Parteipolitik

Wie das BSW im Land Berlin zum Machtfaktor werden will

In ostdeutschen Bundesländern ist das BSW aus dem Nichts zur festen Größe geworden. Auch in Berlin will das Bündnis Sahra Wagenknecht zu einer Macht werden – mit Themen, die eigentlich wenig mit Landespolitik zu tun haben. Bericht über eine Partei neuen Typs.

Alexander King ist Co-Chef des Berliner BSW-Landesverbands – und betrachtet Hochhaussiedlungen als zentrale berufliche Umgebung. Foto: Mak

Der Außenposten der neuen politischen Größe befindet sich in der südlichen Peripherie der Stadt. Alexander King, Anführer des BSW-Landesverbands, hat dort sein Abgeordnetenbüro. In Marienfelde, einem wenig glamourösen Stadtteil am Rand des Bezirks Tempelhof-Schöneberg.

Hier, an der Hildburghauser Straße 29, einer Hochhaussiedlung aus den 70er-Jahren mit 21 Etagen, schraubt sich Betonarchitektur in den Himmel. Ein Kleine-Leute-Block, wo der Facharbeiter, die Bürgergeldempfängerin oder die türkische Familie mit bescheidenem Einkommen wohnen. Die Felder des Landkreises Teltow-Fläming sind nur ein paar Steinwürfe entfernt.

Im Erdgeschoss residiert Alexander King, 55, Ex-Linken-Politiker. Die Banderole am Schaufenster seines Abgeordnetenbüros ist noch gestaltet im Corporate Design seiner alten Truppe, nur der „Linke“-Schriftzug ist entfernt. Im vergangenen Oktober hat er die demokratischen Sozialisten verlassen. Nach den Abgeordnetenhauswahlen 2021 und 2023 war er noch als deren Repräsentant ins Stadtparlament eingezogen.

Der Berliner Landesverband des Bündnisses Sahra Wagenknecht hat sich vor Kurzem gegründet. Rund 100 Mitglieder – Stand Spätsommer –, die mit ihrer Partei die politische Arithmetik durcheinanderwirbeln. In einer Umfrage liegt die Anti-Establishment-Gruppierung bei 12 Prozent.

Was will die neue Partei in Berlin? 

In drei ostdeutschen Bundesländern hat sich die Partei nach diesjährigen Landtagswahlen schon etabliert. In Thüringen und Brandenburg wird sie sogar Teil einer Regierungskoalition. In Berlin haben sich nicht nur ehemalige Aficionados der Linkspartei den Mitglieder- und Unterstützerkreisen angeschlossen, auch Leute mit SPD- oder FDP-Hintergründen sowie Parteiunabhängige.

Alexander King, einer der Landesvorsitzenden in Berlin, groß geworden in Tübingen, war lange ein Hinterbänkler. Der promovierte Geograf war Referent der Bundestagsfraktion der Linken zwischen 2005 und 2021, danach saß er im Abgeordnetenhaus. Als Nachrücker jedoch, der sowohl nach dem Urnengang 2021 als auch nach der Wiederholungswahl im Februar 2023 nur die große Bühne erklommen hatte, weil andere Kollegen abgetreten waren.

„Ich habe ein Herz für die Gekränkten“, lässt Alexander King nun wissen, der selbst in Schöneberg wohnt. Eine wichtige Zielgruppe des Bündnisses Sahra Wagenknecht: the people who work hard and play by the rules.

Die Lage seines Büros in Marienfelde könnte man sogleich durchanalysieren: ein Wagenknecht-Populist, der nunmehr in Nahkontakt zur eigenen Klientel steht. Unter jenen Menschen, deren Leben von den Berghain-, Veggie- und Yoga-Communitys innerhalb des S-Bahnrings mehrere Galaxien entfernt ist.

King, drahtig, mit Sommerhemd, leitet den BSW-Landesverband mit der Co-Chefin Josephine Thyrêt, einer Vivantes-Krankenschwester, die Betriebsratschefin ist und sonst noch im Vorstand der Kleingartenanlage Märchenland in Pankow aktiv ist. An der Wand seines Büros hängt ein Romantikfoto zweier Mentoren: Wagenknecht und Lafontaine, das Traumpaar einer Retrosozialdemokratie, die massentauglich geworden ist, posiert in sanftem Licht.

BSW in Berlin: Sie wollen soziokulturell Benachteiligte erreichen

Der Landesverband hat zuletzt ein Eckpunktepapier herausgegeben. Zuvor hatten sich die Neuen auf das vierseitige Manifest der Bundespartei berufen. Das BSW-Evangelium in Kürze: zu viel Klimaschutz, zu viel Gendergaga, zu viel Willkommenskultur, zu viel Ukraine-Hilfe. Man will Menschen erreichen, die sich soziokulturell benachteiligt fühlen.

Um politische Kraftfelder in Berlin näher zu bestimmen, hilft ein Blick auf die Praxis des Abgeordneten Alexander King, der nunmehr als Fraktionsloser im Haus an der Niederkirchner Straße zugegen ist.

Zum Beispiel die parlamentarischen Anfragen: Sie sind beliebte Mittel für Oppositionspolitiker, um Akzente zu setzen. King ventiliert vor allem Triggerthemen in die Arena. Das Skandalgeschrei aus den Sozialen Medien ergießt sich portiönchenweise ins Grau-in-Grau des parlamentarischen Alltags. Es geht um Wohnungspolitik, aber eben auch um Gendersprache an den Schulen. Und vor allem um die Nachwehen der Corona-Pandemie. Mit 20 Anfragen hat er die Sachbearbeiter in den Behörden überflutet. Ihn interessiert die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Covid 19, die stationär behandelt worden sind. Die Überstunden, die Pflegerinnen und Pflegern leisten mussten, oder die Frage, ob es im Frühjahr 2020 nach Ischgl, anderen Superspreader-Events und überhaupt der rasanten Ausbreitung des Virus jemals einen exponentiellen Anstieg von Infektionen in Berlin gegeben hat.

Die Linken-Abgeordnete Katalin Gennburg, nunmehr Konkurrentin, Vize-Cefin der Landespartei, schimpft: „Das BSW macht Politik mit den Mitteln der Bild-Zeitung.“ Der BSW-Landesverband sei „politisch rechts“ und „komplett käuflich“. Außerdem gebe es keine innerparteiliche Demokatie.

Die neue Partei bewirtschaftet sentimentale Gefühle: Transportiert wird ein Deutschlandbild, angelehnt an die frühen 70er-Jahre – nur ohne Afri-Cola, sexuelle Revolution und Intellektualität.

Demnach ist das Wirtschaftssystem immer noch eine fossile Industriegesellschaft, angetrieben von Öl und Gas. Die soziale Frage: ein Problem, das im nationalen Rahmen behoben werden muss. Klimawandel, die Interdependenzen in einer globalisierten Welt und überhaupt die Herausforderungen einer vielfältigen Gesellschaft: nur Luxusthemen. Alexander King, der Berliner BSW-Chef, sagt: „Den Begriff ‚progressiv‘ halte ich für verbraucht.“

Das außenpolitische Profil ist nostalgisch. Früher war alles besser, auch die internationalen Beziehungen. Das sonnendurchflutete Bild dafür: die Annäherungen zwischen dem Sowjetkommunismus und westdeutschen SPD-Politikern wie Willy Brandt und Egon Bahr.

Ein Orts- und Zeitwechsel: Am Neptunbrunnen in Mitte, ganz in der Nähe des Roten Rathauses, versammeln sich zum Weltfriedenstag am 1. September politische Splittergruppen. Darunter die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), die DKP, die „Kommunistische Plattform“ der Linkspartei. Ihre Vertreter verteilen Flyer und Devotionalien an den Ständen. Fahnen mit Friedenstauben wehen, auch eine IG-Metall-Flagge flattert in der Luft. Die meisten Besucher tragen graues Haar, eine Ü-60-Veranstaltung. Das Bündnis Sahra Wagenknecht lässt sich ebenso blicken.

Der Landesverband begegnet dort dem hartgesottenen Teil einer weiteren Wählerklientel. Putin-Versteher, die sich der Friedensbewegung zurechnen. Am Stand steht zum Beispiel ein BSW-Mitglied namens Manaf Hassan, angehender Volljurist, außerdem Blogger. Ein Mann mit Schiebermütze, der an diesem Schaubudenplatz für seine neue Familie wirbt.

Auch für das BSW in Berlin ist der Ukraine-Krieg das beherrschende Thema

Wenn er Menschen in Berlin nach den Themen fragen würde, die sie umtrieben, kämen über 70 Prozent auf die Friedensfrage zu sprechen, erzählt er. Für ihn ist das Gezeter um militärischen Beistand für die Ukraine ein Topic mit lokalpolitischer Bedeutung: Wenn an der Rüstung gespart würde, könne mehr Geld in die Kommunen fließen.

Eine Helferin am Stand ist Wiebke Diehl, Mitarbeiterin der BSW-Bundestagsabgeordneten Żaklin Nastić, Ex-Linken-Frau. Die Grünen nennt sie „Kriegstreiber“ – jene Partei, die vehement für eine Fortsetzung der Waffenlieferungen an die Selenskyj-Regierung streitet. Beide BSW-Leute wollen nichts davon wissen, dass Wladimir Putin und der Kreml den Offensivkrieg gegen ihr Nachbarland losgetreten haben.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht trägt Weltpolitik in die Umlaufbahnen des Landes Berlins. Eine Sphäre, in der man sich eigentlich um Schulsanierungen, die Digitalisierung von Behörden oder den Ausbau von Radwegen kümmert.

In der ersten Reihe: Der BSW-Landesverband will in Berlin die politische Kultur verändern. Foto: Imago/Funke Foto Services

Das Theater Ost, ein DDR-Bau in Adlershof, war am 14. Juli die Kulisse für die Gründung des BSW-Landesverbands. An der Fassade des Hauses prangte ein Transparent: „Im Osten geht die Sonne auf“.

Das Friedensthema sei für viele der wichtigste Grund, das BSW zu wählen, verkündete Alexander King während des Parteitags. Manaf Hassan, der Meinungsverkäufer von der Friedenskundgebung am Neptunbrunnen, mancherorts als Assad- und Putin-Propagandist verschrien, kandidierte für den erweiterten Vorstand. So berichtete es die „taz“. Dort ist auch das Spitzengespann um King und Thyrêt erkoren worden. Die Mitglieder sind sorgfältig ausgewählt worden; in Medien machte der Begriff „Kaderpartei“ die Runde.

Die wilde Mischung in der BSW-Agenda kommt vor allem in den Stadtvierteln mit starker Ostidentität an. Während der Europawahl im Juni war die Wagenknecht-Partei in Stimmbezirken dieser Art sogar in der Pole Position. An dieser Stelle als kleines Testbild einmal die Lage im Stimmbezirk 413 in Biesdorf im Bezirk Marzahn-Hellersdorf: 24,1 Prozent für das BSW. In einer dieser typischen Siedlungen im Hinterland Ost-Berlins mit Buckelpisten, Jägerzäunen und kleinen Häuschen. Sonst erstrecken sich Hoheitsgebiete in den Fly-Over-Areas der Bezirke Lichtenberg und Treptow-Köpenick – aber auch in den Wohnbatterien am Alexanderplatz.

BSW in Berlin: Die Linkspartei ist jetzt in Gefahr

Im Westen hat das BSW bei den Europawahlen vielerorts seinen engsten Rivalen, die Linkspartei, hinter sich gelassen. Selbstredend nicht in den Szene-Kiezen mit Autonomen-Cafés und Second-Hand-Boutiquen, sondern in den entlegenen Miethausquartieren. Darunter jene triste Ecke in Marienfelde, wo Alexander Kings Abgeordnetenbüro zuhause ist: Hier erzielte das BSW immerhin 9,9 Prozent.

Alexander King, der Landesvorstand, war der einzige Überläufer aus der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus ins BSW-Lager. Zudem musste die Linke in den Bezirken einige Abtrünnige verzeichnen. Manchmal hielt man in den BVV-Fraktionen aber auch zusammen. Von einem große Exodus ist die Linke in Berlin verschont geblieben – während im Bundestag die Dezimierung größer war. Mit Wagenknecht haben neun weitere Volksvertreter die Bundestagsfraktion verlassen, darunter Promis wie Klaus Ernst und Sevim Dağdelen.

Für die Linkspartei, die nunmehr am Abgrund taumelt, im Bund, aber auch in manchen Berliner Bezirken, stellt sich nun die Masterfrage: wie man vor allem wieder interessant für die Normalos werden könnte – um mehr zu sein als ein Club für Großstadtakademiker. Andernfalls verschwindet diese Partei, die so stark wie keine andere den Fokus auf die soziale Frage setzt, womöglich von der Bildfläche.


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Ein typisches Unding der Marke Berlin: Der Steglitzer Kreisel ist ein Mammutprojekt, das massenweise Wohneinheiten hervorbringen sollte, aber schon länger stillsteht. Überhaupt ist die Wohnungsfrage das wohl drängendste Problem in der Stadt – und der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ lässt nicht locker, damit die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne umgesetzt wird. Für die Allgemeinheit setzten sich auch die Klimaschutzbeauftragten in den Kommunen ein: Sie prüfen, wo in den Bezirken die CO2-Emissionen gesenkt werden können.

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