen müssen. Gerade jetzt, wo die Rufe nach Lockerungen immer lauter werden, und und ein erneutes Ansteigen der Zahlen ohnehin wahrscheinlicher wird.

Berlin hat den Kanal voll – und will sein Leben zurück.. Das war am Wochenende im Mauerpark nicht zu übersehen. Aber wir dürfen nicht den schönen Erinnerungen an den Frühling 2020 verfallen und uns blenden lassen von der Sonne: So warm sie auch scheint, sie kann die Pandemie nicht in den Schatten stellen.


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Durch Corona geht vieles nicht wie sonst, auf ein paar Dinge freuen wir uns im Berliner Frühling 2021 trotzdem. Nach einem langen Tag den Kopf frei kriegen: An diesen Orten in Berlin sieht die untergehende Sonne besonders beeindruckend aus. Und es gilt auch weiterhin: #supportyourlocals. Hier sind unsere Empfehlungen für Restaurants, die während der Pandemie Lieferung oder Take-Away anbieten, für Schöneberg, Friedrichshain, Neukölln, Mitte und Prenzlauer Berg.

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