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Interview

Giulia Silberberger über Verschwörungen, Querdenker und radikale Aluhüte

Was haben Donald Trump, die „Bild“-Zeitung, Waldorfschulen, ein Hamburger Tierarzt und ein Seminaranbieter für Wunderheilungen miteinander gemeinsam? Sie erhalten dieses Jahr den goldenen Aluhut – ein Negativpreis für Verschwörungstheorien. Dass das nicht nur lustig ist, sondern brandgefährlich, weiß Giulia Silberberger am besten. Im Interview mit dem tipBerlin spricht Gründerin des Schmähpreises über die Radikalisierung der Szene, Schadenfreude über „Querdenker“ – und warum Attila Hildmann nicht dabei ist.

Giulia Silberberger hat die Stiftung "Der goldene Aluhut" gegründet. Den gleichnamigen Negativpreis verleiht die Expertin für Verschwörungserzählungen jedes Jahr im Oktober. Foto: Giulia Silberberger
Giulia Silberberger hat die Stiftung „Der goldene Aluhut“ gegründet. Den gleichnamigen Negativpreis verleiht die Expertin für Verschwörungserzählungen jedes Jahr im Oktober. Foto: Giulia Silberberger

tipBerlin Frau Silberberger, worum geht es bei der Verleihung des goldenen Aluhuts?

Giulia Silberberger Wir vergeben einen Negativ-Award für Verschwörungserzählungen. Das Publikum nominiert die Kandidaten und entscheidet im Online-Voting. Jedes Jahr am 30. Oktober findet im Heimathafen Neukölln die Preisverleihung statt.

Der Award soll auf das gesellschaftliche Problem aufmerksam machen, das mit Verschwörungserzählungen einhergeht. Einerseits ist es witzig, aber auf der anderen Seite stehen echte Gefahren dahinter. In dieser Pandemielage ist es eine Gefahr für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie.

Nicht einmal der goldene Aluhut will Hildmann haben

tipBerlin Wir haben jedes Jahr die Liste der peinlichsten Berliner. In unserer Corona-Special-Edition ist Attila Hildmann auf Platz 1 gelandet. Sie klammern ihn aus. Weshalb?

Silberberger Es gibt Leute, denen passt der Aluhut nicht. Attila Hildmann bezeichnet sich als ultrarechts, sein Klientel ist gewaltbereit und menschenfeindlich. Das wollen wir einfach nicht in unserem Veranstaltungsbereich haben.

tipBerlin Gewonnen haben Donald Trump, die „Bild“-Zeitung, die Waldorfschulen und spirituelle Heiler. Aber im Online-Voting sind Querdenker, Hygienedemonstranten und wie sie alle heißen, auf Platz eins gelandet. Was war da denn los?

Silberberger Unser Voting lief zunächst neun Tage lang unproblematisch, bis die Querdenker um Herrn Schiffmann und Herrn Ballweg auf uns aufmerksam geworden sind und zum Voting aufgerufen haben. Das ist ja auch in Ordnung. Andere haben sich motiviert gefühlt, Spambots auf uns zu hetzen – wie jedes Jahr. Und dann musste gleich der ganze Server dran glauben. Man hat uns mit einer DDoS-Attacke abgeschossen, unzählige Zugriffe in kürzester Zeit.

Das Wahlergebnis war schon unheimlich verzerrt, aber bis heute haben wir keinen Zugriff auf die Datenbanken. Wir hatten keine andere Wahl, als das Voting zu beenden. Die goldenen Aluhüte gehen dann eben an die Zweitplazierten.

tipBerlin War das quasi eine digitale Kriegserklärung?

„Es wird Hass geschaffen gegen Systemlinge wie mich“

Silberberger Ja, von irgendwem. Ich möchte noch einmal bekräftigen, dass ich weder Herrn Schiffmann noch Herrn Ballweg persönlich Verantwortung für die DDoS-Attacke unterstelle. Aber das ist die Dynamik, dieser stochastische Terrorismus, dass Hass geschaffen wird gegen „Systemlinge“ wie mich. Da reichen Spambots nicht mehr.

tipBerlin Können Sie stochastischen Terrorismus erklären?

Silberberger Stochastik ist ein wunderschön sperriger Begriff für eine Situation, die im Endeffekt vom Zufall abhängt. Es geht um Terrorismus mit einer Dynamik, die so nicht vorhersehbar ist.

Auf der Straße entlädt sich die Stimmung: der Hass gegen die Regierung, der Hass gegen die Presse, da wird einem der Tod gewünscht.

Aber diese Stimmungen äußern sich ja nicht nur im Real Life, sondern viel im Internet. Menschen können sich radikalisieren und motiviert fühlen, selber die angeprangerten Umstände mit der Waffe zu ändern – wie das in Halle und Hanau der Fall war. Wir haben die Manifeste der Täter gelesen und nichts gefunden, das uns neu wäre. Als ob man sie durch unseren Content Pool gezogen hätte!

Für die Strafverfolgung und Menschen wie uns, die die Szene erforschen, ist es eine große Herausforderung, die Einzelperson zu finden, die ruft: „Los, auf jetzt, zum Reichstag!“. Oder die eventuell zur Waffe greift.

tipBerlin Sie beobachten eine Radikalisierung?

Silberberger Ja! Eine Radikaliserung über Online-Gruppen und Bewegungen. Der Cyberangriff auf uns ist ein kleines Licht gegen den Brandanschlag auf das RKI und die Beschmutzung der Ausstellungsstücke im Pergamonmuseum.

Anfang Oktober wurden Ausstellungsstücke im Pergamon-Museum beschädigt. Im Verdacht: Anhänger der Aluhut-Szene. Foto: Imago Images/UIG
Anfang Oktober wurden Ausstellungsstücke im Pergamon-Museum beschädigt. Im Verdacht: Anhänger der Aluhut-Szene. Foto: Imago Images/UIG

tipBerlin Ein Wahnsinn.

Silberberger Ja, irre! Und es multipliziert sich. Wir sehen, dass die Stimmung kippt. Jetzt kommt die zweite Welle und wir müssen auch aufpassen, dass die Vernünftigen nicht ihren Zorn auf eine bestimmte Personengruppe lenken, wie jetzt zum Beispiel die Querdenker. Wir wollen auch keine umgekehrte Radikalisierung.

tipBerlin Wie kann man sich denn überhaupt wehren? Hilft Humor?

Silberberger Mir ja! Man muss sich die Leichtigkeit im Herzen bewahren, wenn man sich mit schweren Themen auseinandersetzt.

tipBerlin Was kann man denn tun, wenn man Menschen im Umfeld hat, die anfällig sind für Verschwörungserzählungen?

Vom gemeinsamen Faktencheck bis zur emotionalen Abgrenzung

Silberberger Ist die Person nur anfällig für Verschwörungserzählungen, dann haben wir noch eine gute Basis mit einem gemeinsamen Faktencheck.

Ist die Person tief im Verschwörungsglauben verankert, wird es schwerer. Menschen sprechen auf Verschwörungserzählungen an, weil sie Angst haben, weil sie wütend und überfordert sind. Es ist einfacher, den ganzen Schmu auf die Regierung und Bill Gates zu schieben und gegen eine angebliche Diktatur anzutreten, als den Tatsachen ins Auge zu blicken: dass es doch nicht so einfach zu erklären ist.

Im Zweifelsfall muss man dann die Diskussion erst einmal ad acta legen. Und wenn es eine sehr nahe Person ist, der Ehepartner beispielsweise, ruhig eine weltanschauliche Beratungsstelle konsultieren – oder uns anschreiben! Wir haben immer ein offenes Ohr und geben Tipps, wie man sich emotional abgrenzen kann.

tipBerlin Offen zu sein ist wichtig, weil es bei Verschwörungserzählungen im Kern um Gefühle geht?

Silberberger Gefühle sind die Triebfeder. Verschwörungstheorien würden nicht funktionieren, wenn sich niemand aufregt. Sie müssen die Leute auf der Straße angucken, wie sie die Polizei angebrüllt haben: „Habt ihr keine Kinder!?“. Das ist der Urschrei, das ist tiefe Emotion.

„Liebe ist die Rechtfertigung für alles, auch um sich zum Obst zu machen“

tipBerlin Ist deshalb auch so viel von Liebe, Licht und Gefühlen die Rede auf den Verschwörungs-Demos?

Silberberger Wenn Menschen Hass auf die Straßen tragen und mit Hass in der Stimme das Wort Liebe Brüllen, finde ich das grotesk. Wir sehen ja auch in dieser spirituellen und esoterischen Szene: Liebe steht über allem. Liebe ist die Rechtfertigung für alles, auch um sich total zum Obst zu machen.

"All you need is love": Auffällig oft treten Anhänger von Verschwörungserzählungen für Liebe und große Gefühle ein. Foto: imago images/ZUMA Wire
„All you need is love“: Auffällig oft treten Anhänger von Verschwörungserzählungen für Liebe und große Gefühle ein. Foto: imago images/ZUMA Wire

Mir tut es um jede unbeteiligte Person leid, die da reingerät. Jeder Mensch der angebrüllt wird, weil er eine Maske trägt. Das ist doch keine Liebe, das ist Menschenverachtung!

„Make Facts Great Again!“

tipBerlin Über wessen persönliche Anwesenheit würden Sie sich bei der Preisverleihung freuen?

Von der „Bild“, aber die mögen mich nicht. Ich hätte mich ja wirklich gefreut, wenn die den Arsch in der Hose gehabt hätten. Die kriegen den goldenen Aluhut jetzt zum zweiten Mal. Es hätte von viel Humor gezeugt, wenn jemand von der Redaktion vorbeikommen würde.

tipBerlin Julian Reichelt persönlich?

Er würde noch ein T-Shirt von mir kriegen: „Make Facts Great Again!“. Das ist unser Slogan.

tipBerlin Das wäre ein PR-Traum für Sie gewesen.

Aber ein PR-Traum ist ja schon dieser Prozess, der auf mich zukommt. Mit Michael Ballweg.

tipBerlin Ein Prozess?

Michaell Ballweg auf einem Plakat auf der Straße des 17. Juni. Der "Querdenken"-Gründer will seinen goldenen Aluhut unbedingt haben. Foto: Imago Images/Stefan Zeitz
Michaell Ballweg auf einem Plakat auf der Straße des 17. Juni. Der „Querdenken“-Gründer will seinen goldenen Aluhut unbedingt haben. Foto: Imago Images/Stefan Zeitz

Ballweg will den Award einklagen! Die juristische Fachpresse lacht sich schon tot! Die waren so wütend, dass ich sie disqualifiziert habe, dass der „Querdenken“-Anwalt mir schrieb, dass er die Herausgabe dieses Awards fordert! Ich habe meinen Anwalt zurückschreiben lassen: „Is’ nicht“.

Herr Ballweg will den Aluhut haben. Juristisch sieht es so aus, dass er belegen müsste, dass er wirklich das gemacht hat, wofür er von den Usern nominiert wurde: die Annahme von Scheinspenden. Er müsste also vor Gericht belegen, dass er Steuern hinterzogen hat. Dann kriegt er den goldenen Aluhut von mir. Ich sitze hier mit dem breitesten Grinsen.


  • Preisverleihung „Der goldene Aluhut 2020“: Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, Neukölln, Fr 30.10., 19 Uhr, Tickets für den Livestream buchbar, www.heimathafen-neukoelln.de

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Es ist ein außergewöhnliches Jahr – so außergewöhnlich, dass wir schon im Sommer ein Corona-Spezial der peinlichsten Berliner*innen gemacht haben. Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Die Geschichte von Attila Hildmanns Radikalisierung erzählen wir euch hier. Am 25.10. war die gewaltbereite Verschwörungsszene in Berlin unterwegs. Und die Polizei kam nur zum Zuschauen zur „Querdenker“-Demo. Und wenn Nahestehende auf all das reinfallen? Was man tun kann, wenn Partner*innen an Verschwörungen glauben.

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