Politik

WM 2022 in Katar: In Berlin gibt es richtig Kontra

Am 20. November beginnt die Fußball-WM in Katar und in Berlin regt sich was. Die Vorgeschichte des Turniers, von Korruptionsvorwürfen bis zu toten Gastarbeitern auf den Baustellen, ließ die Hauptstadt nicht unberührt. Es gibt Kontra, so richtig. Fans wollen den Fernseher abschalten, Kneipen organisieren Alternativen zur WM in Katar, eine kreative Boykottbewegung formierte sich.

Klare Kante: Hertha-Fans rufen zum Boykott der WM 2022 in Katar auf. Foto: Imago/Jan Huebner

WM 2022 in Katar: Ausbeutung ist Alltag

Malcolm Bidali, 29, war dabei, beobachtete die systematische Ausbeutung, die mit der Fußball-WM in Katar einherging, einhergeht. Auf einer Podiumsrunde der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Kreuzberger Biergarten berichtete er im September von den Leidensgeschichten der Gastarbeiter in Katar. Er trug damit erfahrungssattes Wissen in die deutsche Öffentlichkeit – über die Menschenrechtslage im Emirat.

Bidali war Security-Mann in dem kleinen Wüstenstaat. Er war dabei auch an einer Baustelle postiert, an der ein frappierender WM-Standort errichtet worden ist. Eine Wellness-Oase in Doha, wo die deutsche Nationalmannschaft ihr Lager aufschlagen soll. Ein Teil jener Infrastruktur fürs Turnier, die in lebensgefährlicher Akkordarbeit von Gastarbeitern hochgezogen worden ist, Arbeitsmigranten aus Nepal, Bangladesh oder auch afrikanischen Staaten.

Bidali hat viel Elend erlebt. Etwa Arbeiter, die zehn Stunden am Tag buckeln mussten, manchmal unter einer 50-Grad-Hitzeglocke. Erzählen kann er auch von Unterkünften außerhalb des urbanen Zentrums, wo bis zu 12 Leute im selben Raum hausten. Er selbst hat ebenso unter den unwürdigen Verhältnissen gelitten.

Gegenüber dem „nd“ schilderte Bidali, der mittlerweile in sein Heimatland zurückgekehrt ist, nach seinem Auftritt allgemeine Ohnmacht: „Als migrantischer Arbeiter in Katar hast du selbst keinen Einfluss darauf, ob du Überstunden machst, ob die überhaupt bezahlt werden, ob du den vertraglich zugesicherten freien Tag in der Woche nehmen kannst oder nicht.“

Vom katarischen Sicherheitsapparat gehackt

Tausende Arbeiter sind auf den Baustellen, die Stadien und andere Stätten hervorbrachten, letztlich sogar ums Leben gekommen. Ob nach Arbeitsunfällen oder als Folge von Hitze und Erschöpfung.

Bidali bloggte anonym über die Zustände zwischen Manchester-Kapitalismus und Sklaverei – bis er eines Tages verhaftet wurde. Über die miesen Arbeitsbedingungen der Leibgarde einer High-Society-Lady hatte er geschrieben. Diese Frau war die Gattin des früheren Emirs. Um Bidali als Urheber des Artikels zu identifizieren, war sein Handy vom katarischen Sicherheitsapparat gehackt worden. Wegen der Menschenrechtsverletzungen ist die WM in Katar, die am 20. November mit einem Spiel zwischen dem Gastgeberland und Ecuador beginnen soll, in Verruf geraten.

Berichtete über den Schrecken in Katar: Malcom Bidali. Foto: A Klügel/ Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Podiumsdiskussion der Rosa-Luxemburg-Stiftung nannte sich „Reclaim the Game“. Deren Coup bestand darin, dass sie Gastarbeiter zu öffentlichen Figuren machte, nicht nur besagten Malcom Bidali – auch andere Arbeitsmigranten mit Erfahrungen, gewonnen im Land auf der arabischen Halbinsel.

So nah war die Vorgeschichte der WM in Katar vielen Fußball-Fans im Land noch nicht gekommen. Zumindest jenen, deren Interesse über die Lektüre von „Sportbild“ hinausreicht. Die Augenzeugen tourten übrigens nicht nur nach Berlin, sondern auch in andere deutsche Großstädte. Ihre Erlebnisberichte fügten sich in ein Bündel von kritischen Medienberichten, darunter TV-Dokus und Podcasts im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Sie alle illustrierten die Begleitumstände der WM in Katar.

Grotesk, hanebüchen, irre

Hierzulande hat sich längst eine Boykottbewegung gebildet – getragen von NGOs, Fanclubs und Kneipen. Deren Sympathisanten wollen den TV-Übertragungen von der WM im Wüstenstaat ihre Aufmerksamkeit verweigern. Jenem Megaturnier mit 64 Spielen zwischen 32 Teams, ausgetragen in acht Arenen, in deren Bau rund drei Milliarden Dollar geflossen sind.

Eigentlich muss man über diese Veranstaltung wegen der vielen Enthüllungen nicht mehr viel sagen. Weil das Making-of dieses Weltereignisses aber so so grotesk, hanebüchen, so irre ist, gibt es an dieser Stelle weitere Fakten: Diejenigen Arbeiter, die die Torturen auf den Baustellen überlebt haben, haben unter Arbeitsbedingungen schuften müssen, die mitunter an Methoden der Organisierten Kriminalität gemahnten. Um beispielsweise Gastarbeiter in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, sind ihnen nach ihren Anreisen die Pässe abgenommen worden. Damit nicht genug: Bevor 2010 die FIFA, der Fußballweltverband mit Hauptsitz in Zürich, den Feudalstaat zum Austragungsort erklärte, sind womöglich Funktionäre geschmiert worden, um zugunsten von Katar zu stimmen.

In den Stadien, deren Bau zahllose Leben gekostet hat, werden die Fußball-Mannschaften nun in sengender Hitze um die WM-Trophäe kämpfen. Während an vielen Public-Viewing-Orten weiter nördlich auf dem Globus der Winter anbricht. 1,2 Millionen WM-Besucher werden ins Land strömen –und für hunderte Landungen von Flugzeugen pro Tag sorgen. All das wird in einem Land zelebriert, dessen Fußballtradition so ausgeprägt ist wie die Liebe der Deutschen zu Cricket oder Baseball, dessen politisches System eines ist, das politische Freiheit und sexuelle Vielfalt unterdrückt.

Kampf gegen die WM in Katar: #BoycottQatar2022

Wer sich über die Boykottbewegung in Berlin informieren will, redet am besten mit einem Afficionado des Vereins „Gesellschaftsspiele“, der im Haus der Fußballkulturen beheimatet ist. Diese kleine Gruppe ist Mitorganisator der erfolgreichsten Protestinitiative in Deutschland, die sich „#BoycottQatar2022“ nennt.

Da ist zum Beispiel Max Wlodarczak, 32, der für den Verein aktiv ist und sonst Sozialarbeiter in der Wohnungslosenhilfe sowie Union-Anhänger ist. Über die Gegenbewegung sagt er: „Über die Sommermonate hinweg hatte ich die Befürchtung, dass die Boykottkampagne ein Rohrkrepierer wird.“ Doch in diesem Herbst ist der Anklang größer geworden. Wohl auch, weil die Begleitumstände des Turniers mehr denn je in den Fokus gerückt sind. Er erzählt von Bannern und Tapeten in den Fankurven der Fußball-Ligen, die Stellung beziehen. Im Stadion des SV Babelsberg prangt auf einer Bande: „Katar 2022 – Nicht unsere WM!“

Unterdessen sind es vor allem die Fußballkneipen mit alternativem Background, die eine Sendepause verhängen. Darunter das BAIZ in Prenzlauer Berg, ein Zentrum der linken Szene, oder das Fargo am Boxhagener Platz in Friedrichshain, wo unter anderem Spiele des FC St. Pauli gezeigt werden.

„So einen Boykott muss man schon wollen“, sagt Max Wlodarczak. Klar: Sportsbars und ähnliche Lokale würden Publikum verlieren, falls sie den TV-Übertragungen den Saft abdrehen. Zumal während des Turniers der Spielbetrieb auf anderen Schauplätzen ruht, etwa der Bundesliga. Und daher keine andere Gaudi die WM ersetzen könnte.

Deshalb gibt „Gesellschaftsspiele“ den Gastronomen auch Tipps für alternative Programme – ob Kneipenquiz oder Themenabend. Im Fargo, ebenfalls in Friedrichshain, soll es am 27.11., wenn Spanien in der Vorrunde gegen Deutschland spielt, einen historischen Themenabend zur Rolle des spanischen Nationalteams unter dem Franco-Regime geben. Und ein bisschen vorher, am 25.11., dem Tag gegen Gewalt an Frauen, ereignet sich beim Archiv der Jugendkulturen in Kreuzberg ein Info-Abend über die Frauenbewegung in Iran – und darüber, ob der Fußball dabei emanzipative Impulse geben kann.

Wie steht aber der Gastro-Mainstream zur Übertragung von WM-Spielen?

In der Berliner Filiale des Deutschen Gaststätten- und Hotelverbands gibt man sich ökonomisch. „Gaststätten sind Wirtschaftsunternehmen und jene, die sich auf Fußballübertragungen spezialisiert haben, sind auf Einnahmen aus ihren Public Viewings angewiesen“, sagt Thomas Lengfelder, der Dehoga-Geschäftsführer. „Die meisten dieser Lokale werden meiner Beobachtung nach die Spiele zeigen.“

Die Fanmeile am Brandenburger Tor, diese große Schland-Kirmes, die Bilder für den nationalen Bilderschatz während vergangener Großturniere lieferte, wird dagegen ausfallen. Zu viele unbekannte Variablen haben den Veranstalter, die K.I.T. Group, scheu gemacht. Das mögliche Szenario von abschreckenden Minusgraden auf dem Thermometer etwa, aber auch die Unberechenbarkeiten der Corona-Pandemie.

Nun ist es so, dass Experten hin und wieder kleinere gesellschaftliche Fortschritte in Katar entdeckt haben wollen. So können Gastarbeiter inzwischen auch ohne die Erlaubnis des Arbeitgebers das Land verlassen oder ihren Job wechseln.

Aber Lockerungen sind überhaupt keine Selbstläufer. Im Sportausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses hat vor Kurzem eine Stellungnahme von Amnesty International die Realität gespiegelt. Darin heißt es: „Nach ersten Fortschritten in den Jahren 2018-2020, hat Amnesty International 2021 jedoch ein Nachlassen des Reformfortschrittes festgestellt. In Teilen wurden durch Untätigkeit der katarischen Regierung sogar bereits erreichte Fortschritte rückgängig gemacht.“

Das Emirat, reich wegen Gas und Öl, ist eben ein Emirat. Ein autokratisches Land, dessen politische Idee auf Willkür fußt. Und nicht auf universellen Werten, wie sie die Vereinten Nationen festlegen. Der Fehler liegt im System.

Seele des Fußball-Fans

Ein Lokal, das Seismograf der ganz gewöhnlichen Fan-Szene ist, ist das „Rosel“ an der Neuköllner Weichselstraße. Eine Gegend, wo sonst die Hotspots der Hipster-Kultur liegen, von Trappistenbier-Bar über Burger-Bude bis Galerie.

Früher hieß das „Rosel“ noch „Herthaner“. Warum, dürfte klar sein. Foto: Alexander Meyer

Am Tresen erblickt man ein Schild in Schwarz-Rot-Gold. Darauf steht: „Ganz Deutschland ist ein Irrenhaus – wir sind die Zentrale“. Sonst gibt es die bekannten Kneipenstandards. Dart-Gerät und Spielautomaten. Vor allem aber vergeht an diesem Ort kaum einen Abend ohne Fußballübertragung. Bundesliga, Europokal, Länderspiele: die volle Dröhnung.

Früher hieß die Spelunke einmal „Herthaner“, weil dort immer die Spiele des launischen Traditionsklubs aus dem Westend über die Bildschirme flimmern. Doch irgendwann bekam sie ihren heutigen Namen – um auch Offenheit gegenüber anderen Lagern zu signalisieren, etwa Union-Fans oder Expats.

Im „Rosel“ begegnen sich Arbeiter, ältere Kiez-Originale und die junge Bohème. Jene entzückende Mischung, die so speziell ist für Neuköllner Eckkneipen. Was viele verbindet, ist ihre Leidenschaft fürs Elf-gegen-Elf – für Pressing, Fernschüsse und K.O.-Spiele.

Simone, 53, ist die Frau am Tresen. Sie erzählt von der Anti-Haltung vieler Fans gegenüber dem Turnier. „Sensibilisiert“ seien die Leute. Sie sagt aber auch: „Deutschland werden wir auf jeden Fall zeigen.“ Und wohl auch andere Spiele ohne Beteiligung der Nationalmannschaft, lässt sie durchblicken. Ihre Prognose: dass viele Fans ihre Vorsätze über Bord werfen, wenn das Turnier auf der arabischen Halbinsel begonnen hat. Und die Heroen des De-Luxe-Fußballs von Karim Benzema bis Christiano Ronaldo die Rasenflächen betreten.

Jemand, der womöglich stur bleiben wird, ist Alex, 41. Ein Mann aus der Nachbarschaft, gebräunt und drahtig, der im „Rosel“ auf einem Barhocker an einem Stehtisch sitzt, Disponent bei einer Logistikfirma. Gekleidet ist er in Fan-Kluft, obwohl der jüngste Bundesliga-Spieltag längst vorbei ist. Alex trägt eine Trainingsjacke von Hertha BSC. „Für mich gibtʼs nur Hertha und Kreisligafußball, alles andere ist für mich Kommerz“, sagt er.

Schon die WM 2018 in Russland, eine Propaganda-Show des sendebewussten Wladimir Putin, hat er ignoriert. Nur ums Geld würde es gehen, so charakterisiert er das internationale Fußballgeschäft. Ob nicht allerdings auch Hertha BSC, das vor ein paar Jahren von Lars Windhorst, dem Großinvestor und halbseidenen Tech-Mogul, mit 374 Millionen Euro gepimpt worden ist, ein Rädchen in der großen Finanzmaschinerie ist – das ist wiederum eine andere Frage.

Alex’ Frust zeigt dennoch: Der Spitzenfußball verströmt längst nicht mehr die Wirkmacht von einst. Jedenfalls in unseren Breitengraden.

Früher waren Weltmeisterschaften einmal Straßenfeger. Die WM in Katar dürfte noch immer ein Massenpublikum vor die Endgeräte bringen, ob auf dem Sofa oder in der Kneipe. Aber mehr Fans als je zuvor werden sich auch abwenden – oder die Spiele mit einem gewissen Unwohlsein verfolgen.


Terminalternativen zur WM in Katar

Die Astra Stube in Neukölln bereitet ein Alternativprogamm vor. Am Mi, 23.11., wird z. B. das Champions-League-Spiel der Frauen zwschen AS Rom und dem VfL Wolfsburg (Anpfiff 21 Uhr) gezeigt – am selben Abend stellt sich zudem das gefeierte Frauenfußballprojekt von Viktoria Berlin vor. Sonst sind Lesungen und Doku-Vorführungen geplant.

Unter dem Titel „Fußball-Katharsis“ bietet das Kulturzentrum BAIZ eine Veranstaltungsreihe. Am Di, 22.11, gibt es ab 19.30 Uhr eine Lesung von Frank Nussbücker („Eisern nach oben“), am Do, 8.12., ab 19 Uhr den Rate-Abend „Quizzen Kontra Katar“.


Im Fargo nahe des Boxhagener Platzes soll am So, 27.11., ein Themenabend zur Rolle des spanischen Nationalteams zu Zeiten des Franco-Regimes stattfinden. Ein Gegenentwurf zum WM-Spiel am selben Datum zwischen Spanien und Deutschland.

  • Fargo Boxhagener Platz, Grünberger Straße 77 Friedrichshain, fargo.berlin

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