Trotz Corona wieder zur Schule? Das ist umstritten. Doch dass Wirtschaft und Kultur still stehen, ist beängstigend genug. Dass Schülerinnen und Schüler seit Wochen nicht zur Schule dürfen, ist ein kaum haltbarer Zustand. Ein Plädoyer für die Öffnung der Berliner Schulen trotz der Corona-Krise von Jacek Slaski
Den „Corona-Ferien“ folgten die regulären Osterferien und scheinbar nimmt die Ferienzeit weiterhin kein Ende. Frühestens am 27. April könnten Berliner Schulen öffnen, so lange und vielleicht noch länger werden die Maßnahmen zur Vermeidung der Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus fortgeführt.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller verweist strikt auf die Eindämmungsverordnung und sieht im Moment keine Gründe zur Entspannung. Man wolle sehen, wie sich die Situation entwickelt. Weitere Erkrankungen und Todesfälle sollen auf ein Minimum reduziert und um jeden Preis die Gesundheitssysteme geschützt werden.
Damit gehen die Berliner Schüler in den zweiten Monat ihrer erzwungenen Freizeit. Weitestgehend ohne Kontakt zu Freunden und Verwandten, ohne die Möglichkeit auf den Spielplatz zu gehen und ohne oder mit minimaler schulischer Betreuung.
Trotz Corona sollen zumindest Berlins Grundschulen wieder öffnen
Das muss so sein, werden viele rufen, die Gefahr ist zu groß. Das mag sein, und Corona ist kein Spaß. Ohne Frage. Dennoch würde ich dafür plädieren, zumindest die Grundschüler wieder in die Schule zu schicken. Stufenweise sollten die anderen Schulformen zeitnah folgen. Das empfehlen übrigens auch die Experten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einem Gutachten zum Thema.
Die Krise ist für Erwachsene eine Belastung, für die meisten Kinder ist sie schwer zu ertragen. Dabei geht es in erster Linie nicht um Kinder aus bildungsnahen Familien, in denen die Akademiker-Eltern gerne als Aushilfslehrer einspringen und die recht willkürlich organisierte Betreuung durch die eigentlichen Lehrer ausbalancieren.
Hört man sich so um, bekommt man den Eindruck, die „Corona-Ferien“ seien ein abenteuerliches „Projekt“, bei dem man als Familie näherrückt und sich in Homeschooling weiterbildet. Das mag in vielen Fällen stimmen. Doch gerade Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen, die selbst von den engagiertesten Lehrern in dieser Zeit kaum oder gar nicht erreicht werden können, benötigen die schulische Betreuung umso mehr. Und selbst den anderen. Eltern gehen mittlerweile die Ideen aus, wie man Kinder beschäftigen kann.
Schule ist nicht nur eine Lernfabrik, sondern auch eine feste Größe im Leben von Schülern, die für Struktur sorgt und auch eine beaufsichtigende Rolle einnimmt. Lehrer und Erzieher können aber nur Missstände und Probleme erkennen und Maßnahmen ergreifen, wenn sie mit ihren Schülern in Kontakt stehen. Das ist normalerweise fünf Mal die Woche der Fall.
Der Kontrollverlust durch die Schule ist ein Problem
Durch die „Corona-Ferien“ reproduziert sich die soziale Ungleichheit um ein Vielfaches. Dass Kinder vor Smartphone oder Playstation abstumpfen, ist dabei noch die geringste Gefahr – auch, wenn Kinder sich beim Fernsehen selbst jetzt an Regeln halten sollten.
Schlimmer sind häusliche Gewalt, Aggressionen, psychische Erkrankungen, Alkoholismus, Missbrauch – dass alles gibt es und das alles trifft Kinder gerade jetzt umso härter. Durch Corona sind sie diesen Bedrohungen nahezu schutzlos ausgeliefert.
Der Kontrollverlust durch die Schule ist ein Problem, dem Einhalt geboten werden muss. Ja, wir müssen als Gesellschaft gerade ältere Menschen vor einer Ansteckung mit COVID-19 schützen. Aber wir müssen auch die jüngsten Mitglieder dieser Gesellschaft schützen vor den Folgen der Corona-Maßnahmen und das geht nur, wenn man die Schulen wieder öffnet.
Ob im Schichtsystem oder mit reduziertem Stundenplan, ob nur drei Mal die Woche oder noch ganz anders, soll an anderer Stelle entschieden werden. Aber ein Verharren in dieser Situation muss aufhören!
tip-Serie: Das sind unsere Stadthelden
Warum Sonja trotz Corona mit ihrem Taxi in Berlin unterwegs ist, und in der zweiten Folge Stadthelden berichtet uns Busfahrer Sener Piskin, wie er mit der Corona-Krise umgeht.