Pro & Contra

Können Heizpilze die Berliner Gastronomie retten? Ein Pro & Contra

Kalte Temperaturen, Sperrstunde, Infektionsrisiko. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie steht es schlecht um die Gastronomie, der kommende Winter könnte das Aus für viele Betriebe bedeuten. Oder retten die umstrittenen Heizpilze die Außenbestuhlung?

Zwei Meinungen aus der tipBerlin-Redaktion: Ben-Robin König findet darin kurzsichtigen Aktionismus auf Kosten der Umwelt. Rosanna Steppat hingegen ist dafür, für die gebeutelte Gastro-Branche kurzweilig auf Kosten der Umwelt ein Auge zuzudrücken.

Heizpilze Gastronomie Berlin Der Heizpilz: Ist er die Rettung durch den Winter?
Der Heizpilz: Ist er die Rettung durch den Winter? Foto: imago images/Müller-Stauffenberg

Ben-Robin König kann die gekippten Heizpilz-Verbote und sogar Bezuschussung der Wärmespender nicht fassen. Das ganze ist eine klimapolitische Bankrotterklärung im Kleinen, bei der sich vor unbequemen Wahrheiten weggeduckt wird:

Ein (Heiz)Pilz wird kommen

Der Winter so fröstelig kalt, die Infektionsgefahr in der warmen Stube jedoch so hoch, ein Pilz solls richten und uns alle wärmen! Nachdem die Menschheit im Pandemiesommer einmal mehr die Vorzüge von Außenbestuhlung und „zum Mitnehmen“ genoss, muss der Spaß schließlich weitergehen. Draußen lässts sich gleich mit viel ruhigerem Gewissen aufs Borchardt-Schnitzel husten, die Rauchererkältung wird zur Gourmeterkältung. Und solidarisch ist sie dazu, wir frösteln den insolvenzbedrohten Gastronomen die Tasche voll. Doch halt, es gibt ja die praktische Wärmequelle.

Heizpilze Gastronomie Berlin Die Bundesregierung möchte das selbstbestimmte Recht auf halbseitige Gesichtsverbrennung bei zeitgleich erkaltendem Essen subventionieren.
Die Bundesregierung möchte das selbstbestimmte Recht auf halbseitige Gesichtsverbrennung bei zeitgleich erkaltendem Essen subventionieren. Foto: imago images/localpic

Einst trugen Heizpilze das heilige Versprechen des Lagerfeuers in die Großstädte. Und, naja, vor die Imbissstände kleinstädtischer Baumarktparkplätze. Weihnachts- respektive Wintermärkte sowieso. Ein brennendes Konzept: Auch bei widrigster Witterung die Bratcurry Pommes Schranke oder den Glühwein kredenzen, vorn gefühlt Verbrennungen ersten Grades einholen, hinten langsam Eiszapfen ansetzen. Ein Heizpilz, darum fünf menschliche Drehspieße. Knusprig zu allen Seiten. Und all das ohne Waldbrand-Geruch!

Das Gewissen isst mit: Auch Ablasshandel wirds nicht richten

Die Umweltbilanz dieser mittelständischen Ghettotonnen jedoch ist nicht ganz so crisp: mit bis zu 4.000 Tonnen C02 pulvert Ein Pilz mal eben den Verbrauch eines Kleinwagens in die Atmosphäre. Pro Saison. Macht je nach Außenbestuhlung einen recht stattlichen Fuhrpark pro Etablissement. 

Nun ließe sich argumentieren, auf die Stadt, auf den Stadtverkehr gerechnet sind das Erdnüsse, wie es im englischen heißt. Aber machts das besser? Politik und Wirtschaft überbieten sich mittlerweile mit gegenseitigen Vorschlägen zur Rettung der Gastronomie, zum keimfreien Bier auch im Dezember. Länder und Kommunen setzen reihenweise ihre einst stolz erkämpften Heizpilzbannsprüche außer Kraft. Und das Berliner Unternehmen Atmosfair denkt darüber nach, Heizpilze mit in ihr Sortiment des Feinstaubablasshandels aufzunehmen. Möchten Sie zuzüglich zu Ihrer Currywurst noch einen Klimafreibetrag von 0,27€ bezahlen? – Und wie ich das möchte, ist doch viel geringer als für den Flug nach Bali.

Heizpilzsubvention ist die Vorstufe zu FCKW-Wiedereinführung

Die Bundesregierung will nun nicht nur erlauben, sondern gleich noch fördern. Heizpilzsubvention! Selbst der grüne Wirtschaftspolitiker Dieter Janecek befindet: „In Pandemiezeiten sollte man nicht päpstlicher sein als der Papst.“ Zugegeben, auch der Pontifex dürfte keine allzu christliche C02-Bilanz haben. Nur, selbst in Zeiten von bedrohlich tickenden Unheilsuhren und (ständig abgeschwächten) Klimaschutzpaketen scheint der dümmste Weg oft der naheliegendste. Vielleicht wäre auch die Rücknahme des FCKW-Verbots dienlich? Oder wir fordern Kaufprämien für Verbrenner, subventionieren Kohlestrom und… Oh.

Dass sich Pleiten ganzer Wirtschaftszweige auch anders verhindern ließen, sei hier nicht erwähnt, am Ende ruft noch jemand was von Sozialismus.


tipBerlin-Redakteurin Rosanna Steppat sieht den Einsatz von Heizpilzen als absolute Notlösung. Die zweite Welle erwischte die Gastro-Branche jedoch so eiskalt, dass eine kurzweilige Schadensbegrenzung auf Kosten der Umwelt vertretbar ist. Die meisten Gastronom*innen kamen beim ersten Anlauf noch mit einem blauen Auge davon, aber der Winter wird hart für die Branche:

Herbstzeit ist Pilzzeit: als absolute Notlösung, versteht sich

Eine Entscheidung unter Ungewissheit zu treffen ist nervenzerrend und schürt Zukunftsängste. Und lässt sich für den Begriff der Ungewissheit eine bessere Metapher finden als die der Pandemie, die langsam aber unaufhaltsam, im wahrsten Sinne des Wortes, immer mehr Raum in unserem Leben einnimmt und zugleich kaum skalierbar erscheint? Plötzlich ging alles viel schneller, als es uns lieb war: Die zweite Welle in Deutschland ist da und von der Politik werden nach bestem (Ge-)Wissen Ad-hoc-Entscheidungen getroffen.

Heizpilze Gastronomie Berlin Heizpilze belasten die Umwelt unnötig. Aber Berliner Gastronomen dürfte es beim Gedanken an einen Corona-Winter eiskalt den Rücken hinunter laufen.
Heizpilze belasten die Umwelt unnötig. Aber Berliner Gastronomen dürfte es beim Gedanken an einen Corona-Winter eiskalt den Rücken hinunter laufen. Foto: imago images/Stefan Zeitz

Langsam bekommen sogar jene Respekt vor der „dynamischen“ Situation, die bisher immer abgewunken haben. Und für Berliner Gastronom*innen wiegt das Gefühl der Ungewissheit noch schwerer als im Frühjahr: Der Winter hält mit großen Schritten Einzug, Mittag- und Abendessen können nicht mehr draußen serviert, Gasträume nicht mehr entzerrt werden. Einige wackere Kund*innen gönnen sich an weniger ungemütlichen Vormittagen nochmal ein Frühstück im Freien.

Aber unterm Strich muss die Gastronomie der Wahrheit ins Auge sehen: Wenn Kund*innen sich keinem Risiko aussetzen wollen und nicht mehr draußen sitzen können, werden viele schlicht nicht mehr kommen. Die erste Halbzeit der Corona-Krise haben die allermeisten Betriebe, trotz teils massiver Einbußen, nochmal mit einem blauen Auge hinter sich gelassen. Die Sperrstunden-Diskussion und das Theater um umweltschädliche Heizpilze könnte für viele Gastronom*innen nun jedoch den Gnadenstoß bedeuten.

Eine absolut vorübergehende Notlösung ist besser als gar keine

Natürlich sollte und muss es eine absolute Notlösung bleiben, dass die unumstritten klimaschädlichen Heizpilze Gastronom*innen vor dem Totaleinbruch ihrer Umsätze retten. Bis risikoarme Innenraum-Konzepte stehen und (weitere) konkrete finanzielle Hilfen für Betriebe ausgesprochen sind, sollte es jedoch im Ermessen der/des jeweiligen Gastronom*in liegen, welche Art der Wärmequelle der Stabilisierung des Umsatzes zuträglich ist.

Das Klima zu retten ist wichtig – was könnte wichtiger sein? Sobald die Gastro-Branche also wieder wenig wackliger auf den Beinen steht, und Heizpilze nicht mehr gebraucht werden, wäre es schön, wenn auch in anderen Bereichen, zum Beispiel der Agrarwirtschaft, mit dem gleichen Maß an Empörung Klimapolitik betrieben werden würde.

Aber zurück zu den Heizpilzen: Ob eine Wärmequelle nun durch Propangas oder Strom läuft – gemäß des Berliner Naturschutzbundes NABU sind beide Varianten aus einer klimafreundlichen Perspektive sehr umstritten. Aber die allerwenigsten Berliner Gastronomie-Betriebe werden es sich nach der ersten Corona-Welle leisten können kostspielige Luftfilteranlagen zu kaufen. Und ob Fleece-Decke und Kuschelkissen auf der Veranda bei Minusgraden trösten können, ist zweifelhaft.

In Charlottenburg-Wilmersdorf und Reinickendorf dürfen Heizpilze derzeit wieder zum Einsatz kommen. Andere Wärmequellen wie Infrarot-, Energieholz- oder Elektrostrahler sollen zwar berlinweit erlaubt werden, sind es derzeit jedoch noch nicht.

Klima-Augenwischerei könnte zu Pleitewelle führen

Ein Verbot von Heizpilzen wird auf lange Sicht wieder kommen, und das ist auch richtig und wichtig! Aber bis dahin sollten die Akteur*innen der Berliner Gastronomie-Branche das Recht haben, mit allen Mitteln der Kunst gegen ihren Bankrott anzusteuern.

Die Hotellerie- und Gastronomie-Branche stand bereits im Zuge des ersten Corona-Lockdowns vor einer Pleitewelle. Die jetzige Situation könnte alte Wunden wieder aufreißen.

Nun war im Berliner Leben gerade wieder ein bisschen Normalität eingekehrt und schon erwischte uns die Ungewissheit wieder kalt, diesmal noch kälter als vorher. War doch alles gar nicht so schlimm nach der ersten Welle, oder doch? Einige Restaurants haben in den letzten Wochen eher still und heimlich ihre Türen geschlossen.

Wollen wir hoffen, dass eine umweltschädigende Übergangslösung für die Berliner Gastronomie in der dunklen Jahreszeit nicht der einzige Strohhalm bleibt, an den sie sich klammern darf.


Ein kleiner Lichtschimmer für die Berliner Gastro-Branche: Die Sperrstunde in Berlin ist gekippt. Das Alkoholverbot von 23 bis 6 Uhr bleibt aber bestehen. Hoffen wir, dass viele Betriebe es schaffen. Denn von Comfort-Food bis zu Sterne-Restaurants: Die Szene ist einfach unverwechselbar – und vielseitig: So gut schmeckt es in Jemen oder Uruguay: Wir stellen 12 außergewöhnliche Restaurants in Berlin vor, die euch Fernweh auf die Teller bringen.

Und wer wissen will, was sich sonst lohnt und 2021 in Berlin auf den Teller kommt: Ab sofort ist unsere neue tip-Speisekarte erhältlich, auch im Online-Shop.

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