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„Deutsche Wohnen & Co. enteignen“: Der Markt ist eben nicht alternativlos

56,4 Prozent stimmten für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, also für die Vergesellschaftung von großen Immobilien-Portfolios. Ein Anliegen aus der linken Szene ist salon- und mehrheitsfähig geworden, nicht nur in Kreuzberg, sondern auch in Spandau oder Hohenschönhausen. Ein sensationeller Erfolg. Der Markt ist nicht alternativlos. Der Volksentscheid stellt das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit wieder her, kommentiert Philipp Wurm.

Auf der Mietendemo im Mai war die Zukunft noch ungewiss. Nun ist klar: Der Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" ist mit einer Mehrheit an Ja-Stimmen durchgekommen. Foto: Imago/Ipon
Auf der Mietendemo im Mai war die Zukunft noch ungewiss. Nun ist klar: Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ist mit einer Mehrheit an Ja-Stimmen durchgekommen. Foto: Imago/Ipon

Deutsche Wohnen & Co. enteignen: Enorme Sprengkraft

Berlin ist eine Festung der Basisdemokratie, und die gesellschaftsverändernde Wirkung der Plebiszite in dieser Stadt ist einzigartig in Deutschland. Das markanteste Symbol für die Herrschaft des Souveräns weitet sich mitten in der Stadt – auf einer Fläche, ausladender als die City of London. Zwischen Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof erstreckt sich bekanntlich das Tempelhofer Feld. Eine riesige Brache, deren Existenz sich einem erfolgreichen Bürgerbegehren aus dem Jahr 2014 verdankt.

Das Wiesenmeer ist seither eine Landmarke, die über die Stadt hinausstrahlt. Ein Areal, groß und geschichtsträchtig, das sich kommerzieller Wertschöpfung verweigert. Trotz 1A-Lage und lüsternen Investoren. Ein universelles Statement.

Der Erfolg des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ übertrifft die Dimensionen des damaligen Referendums sogar. Im Hinblick auf die politische Sprengkraft. 

Der Enteignungsparagraf war fast vergessen

56,4 Prozent der Wähler:innen haben für die Vergesellschaftung des Portfolios großer Immobilienfirmen votiert, im Fall von 3.000 Wohnungen und mehr. Sie beleben damit einen fast vergessenen Passus im Grundgesetz, der die Wohnungsbranche, FDP-Politiker:innen und Meinungsmacher:innen aus den Springer-Hochhäusern in Wallung bringt. Darin steht: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ 

Demonstration der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" vor dem Reichstagsgebäude. Foto: Imago/Mike Schmidt
Demonstration der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ vor dem Reichstagsgebäude. Foto: Imago/Mike Schmidt

Aus einer Zeit stammt dieser Paragraf, als staatstragende Juristen noch wild waren. Die Väter unserer Rechtsordnung haben mit diesem Abschnitt des Grundgesetzes eine Botschaft entsendet: dass der Kapitalismus nicht sakrosankt ist.

Zustimmung bis ins bürgerliche Lager

Das Resultat des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ist deshalb sensationell. Ein systemkritisches Anliegen ist gesellschaftsfähig geworden, bis ins bürgerliche CDU-Milieu hinein. Trotz aller Gegenkampagnen, lanciert von der Immobilienlobby und liberal-konservativen Journalist:innen. 

Die Zustimmung für die Verwandlung großer Immobilienbesitztümer in Anstalten des öffentlichen Rechts ist Ausdruck eines feinen Sensoriums. Es ist eben keine Petitesse, wenn Wohnraum zur Spekulationsmasse von Aktienpaketen und Rentenfonds wird. Erst recht nicht, wenn damit explodierende Mieten, soziale Verdrängung und der Identitätsverlust ganzer Stadtteile verbunden sind. In Frage gestellt ist damit die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse.

Eine Fehlentwicklung, die nicht nur linke Aktivist:innen von Kotti & Co. wahrgenommen haben – sondern auch die Familienmutter aus Spandau oder der Rentner aus Hohenschönhausen. Ohne diese zivilgesellschaftliche Breitenwirkung wäre das deutliche Ergebnis für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ niemals denkbar gewesen. Damit ist auch ein Mythos in Zweifel gezogen worden: vom Markt, der sich selbst reguliert.

Enteignung nur als politisches Druckmittel?

Dass das Votum erst einmal nur ein politisches Druckmittel ist: geschenkt. Das Ergebnis ist nicht rechtlich bindend für den Senat. Hinzu kommt die knifflige Frage, ob das Land Berlin ein solches Gesetz überhaupt beschließen darf. Und wenn ja, wie die Höhe der Entschädigung für die Immobilienfirmen zu regeln ist. Hochkomplexe Verfahren der Bemessung von Immobilienwerten müssten angewendet werden. Ebenso offen ist, ob das ganze Projekt, dessen Kosten noch unklar sind, laut Volksentscheid-Initiative zwischen 10 und 11 Milliarden Euro, laut Senat zwischen 29 und 39 Milliarden Euro, überhaupt finanzierbar ist.

Doch selbst Berlins SPD, deren Politiker:innen in dem Plan bisweilen Traumtänzerei zu wittern meinen, öffnet sich dem Willen der Wähler:innen. „Es muss jetzt auch die Erarbeitung eines solchen Gesetzentwurfes erfolgen“, sagte Franziska Giffey, die Wahlsiegerin, womöglich Berlins kommende Regierende Bürgermeistern. Eine Politikerin, die normalerweise skeptisch gegenüber Umwälzungen ist. Natürlich schränkte Giffey ihre Haltung sogleich ein: „Aber dieser Entwurf muss dann eben auch verfassungsrechtlich geprüft werden.“

Trotzdem könnte ein Anfang gemacht sein. Für ein Experiment, das vielen Menschen wieder Vertrauen in die Handlungsfähigkeiten von Politiker:innen gegenüber marktwirtschaftlichen Exzessen schenkt. 


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