Franziska Giffeys Landesregierung hat ihr 100-Tage-Programm vorgestellt, der Countdown läuft schon. Zentral für den Erfolg der Landesregierung ist die Wohnungskrise. Damit unter Rot-Grün-Rot neuer bezahlbarer Wohnraum entsteht, soll künftig ein Senatsausschuss klären, warum es mit bestimmten Projekten nicht vorangeht. Das schafft vielleicht schnelle Hilfe gegen Berlins Ruf, eh nichts auf die Reihe zu kriegen. Aber solange das Thema Enteignung auf der langen Bank bleibt, ist jedes Senats-Vorhaben zum Bauen schlicht: Prokrastination.
100-Tage-Programm der Regierung: Giffey will Neubau beschleunigen
„Wer auf der Tagesordnung der Senatskommission landet, hat vorher Dinge nicht hinbekommen“, so zitiert die Berliner Morgenpost die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey. Die SPD-Politikerin war am Wochenende mit dem neuen Regierungsteam in Brandenburg auf Klausur, um in Ruhe ein 100-Tage-Programm für das rot-grün-rote Kabinett zu erarbeiten. 40 Schwerpunktthemen haben die Senatsmitglieder auf ihre Agenda gesetzt.
Ganz oben auf der Liste: der Wohnungsneubau. Die angesprochene Senatskommission soll sich künftig einmal im Monat mit der Regierenden treffen, dann müssen alle an Neubaufragen beteiligten Ressortchefs für Verkehr, Wirtschaft, Soziales und Stadtentwicklung klären, was überhaupt das Problem ist, wenn genehmigte Vorhaben nicht umgesetzt werden. Dass in Zukunft regelmäßig der Knoten an höchster Regierungsstelle zerschlagen werden soll, ist ja schon einmal eine gute Nachricht. Denn 60.000 Projekte sind bewilligt, aber scheinen sich im Limbo zu befinden. „Was ist da los?“, fragt Franziska Giffey also, und kann zumindest in diesem Punkt eine absolute Mehrheit hinter sich wissen.
Und weil der eklatante Mangel an bezahlbaren Wohnungen das größte Thema der aktuellen Legislaturperiode ist, hat auch das Bündnis für Wohnungsbau und Mieter:innenschutz hohe Priorität. Ende Januar soll die Auftaktsitzung mit wichtigen Akteur:innen aus Politik und Wirtschaft stattfinden. Für Juni ist geplant, dass das Bündnis eine Selbstverpflichtung vorlegen kann.
80.000 Wohnungen fehlen mindestens in Berlin
Das ist auch bitter nötig, denn derzeit scheint es im sozialen Wohnungsbau an keiner Stelle voranzugehen – aber ob der optimistische Blick in die Zukunft und routinierte Selbstbezichtigungsrunden mit anschließendem Basta Giffeys wirklich Abhilfe schaffen können, ist fraglich.
80.000 neue Wohnungen fehlen gemäß einer Studie des Bündnisses „Soziales Wohnen“ derzeit in der Hauptstadt, die an der Neubauförderung bisher scheitert: Der eigens dafür geschaffene „Wohnungsneubaufonds IBB“ sollte eigentlich rund 5.000 neue Wohnungen im Jahr bezuschussen – mit zinslosen Baudarlehen die sich auf bis zu 1.800 Euro pro Quadratmeter belaufen können.
Wie die „Berliner Morgenpost“ berichtet, hat Berlin dieses Ziel 2021 gerissen. Bloß 1.011 Wohneinheiten seien gefördert worden, so beantwortete die Investitionsbank Berlin eine Anfrage der Zeitung. Dabei zeigt sich: Mit mehr als 70 Prozent der Anträge sind es die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften selbst, die die Förderung in Anspruch nehmen wollen. Privates Kapital und Genossenschaften scheinen das Angebot des Landes zu scheuen.
Schließlich explodieren die Kosten an allen Stellen. Grundstückspreise steigen, Baumaterialen werden auch nicht günstiger, und gerade die Privaten fürchten, bei den Berliner Vorgaben für sozialen Wohnungsbau trotz Förderung Verluste einzufahren.
In Berlin wird am Bedarf vorbeigebaut
Abhilfe schaffen soll da einerseits die Beschleunigung von Antragsgenehmigungen. Und andererseits auch veränderte Bedingungen: „Eigenkapital, Kreditkonditionen und zulässige Baukosten sind Aspekte, die wir uns jetzt genauer anschauen werden“, so der Sprecher des neuen Stadtentwicklungssenators Andreas Geisel (SPD) zur „Morgenpost“.
Dass aber Bürokratieabbau, verwässerte Regularien und noch mehr Geld helfen können, wenn die Selbstreinigungskräfte des Marktes versagen, ist unwahrscheinlich. Denn wer in den vergangenen Jahren in Berlin auf Wohnungssuche war und etwa das Gehalt einer Tramfahrerin, einer Briefzustellerin oder eines Supermarktkassierers bezieht, dürfte einen ziemlich nüchternen Blick darauf gewonnen haben, für wen in dieser Stadt überhaupt gebaut wird. Dass eine magere Quote für WBS-Wohnungen nicht hilft, wenn jede Neuvermietung ansonsten die ortsüblichen Vergleichsmieten in die Höhe schießen lässt, hat zuletzt das Beispiel Hamburg gezeigt. Dort sind zwar seit 2011 rund 100.000 neue Wohnungen entstanden, was für Berliner Verhältnisse atemberaubend ist – atemberaubend sind aber auch die Mietsteigerung in der Hansestadt. Dass der positive Hamburg-Bezug, das Mantra „Bauen, bauen, bauen“ und die Berufung von Petra Kahlfeldt zur Senatsbaudirektorin düstere Aussichten bedeuten, schreibt Xenia Balzereit hier.
Solange also der politische Wille, diesen ganzen Markt durchzuschütteln, nicht erkennbar ist, nützt es auch nicht viel, die vorliegenden Anträge im Eilverfahren durchzuboxen. Solange diejenigen, die in Berlin Wohnungen bauen, bei Neubauten mit Quadratmeterpreisen um die 13 bis 15 Euro oder mehr rechnen können, trägt jede Baustelle zur Aufwertung bei und setzt die Spirale aus Preissteigerung und Verdrängung fort.
100-Tage-Programm für Berlin ohne Perspektive für Enteignung
Das Instrument, um mit diesen Mondpreisen und ihrem Missverhältnis zu Berliner Durchschnittsgehältern aufzuräumen, ist dem Senat von den Berliner Stimmberechtigten an die Hand gegeben worden. Aber von den 40 Punkten im 100-Tage-Programm der Regierung hat es die Vergesellschaftung nur auf den 32. Platz geschafft – und scheint schon damit abgekoppelt von allen anderen Fragen zur Wohnungskrise gedacht zu werden. Die Vorschläge für die Besetzung der Expert:innenkommission werden von Andreas Geisel nachgereicht, bei den Besprechungen in Brandenburg lag das Thema nicht auf dem Tisch.
Dass Franziska Giffey das Thema weitgehend ausspart, ist nicht erstaunlich. Schließlich hat sie das Kunststück vollbracht, ein Regierungsbündnis zu schmieden, obwohl sie das Vergesellschaftungsvotum im Vorfeld in ihren Katalog roter Linien aufgenommen hatte. Dass sie sich nun nach Umwegen sehnt, ist verständlich: Die Enteignung großer Immobilienkonzerne birgt für die Koalition so viel Sprengstoff, dass es sinnvoll erscheint, die Zündschnur etwas zu verlängern, um vor dem womöglich nicht zu vermeidenden Koalitionskrach wenigstens noch ein paar unverfänglichere Vorhaben als Erfolg zu verkaufen. Doch Prokrastination hat noch nie ein politisches Problem gelöst. Und wenn schon die Regierungsbildung ein Kunststück war, sollte Franziska Giffey schon lieber jetzt darüber nachdenken, wie schwierig es erst sein wird, eine Handvoll Baustellen als großen Wurf zu verkaufen, wenn sonst alles beim Alten bleibt.
Zum 100-Tage-Programm der Regierung gehört auch ein Konzept für eine Polizeiwache am Kotti – mehr Sicherheit und mehr Verdrängung könnte dieser Plan bedeuten. Gibt es noch eine Zukunft für die Zukunft am Ostkreuz? Friedrichshain wehrt sich gegen Gentrifizierung. Immer neue Meldungen und Meinungen findet ihr in unserer Politik-Rubrik.