Krieg in der Ukraine

Flucht aus der Ukraine: Ihr Weg aus der Heimat nach Berlin

Irina Shylova ist mit ihrem 14-jährigen Sohn aus der Ukraine nach Berlin geflohen und hat ihren Mann und ihren älteren Sohn zurückgelassen. Die Unternehmerin, die zur Unabhängigkeitsbewegung gehört, bangt um ihre Familie und ihre Landsleute.

Iryna Shylova ist aus der Ukraine nach Berlin geflüchtet. Foto: Gianluca Quaranta

Geflüchtete in Berlin: „Das hätte ich nie gedacht“

„Ich bin nicht zum ersten Mal hier,“ sagt Irina Shylova, graue Augen über grünem Tee. „Schon vorher bin ich mehrere Male in Berlin gewesen, immer mit großem Vergnügen.“ Sie hält inne. „Ich habe nie gedacht, dass ich einmal hierhin kommen würde… wegen eines Kriegs.“

Irina Shylova ist eine große, selbstsichere Frau von 45 Jahren, die halb so alt aussieht. Sie ist Mutter von zwei Söhnen und betreibt normalerweise eine Online-Sprachschule in ihrer Heimatstadt Cherkasy. Vor zehn Tagen hatte sie noch ein umtriebiges Leben und lauter Pläne – darunter die Gründung einer neuen Zweigstelle ihrer Schule. Jetzt sitzt sie in einem Eiscafé in Spandau und redet über den Krieg.

Sie wirkt zerstreut, während sie ihren Tee trinkt. Vieles geht ihr durch den Kopf. Wie zum Beispiel einen Arzt für Viktor zu finden, der eine Reha nach einer Knie-OP benötigt. Und eine Schule. Außerdem einen Weg, sich selbst zu helfen. Vor allem aber muss sie ihre Sinne schärfen. Und sacken lassen, was passiert ist.

„Wir haben nicht geglaubt, dass Leute, die dieselbe Sprache sprechen und so vieles mit uns teilen, sich gegen uns wenden könnten. Bei uns einmarschieren, uns bombardieren.“ Bei vielen Ukrainern, die man in diesen Tagen in Berlin trifft, ist Ungläubigkeit das dominierende Gefühl.

Zum Glück lebt ihre Mutter in Berlin

Irina Shylova ist eine von unzähligen Frauen, die mit ihren Kindern (und manchmal Katzen und Hunden) geflohen sind, auf der Flucht vor dem Krieg. Shylova hat ein wenig Glück im Unglück: Ihre Mutter lebt seit 20 Jahren in Berlin, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester. Nachdem der Krieg ihre Stadt Cherkasy erreicht hatte, war Berlin also das naheliegende Ziel. Dagegen war die Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen, nicht so offensichtlich. Man verlässt ein geliebtes Zuhause, einen Ehemann und einen 22-jährigen Sohn nicht aus einer Laune heraus. Erst recht nicht im Fall einer kämpferischen Patriotin.

Shylova reibt sich auf für ihr Land – seit den ersten Tagen der Maidan-Bewegung im Jahr 2013, als sie sich dem proeuropäischen Unabhängigkeitskampf anschloss, nachdem sie eines Abends auf dem Heimweg vom Unterricht zur Zeugin der blutigen Niederschlagung von Protesten wurde. Damals war sie eine Studentin in Kyjiw. „Ich war gleich mit an Bord, am 1. Dezember war das. Danach kam ich jeden Tag, half dabei, Sandwichs zu machen, Lastwagen zu be- und entladen, eben bei allen möglichen Dingen.“ Sie sammelte so wertvolle Erfahrungen in humanitärer Hilfe und zivilen Widerstandstechniken. 

Pro-Europa-Protest auf dem Maidan in Kiew: Irina Shylova war dabei. Foto: Imago/ZUMA Wire

Als sie zurück in Cherkasy war, zwischen September 2014 und Frühling 2016, organisierte sie DIY-Workshops für Mitbürger. Das Ziel dabei war, ukrainische Truppen im Donbass zu unterstützen, mit warmen Socken, Borschtsch, selbstgemachten Tarnnetzen. Sie ist ein bisschen stolz darauf, wie sie einmal den Mangel an Garn zum Sockenstricken behob, indem sie Ehrenämtler mit Handicaps akquirierte, die Pullover auftrennten. Irina ist eine einfallsreiche, energiegeladene Alleskönnerin – mit dem Talent, eine Kleinstadt in ein Militärcamp mit motivierten Helfern zu verwandeln.

Während wir uns unterhalten, nimmt sie Anrufe von Menschen aus Cherkasy entgegen, die Rat suchen. Eine Frau fragt nach Tipps zur Herstellung von Tarnnetzen. Selbst wenn sie nicht in der Ukraine ist, hilft sie. Sie koordiniert, teilt ihr Wissen. Wenn nicht ihr Sohn wäre, wäre sie dortgeblieben.

Die Flucht vor dem Krieg: von der Ukraine nach Berlin

„Ich hatte nicht geplant, das Land zu verlassen“, sagt sie. Am 26. März, zwei Tage, nachdem die Russen in die Ukraine einmarschiert waren, änderte sie ihre Entscheidung.

„An diesem zweiten Tag gingen die Sirenen an, und russische Raketen flogen über unsere Köpfe. Wir haben keinen Keller, also legten wir uns für zwei Stunden in die Küche, dem sichersten Ort in unserem Haus, weil es da keine Fenster gibt. Das war der Moment, als mein Mann und ich realisierten, dass Viktor hier nicht sicher ist.“ Ihr 14-jähriger, jüngerer Sohn hatte sich gerade einer Knie-OP unterzogen. Er trägt seither Gips, kann nicht gehen. 

Zwei Tage später liehen sie sich das Auto eines Nachbarn und machten sich auf den Weg zur polnischen Grenze – mit einem 45-jährigen Fahranfänger am Steuer. „Lustigerweise hatte mein Mann bis zehn Tage vor dem Beginn des Kriegs überhaupt keinen Führerschein. Wir besitzen kein eigenes Auto, also hatte er kaum Übung – aber so war’s eben, es herrscht Krieg, und da war auf einmal dieser Wagen. Er musste uns den ganzen Weg zur polnischen Grenze fahren. Es war learning by doing!“ Sie lacht leise. „Mein Sohn sagte, dass er einmal Taxifahrer werden wird!“

Ruslan, ihr Mann, ist Russe mit armenischen Wurzeln, der derzeit ein trauriges Déjà-vu erlebt. Wie sein Sohn heute musste er früher, mehr oder weniger im selben Alter wie sein Junge, mit der Mutter aus einer vom Krieg zerrütteten Heimat fliehen – damals, in den 90ern, war es zu einem militärischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan gekommen. „Geschichte wiederholt sich“, sagt Shylova.

Nach einem nächtlichen Stopp bei einem Freund in Breslau wurden Irina und Viktor von ihrem Schwager abgeholt. Der fuhr sie zur Wohnung ihrer Familie in Berlin-Staaken, an den westlichen Rand der Stadt.

Flucht aus der Ukraine: Das Telefon erinnert an die Reste eines Lebens

Während wir sprechen, bimmelt immer wieder ihr Smartphone. Reminder-Nachrichten aus ihrem digitalen Terminkalender treffen dann ein. Es geht dabei um ihren Lehrplan, um geschäftliche Treffen, um die Reha-Termine ihres Sohns Viktor oder dessen Volleyball- und Capoeira-Stunden. Es sind die Reste ihres bisherigen Lebens.

„Ich habe das Zeitgefühl verloren“, entschuldigt sie sich. Die Chronologie der vergangenen Tage ist zu ihrem neuen Kalender geworden: Tag 1 (seit der Invasion), Tag 2, Tag 3 und so weiter. „So gehen wir in diesen Tagen mit der Zeit um“, sagt sie. Nach Irinas neuer Zeitrechnung kam sie sie in Berlin an Tag 5 an.

Der Fluss Dnepr in der Ukraine, an dem Irina Shylova aufgewachsen ist. Foto: Imago/agefotostock

Shylova verkörpert eine moderne, kosmopolitische russisch-sprachige Ukraine, deren Mitglieder auf ein Leben gehofft haben, das man wohl im landläufigen Sinn „europäisch“ nennen könnte und das von Russland unabhängig ist. Ihre Zweisprachigkeit ist typisch für die Stadt, aus der sie stammt. Cherkasy ist in der Mitte des Landes gelegen, am Fluss Dnepr, zwischen dem eher ukrainisch-sprachigen Westen des Landes und den eher russischsprachigen, von Moskau gestützten Landesteilen im Osten, wo seit 2016 Krieg herrscht.

„Wir haben eine spezielle Sprache namens ‚Surjik‘“, sagt sie. Eine eigentümliche Mischung aus Russisch und Ukrainisch, die perfekt die Komplexität des Lands spiegelt und die unproblematische sprachliche und kulturelle Gemengelage, die man in der Ukraine vorfinden konnte. Jedenfalls vor noch nicht so langer Zeit.

Auch wenn sie sich selbst als in erster Linie russischsprachig beschreibt – die Website ihrer Sprachschule und ihr Unterrichtsmaterial waren auf Russisch – befürwortet sie den Beschluss der Regierung, Ukrainisch zur offiziellen Landessprache zu machen.

Ihr Sohn Viktor spricht in der Schule Ukrainisch und daheim Russisch. Seine Freunde? „Einige sprechen vor allem Ukrainisch, andere Russisch. Das war nie ein Problem… Bis jetzt.“

Leben während des Kriegs: „ich kann nicht mehr auf russisch schreiben“

Mit Russlands Invasion änderte sich die Lage. Shylova hat sich entschieden, ihre beliebte Facebook-Seite nunmehr auf Ukrainisch zu betreiben. „Es ist einfach geschehen. Ich habe es nicht geschafft, weiter auf Russisch zu schreiben.“

Wie viele Ukrainer war Shylova vor dem Krieg kein großer Fan von Volodymyr Zelensky, dem ukrainischen Präsidenten. „Ich habe ihn nicht gewählt. Ich war nicht der Meinung, dass er eine vertrauenswürdige Option sei. Aber er hat sich gewandelt“, sagt sie. „Es gab einen Wendepunkt – als er aufgehört hat, die Präsidentschaft bloß zu spielen, und am Ende ein echter Präsident wurde. Er hat gemerkt, dass das alles keine Show ist, sondern Realität. Er scharte seine politischen Gegner um sich und schuf eine gemeinsame Front gegen die Invasion. Jetzt vollzieht er die richtigen Schritte, sagt die richtigen Sachen – endlich!“ Sie sagt, die meisten Ukrainer wie sie seien mit Zelensky nun warm geworden. „Er wurde zum Präsidenten aller Ukrainer.“

Unterdessen hat sie mit einigen russischen Freunden gebrochen. „Ich kann nicht glauben, dass sie ihre Kinder ziehen und gegen uns kämpfen lassen!“ Sie erzählt von einer Freundin, deren Sohn jetzt mit der russischen Armee in der Ukraine ist. „Sie sagte zu mir: ‚Naja, was soll ich dagegen tun‘, und ich sagte, ‚du bist die Mutter, gehe und lege dich vor einen Zug, mache etwas, du hast nichts zu verlieren, du hast nur einen Sohn‘.“ Sie spricht mit kühler Bestimmtheit, ohne Wut. „Die waren einmal meine Freunde. Ich habe sie gesperrt.“

Willkommen in Berlin

„Ich bin den Deutschen sehr dankbar – die Leute hier sind so engagiert und bemüht, zu helfen“, sagt sie und meint auch die Großzügigkeit der Nachbarn ihrer Mutter, die sie sofort besuchten, bepackt mit Süßigkeiten und anderen Geschenken. „Heute wollten wir uns für einen Kaffee zusammensetzen, aber mein Sohn ist nicht vollständig geimpft – wegen seiner Operation sollten wir warten. Als die Frau hörte, wir seien Ukrainer, ließ sie uns sofort herein, mit leuchtenden Augen, und es fühlte sich so an wie: Wooahh! Wir sind so willkommen!“ 

Jeden Morgen steht sie in Kontakt zu einem Freund, der in der Ukraine geblieben ist. Sie holt ihr Handy hervor und zeigt bedrückende Fotos von ausgebombten Gebäuden in der Umgebung von Kyjiw sowie in den Städten Mykolaiv und Kherson im Süden des Lands. Zu sehen sind Familien, die tagelang in unterirdischen Zufluchten feststecken. Von Freunden, die in einem Vorort von Kyjiw leben, berichtet sie: „Sie blieben für fünf ganze Tage, dort drinnen, mit all den Kindern.“ Sie sagt: „Jeden Tag reden wir oder schreiben Nachrichten. Jeden Morgen checken wir, ob sie online sind. Das bedeutet, dass sie noch leben.“ Sie ängstigt sich auch um einige Freunde in Kyjiw und Kherson, von denen sie mehrere Tage lang nichts gehört hat. „Ich will nicht darüber nachdenken, was ihnen passiert sein könnte.“

Ihr Mann ist zurzeit ständig unterwegs, um fliehende Familien an die polnische Grenze zu fahren. „Letztens hat er mir erzählt, sie seien in einen Luftangriff geraten. Sie mussten rennen, um sich in Sicherheit zu bringen. Alles mögliche kann passieren.“

Sie brennt darauf, selbst aktiv zu werden. Irina ist nicht der Typ Mensch, der sitzt und wartet. „Ich kann nicht zurückgehen wegen Viktor. Ich muss hier etwas tun.“

Shylova hat sich bislang geweigert, sich um einen Status als humanitärer Flüchtling zu bemühen – auch wenn sie weiß, dass sie es wohl oder übel wird tun müssen. „Uns wurde diese Möglichkeit an der polnischen Grenze angeboten – aber ich wollte nicht. Ich möchte nicht zum Flüchtling werden.“

Für viele Ukrainer hier ist der Schritt, sich um Asyl zu bewerben, viel zu definitiv. „Als ich aufwachte, nachdem ich ein bisschen Schlaf gefunden hatte, musste ich mich am Ohr zwicken, um mir zu vergegenwärtigen, dass das alles wirklich ist – und kein schlimmer Albtraum.“

Iryna Shylova: „Ich bin nicht hier, um zu warten, gefüttert und umsorgt zu werden.“ Foto: Gianluca Quaranta

Fast alle Ukrainer wollen so bald wie möglich nach Hause. Bis dahin ist Irina gezwungen zu arbeiten. „Ich bin nicht hier, um zu warten, gefüttert und umsorgt zu werden. Ich kann massieren, Nägel schneiden, als Kosmetikerin arbeiten“, sagt sie. Irina ist eine Lehrerin, die dazu als Übersetzerin arbeitete – sich aber auch zur Kosmetikerin ausbilden ließ, um ihr schlechtes Einkommen als Lehrkraft aufzubessern, bevor sie ihre eigene Sprachschule aufgezogen hatte. „Ich kann außerdem nähen und aus wenig bis gar nichts eine Suppe zaubern. Ich kann vieles!“

„Wir Ukrainer sind dafür bekannt, hart zu arbeiten. Ich weiß, dass viele Frauen hier ‚Putzfrauen‘ sind. Meine Mutter sagt, ihre deutschen Freunde fragen immer, ob sie jemanden kennt, der bei ihr zuhause putzt – weißt du, die Leute mögen es sauber hier, und ukrainische Frauen sind deshalb sehr gefragt.“ Sie ist zuversichtlich. „Ich kann Arbeit finde. Da mache ich mir keine Gedanken.“

Was sie wahrscheinlich am meisten besorgt, ist das Schicksal ihres ältesten Sohns Rostik. „Im Jahr 2014, als ich mit zivilem Engagement beschäftigt war, damit, Lkw zu beladen, Hilfe zu organisieren, Versorgungsgüter zu beschaffen, während ich nachts als Übersetzerin arbeitete, fragte mich ein Journalist: ‚Woher nimmst du all diese Energie?‘“ Ich sagte, dass mein Sohn 14 Jahre sei, und falls wir diesen Krieg nicht stoppen würden, er einmal in die Armee eintreten und kämpfen müsste. Ich werde alles tun, um das zu verhindern.“

Jetzt ist Rostik 22 und erwartet täglich, einberufen zu werden. Der Albtraum seiner Mutter ist wahr geworden. „Er sagt, er sei bereit“, sagt sie leise. „Er will sein Land verteidigen, und ich kann ihm das nicht verübeln. Ein Teil in mir sagt, dass das richtig ist. Ich bin auch in der Ukraine geblieben, obwohl ich vor einiger Zeit Familienmitgliedern ins Ausland hätte folgen können. Ich liebe mein Land so wie mein Sohn es tut. Was soll ich ihm auch sagen?“ Irina wird nicht einknicken. „Aber natürlich mache ich mir Sorgen. Schreckliche Sorgen.“


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