Kommentar

Lockerungen und Freedom Day: Corona trifft das Prinzip Hoffnung

Ab dem 20. März sollen (fast) alle Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland fallen. Ab Freitag, 18. Februar, schafft Berlin bereits vielerorts die 2G-Regel ab: in Einzelhandel, Gastronomie, Hotels. Und ab 4. März könnten auch die Clubs endlich wieder öffnen. Der „Freedom Day“, also der Tag der Freiheit von allen Corona-Regeln, ist also offenbar schon sehr nah. Aber eine Pandemie endet nicht mit einem Kalenderblatt, findet unser Autor.

Lockerungen auf für die Clubs? Der Schriftzug „Morgen ist die Frage des Künstlers“ Rirkrit Tiravanija an der Fassade des Berghain im November 2020. Foto: Imago/bildgehege

Von Corona-Lockerungen bis Freedom Day: Was ist normal?

Zuerst ein Satz über die viel beklagte vermeintliche Spaltung der Gesellschaft: Ich behaupte, wir sind uns in einem Punkt alle einig. Wir alle, wirklich jeder einzelne Mensch, möchten, dass der Corona-Irrsinn endlich vorbei ist.

Wir wollen alle wieder miteinander in Clubs tanzen, vor Konzertbühnen taumelglücklich transpirieren, uns auf der Straße spontan in den Arm nehmen, gemeinsam in schummrigen Bars an einem einzigen Cocktail-Glas nippen, vielleicht sogar masken-ungeschützten Geschlechtsverkehr mit neuen oder nur so dreiviertelbekannten Zeitgenossen haben, ohne vorher deren Corona-Warnapp-Status kontrollieren zu wollen. Ja, wir wollen alle, dass unser Leben endlich wieder normal wird.

Von welcher Normalität reden wir hier doch gleich?

Freedom Day am 20. März: Die Bundesampel-FDP macht besonders Druck. Am Tag zuvor, am 19. März, laufen die durch eine Änderung am Infektionsschutzgesetz weiterhin möglichem infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen aus. Der Deutsche Bundestag könnte nun diese Maßnahmen einmal um drei Monate verlängern. Die FDP sieht dafür allerdings keine parlamentarische Mehrheit. Vor allem nicht: in der FPD-Fraktion. Und meint damit: Sie will den „Freedom Day“. Den großen Knall. Die Keinen-Bock-mehr-auf-Corona-Geste. Und schöne Grüße an die Zeitgenossen mit plötzlich eskalierendem Drang zu „Spaziergängen“.

Als hätte die Pandemie ein festes Ablaufdatum. Als wäre Corona vorbei, wenn wir uns alle nur an den Händen halten und laut „Freedom Day!“ rufen. Als hätte das Virus ab dem 20. März einfach keinen Bock mehr auf uns.

Dabei ist der Gedanke völlig richtig, dass wir Perspektiven brauchen, wie es in der Pandemie weitergeht. Am Dienstag, 15. Februar, hat Berlin das Ende der 2G-Regel in mehreren Bereichen für den folgenden Freitag beschlossen. Am Mittwoch, 16. Februar, treffen sich Bundesregierung und Ministerpräsidenten, um über die nächsten Schritte zu beraten. Medienberichten zufolge haben die SPD-regierten Bundesländer und das Kanzleramt dafür ein Beschlussvorlage erstellt.

Dreistufenplan für die Lockerungen und Berlins Pläne: Locker machen

Der Dreistufenplan der Bundesregierung sieht unter anderem vor:

  • Im ersten Schritt Erhöhung der Obergrenze für private Treffen zwischen Geimpften und Ungeimpften von derzeit zehn auf womöglich 20 Personen, Medizinische-Masken-Pflicht statt 2G im Einzelhandel und Ausweitung der Obergrenzen der Auslastung bei Veranstaltungen im Inneren wie im Freien;
  • im zweiten Schritt soll ab 4. März in der Gastronomie die 3G-Regel gelten, damit hätten auch Ungeimpfte wieder Zutritt, wenn sie getestet sind; das würde auch für Übernachtungsangebote gelten;
  • Diskos und Clubs können zu diesem Datum mit 2G-Plus-Regel wieder öffnen.

Auch der Berliner Senat sieht weitere Schritte bei den Lockerungen gerechtfertigt und hat am Dienstag beschlossen, folgende Regelungen ab Freitag, 18. Februar, in Kraft zu setzen:

  • Beendigung von 2G im Einzelhandel, dafür FFP2-Maskenpflicht in allen Geschäften; dies gilt auch für touristische Angebote wie Stadtrundfahrten;
  • im Tierpark und Zoo sowie Botanischen Garten entfällt die FFP2-Masken-Pflicht in den Außenbereichen;
  • in Museen, Galerien und Gedenkstätten ebenfalls nur noch FFP2-Masken-Pflicht statt 2G-Regel.

Omikron-Welle: Endlich sinken die Zahlen

Denn jetzt beginnen die Infektionszahlen wieder zu fallen, nachdem sie sich mit dem Omikron-Ansteckungsturbo in noch vor einem halben Jahr in unvorstellbare Dimensionen hochgeschraubt hatten. Vierstellige Siebentagesinzidenzen. Fast eine Viertelmillion erfasste Neuinfektionen in Deutschland an einem Tag. Die Dunkelziffer: noch deutlich höher, so ist zu vermuten.

Die Gesellschaft hat sich mehrheitlich entschieden, Omikron jetzt eben mal durchrauschen zu lassen. Und damit mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen, dass Menschen, die vor dem Virus nicht durch Impfung geschützt werden können, sich selbst durch noch stärkere Vorsicht, Rückzug aus der Öffentlichkeit gar, vor Covid-19 in Acht nehmen müssen. Wie die vulnerablen Menschen. Wie Eltern mit gesundheitlich vorbelasteten Kindern, den so genannten Schattenfamilien.

Aber die befürchtete Überlastung der Gesundheitsinfrastruktur ist (bisher) ausgeblieben. Nicht glücklicherweise, nicht zwangsläufig. Sondern nicht zuletzt wegen der Maßnahmen. Weil Omikron weniger schwere Verläufe produziert. Weil die Maßnahmen zur Eindämmung die immer noch unfassbar steile Kurve der Ansteckungen trotzdem abgeflacht hat. Weil die Impfungen zwar nicht die Ansteckungen, wohl aber einen Großteil der kritischen Verläufe verhindert haben (und wir trotzdem in den kritischen Altersgruppen von 60plus immer noch eine substanzielle Impflücke haben).

Unter den Wissenschaftler:innen, die sich in der Materie auskennen, herrscht nicht unbedingt Einigkeit darüber, wie die einzelnen Effekte genau zu gewichten sind. Aber das ist normal. Wissenschaft ist keine Meinung. Und die Verläufe der Omikron-Welle in anderen Ländern haben es gezeigt: Irgendwann bricht die Welle in sich zusammen. Die Frage ist: in welcher Höhe, zu welchem Preis. Aber sie bricht. Im Moment.

Lockerungen der Maßnahmen: Augen zu und durch?

Das rechtfertigt, das erzwingt geradezu die Aussicht auf Lockerungen der Maßnahmen. Was es aber nicht rechtfertigt: Augen zu und durch. Das donnernde Bekenntnis zum „Freedom Day“ unter allen Umständen suggeriert aber genau das. Keine Kompromisse. Keine Zurückhaltung. Kein Diskutieren.

Denn es fühlt sich vieles schon wieder an wie im Sommer und Frühherbst 2021. Die Forderung nach dem „Freedom Day“. Das Mantra, dass Infektionszahlen für die Pandemie keine Rolle mehr spielen. Und auf der Straße Menschen in Trauben, die die Schnauze voll haben von der Pandemie. Und von der Regierung. Und von der parlamentarischen Demokratie. Und manche überlegen in Berlin jetzt auch schon wieder, ob man die Impfzentren wirklich noch braucht. Erinnert sich noch jemand, wie hektisch die im Herbst 2021 wieder hochgefahren wurden?

Vielleicht hilft ein Blick auf das nördliche Nachbarland Dänemark. Dort riefen sie, auch dank höheren Impfquoten, im vergangenen Herbst schon mal einen „Freedom Day“ aus, den sie allerdings, als die Infektionen dann wieder sprunghaft stiegen, sehr schnell wieder kassierten. Ihren Omikron-Scheitelpunkt hatten sie bereits um Weihnachten herum. Anfang Februar hoben die Dänen alle Maßnahmen auf. Freedom Day, zweiter Versuch. Mal sehen, wie das dann so läuft.

Jetzt kommt erstmal der Frühling. Der Sommer wird, zumindest was die Corona-Zahlen betrifft, aller Voraussicht nach gut. Wie im vergangenen Jahr. Aber dann wurde es Herbst. Und mit dem Herbst kam die nächste Viruswelle. Die hieß Delta. Und war richtig heftig. Corona-Tote in Dimensionen eines Flugzeugabsturzes. Pro Tag.

Der „Freedom Day“ ist plakative Pandemie-Politik nach dem Prinzip Hoffnung. Das Prinzip Hoffnung hat aber bisher auch nur so semi funktioniert. Deshalb: öffnen, aber mit Augenmaß. Und vorbereitet sein auf den Worst Case. Sonst Gnade uns die nächste Corona-Mutante.


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