Kommentar

Cancel Culture: Wer wird hier eigentlich am Ende bestraft?

Die Cancel Culture ist so etwas wie der Elefant im Mediendiskursraum. Gefühlt jede zweite Woche kanzelt das Empörium etwas ab, alle haben Angst, gecancelt zu werden – und auch dieser Text hätte sich beinahe selbst gecancelt. Zu komplex ist das Thema, zu viel bereits darüber geschrieben. Aber es ist eben auch: ein Debattenevergreen.

Tatort Internet: Wo beginnt Cancel Culture, wo hört gefährlicher Hass auf? Foto: Imago/Steinach

Im Grunde funktioniert Cancel Culture so: Jemand sagt etwas Dummes, andere lesen/hören/sehen das und üben Kritik. Sobald diese sich überschlägt, spaltet sich der Diskurs – die einen fordern Rechenschaftspflicht fürs Gesagte, die anderen beklagen eine Vernichtungskampagne gegenüber ihres Schützlings.

Cancel Culture: Linkes Diskursverschiebungstool oder Promophase für Bücher?

Wichtiges Narrativ ist, dass dies eigentlich immer von der politischen Linken kommt. Sie etabliert eine Meinungsdiktatur trotz konservativer Mehrheit, der Meinungskorridor ist bedroht! Man darf nicht mal mehr ein Schnitzel so bestellen, wie man möchte, generell muss man sich beim Schnitzeln arg schlecht fühlen, weil Verbotsparteien einem das Fleisch madig machen.

In der Praxis sieht das dann so aus, dass Dieter Nuhr auf seinem öffentlich-rechtlichem Primetime-Sendeplatz über Unterdrückung schluchzt. Lisa Eckhart, über die die tipBerlin-Redaktion geteilter Meinung ist, beklagt in Interviews und Talkshowauftritten ihre Ausgrenzung (und bewirbt nebenher ihr Buch). Ulf Poschardt raunt gegen das “juste Milieu” und den Elfenbeinturm der politisch Gleichgeschalteten, in dem er als Chefredakteur der „Welt“-Gruppe selbst sattelfest sitzt.

Kulturkampf, diskreditiert als „Cancel Culture“

Im Internet – also da, wo Cancel Culture stattfindet – kursiert ein Witz zu ebenjener: Alles fing an, als jemand beim Update seines Betriebssystems auf “cancel” drückte. Dem liegt viel Wahrheit inne – letztlich geht es in Wahrheit nicht darum, eine Person böswillig mundtot zu machen, sondern ein Update der Gesellschaft, in der wir leben. 

Cancel Culture: Feistes Grinsen: Lisa Eckhart hat sich mit Judenwitzen in Versace und Buchverkäufe hineingecancelt. Foto Imago Images/Andreas Weihs
Feistes Grinsen: Lisa Eckhart hat sich mit Judenwitzen in Versace und Buchverkäufe hineingecancelt. Foto Imago Images/Andreas Weihs

Dagegen steht die Weigerung mancher – sie sind vornehmlich alt, vornehmlich männlich, manchmal auch weiblich mit weißgefärbter Kurzhaarfrisur –, sich an diesem Wandel zu beteiligen. Sie sehen sich bedroht, weil, so scheint es, ihr Charakter aus generischem Maskulinum, Schnitzel, Böllern und Vollgas besteht. Und der Selbstverständlichkeit der Diskriminierung anderer.

“Haben die keine anderen Probleme?”, schallt es da häufig durch den Raum. Ironischerweise fragen das meist die, deren Existenz sich aus der Betonung ihrer Gestrigkeit speist. 

Realer Hass, reale Konsequenzen

Nicht ganz so gestrig hingegen ist ihr Rattenschwanz: Die Verquickung des bürgerlichen Altherrengestus mit der Wirkkraft entgrenzter Online-Emotionen. Wer nun “Gendergaga” befürwortet, wer Schnitzelsoßen umbenennen will, wer offen Rechtsextremismus entgegentritt, muss nicht nur mit Gegenrede rechnen, sondern oft genug mit Telefonterror, mit überbordenden Hassnachrichten, mit Morddrohungen und Verfolgung.

Cancel Culture: Freund von Katzenbildern, Internethatz und Profilneurose schmeichelnden Kunstfiguren: Rainer Meyer alias "Don Alphonso". Foto: Imago/Hoffmann
Freund von Katzenbildern, Internethatz und Profilneurose schmeichelnden Kunstfiguren: Rainer Meyer alias „Don Alphonso“. Foto: Imago/Hoffmann

Den Grundstein dazu legen Menschen wie Poschardts Schützling Rainer Meyer, den die „taz“ einst als “Troll vom Tegernsee” bezeichnete. Ein rechter Blogger mit albernem Alias, der sich an allem stößt, was progressiv, links, grün, weiblich und migrantisch ist, im schlimmsten Fall gar einmal “gebührenfinanziert” gearbeitet hat. In einem kryptischen Zeichenwust stellt er zwischen Rennradgeschichten und Porzellanservices, meist hinter der Bezahlschranke, bestimmte Menschen zum Abschuss seiner Leserschaft – die sich größtenteils aus stramm rechten Kreisen speist.

Wären die Auswüchse solch publizistischer Giftspritzen nicht so gefährlich, könnte man über die inneliegende Ironie lachen: Während Meyer hinter der bürgerlich legitimierten Fassade der „Welt“-Paywall gegen Gebührenfinanzierung wettert, sitzt er gleichzeitig in der Jury zum Medienpreis des deutschen Bundestages. Und mit der staatlichen Förderung des Printmarktes ist letztlich er selbst gebührenfinanziert, der Don des Kampfes gegen “Zwangsgebühren”. Gecancelt geht dann doch anders.


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