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Kommentar

Jugendliche haben eine Musikschule in Köpenick besetzt – richtig so!

Jugendliche und Aktivist*innen von „Jugend besetzt“ haben am Samstag eine Musikschule in Köpenick besetzt. Das Gebäude gehört dem Bezirk Treptow-Köpenick, der es seit Jahren leerstehen lassen hat. Genau deswegen verdient die Aktion Lob. Ein Kommentar von Xenia Balzereit.

 In Köpenick wurde am Samstag eine Musikschule besetzt und am selben Tag geräumt. Das Haus in der Rigaer Straße 94 ist eines der letzten dauerhaft besetzten in Berlin.
Das Haus in der Rigaer Straße 94 ist eines der letzten dauerhaft besetzten in Berlin. Nun traf es eine Musikschule in Treptow-Köpenick. Foto: imago images/Christian Mang

Ein altes Gebäude, unten aus Backstein, oben grau verputzt, große, intakte Fenster, vermummte Jugendliche auf den Fenterbänken und Transparente an der Fassade: Am Samstag haben Aktivist*innen von „Jugend besetzt Berlin“ eine alte leerstehende Musikschule in Köpenick besetzt. Auf den Transparenten steht zum Beispiel: „ihr räumt, wir besetzen. autonome zentren fetzen“ oder „BESETZT. Dafür stehe ich mit meinem Namen“. Einige Wenige Menschen sollen sich im Gebäude und etwa 20 davor aufgehalten haben. Noch am selben Tag, weniger als 15 Stunden nach der Besetzung, mussten sie gehen. Die Polizei begann gegen 18 Uhr mit der Räumung.

Besetzte Häuser und Gebäude sind in Berlin selten geworden. Die Linienstraße 206, Köpi, Rigaer 94 und Liebig 34 gehören zu den wenigen Überbleibseln des Sommers der Anarchie 1990 und der Hausbesetzerszene in der Hauptstadt. Viele von ihnen, wie die Liebig 34 und die besetzten Häuser in der Rigaer Straße, sind akut von Räumungen bedroht. Die Stadt wird immer enger und dichter, Wohnraum und vor allem Freiräume sind umkämpft wie noch nie. Alle wollen ihr Stück von der Stadt abhaben: Investor*innen, die auf fette Renditen schielen, Kulturschaffende und Minderheiten, die in Berlin Zuflucht gesucht haben, Bürger*innen und ihre Kinder, die Platz zum Spielen fordern.

Gebäude steht seit fünfeinhalb Jahren leer, Eigentümer ist der Bezirk

Laut „Jugendbesetzt“ steht die Musikschule in der Friedrichshagener Straße 8p seit fünfeinhalb Jahren leer. Eigentümer ist der Bezirk Treptow-Köpenick. „Unser Ziel war eine Zwischennutzung der Räume, bis der Plan einer Schule dort realisiert wird. Diese Zeit des Leerstands hätte von uns mit vielfältiger Kiezkultur überbrückt werden können“, schreiben die Besetzer*innen am Sonntag in einer Presseerklärung auf Twitter.

Sie seien wütend, dass ihren Forderungen nach alternativen Jugendzentren kein Raum gegeben werde, sagt ein Aktivist namens Arthur. Und: „Wir werden weiter für die Existenz unserer Freiräume kämpfen und nicht zusehen, wie die rot-rot-grüne Regierung uns nach und nach die Rückzugsräume nimmt.“ Die Aktivist*innen wollten in der alten Musikschule nach eigenen Angaben einen selbstverwalteten queerfeministischen Safe Space schaffen, der abseits von „struktureller Gewalt und kapitalistischer Leistungsgesellschaft“ stehen sollte.

Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Stadt als Ganzes braucht solche Räume. Für queere Jugendliche bieten sie eine Atempause von einer Gesellschaft, in der sie sich, ihre Sexualität und ihre Identität nicht permanent, aber fast immer erklären müssen. Für Berlin sind solche Räume eine Chance, den Ruf von der wilden Stadt voller unkonventioneller Nischen nicht komplett zunichte zu machen und sich weiterhin abzuheben von europäischen Metropolen wie London. Sonst verliert die Stadt den letzten Rest ihrer berüchtigten Sexyness.

Nicht nur deswegen ist die Räumung der Musikschule ein Armutszeugnis für den rot-rot-grünen Senat und für den von der Linken und der SPD regierten Bezirk Treptow-Köpenick. Im Grundgesetz steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Jahrelanger Leerstand dient wohl kaum dem Wohl der Allgemeinheit, vor allem in einer Stadt, die um kaum etwas so sehr ringt wie um Wohnraum und Kulturstandorte.

Das Zweckentfremdungsverbot soll verhindern, das Gebäude leerstehen und verfallen

Um zu verhindern, dass Gebäude jahrelang leerstehen und verfallen, gibt es in Berlin ein Gesetz: das Zweckentfremdungsverbot. Damit will die Stadt verhindern, dass Eigentümer*innen Gebäude jahrelang verfallen lassen, um ja kein Geld dafür ausgeben zu müssen und es dann an den Meistbietenden verhökern. Im Jahr 2014 trat das Gesetz in Kraft, 2018 verschärfte es der rot-rot-grüne Senat noch einmal. Das Ziel: mehr Raum zum Wohnen und Leben für die Bürger*innen schaffen, anstatt Investor*innen ein leichtes Spiel zu bieten. Berlin toleriert seitdem statt sechs nur noch drei Monate Leerstand. Die Musikschule stand 22-mal so lange leer. 66 Monate. Wie praktisch, wenn die Gesetze, die man macht, nicht für einen selbst gelten.

Währenddessen ließ derselbe Senat 2019 die selbstverwalteten linken Jugendzentren Potse und Drugstore in Schöneberg räumen. Und auch die linke Kneipe Syndikat musste diesen Sommer weichen, weil die britische Immobilienfirma Pears das Gebäude aufgekauft hatte. So verschwanden einige der letzten Freiräume für linke selbstverwaltete Projekte ausgerechnet unter einem rot-rot-grünen Senat.

Wenn diese Regierung, in die viele junge progressive Menschen bei der letzten Wahl große Hoffnungen gesetzt hatten, nun ihre Glaubwürdigkeit erhalten will, muss sie mit den Besetzer*innen zumindest ins Gespräch kommen. Und wenn sie eine Zwischennutzung der Musikschule ablehnt, dann sollte sie zumindest einen Plan vorlegen, wann die Schule dort einziehen soll. Wenn sich dort in den nächsten drei Monaten nichts tut, wäre es verständlich und vielleicht sogar richtig, wenn die Jugendlichen das Gebäude erneut besetzen würden. Denn Wasser zu predigen und Wein zu trinken steht niemandem gut zu Gesicht, schon gar nicht einem rot-rot-grünen Senat, der versucht, die Dinge besser zu machen als Regierungen, in denen die verstaubte, konservative CDU mitmischt.


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