Kommentar

Kulturelle Aneignung: Denke ich an Dreadlocks in der Nacht

Konzerte von weißen Menschen mit Dreadlocks werden abgesagt, die Radikalität der Kritik ist unangenehm und vielleicht auch gefährlich. Zudem dient sie nicht der Sache. Ein Kommentar über die Debatte um kulturelle Aneignung, neue Jakobiner und das Drama von Uwe und Regina.

So geht das aber nicht, Fräulein! Symbolfoto eines blonden Mädchen mit Dreadlocks. Foto: Imago/Agefotostock

Ronja Maltzahn und Lauwarm: Die Debatte um kulturelle Aneignung hält an

In irgendeinem abgelegenen Gasthaus in der Schweiz musste in diesem Sommer eine wohlgemerkt weiße Reggae-Band namens Lauwarm ein Konzert abbrechen, weil einzelnen Leuten im Publikum die Dreadlocks der Musiker nicht passten. Aus gleichem Grund sagten im Frühjahr in Berlin die Organisatoren einer Demonstration von Fridays for Future den Auftritt der weißen Dreadlocks-tragenden Musikerin Ronja Maltzahn ab. 

„Haare ab, sonst kein Konzert!“ – In den 60ern galten solche Parolen „Gammlern“ und Hippies und kamen aus den berufenen Mündern streng-konservativer Sittenwächter. Von Leuten, die nicht selten eine Nazivergangenheit hatten. Heute kommt der nicht minder strenge Konservatismus von einer Generation, die auf Gedeih und Verderb alles richtig machen will und scheinbar fest davon überzeugt ist, genau zu wissen, was „richtig“ und „falsch“ ist. Das ist erst einmal unangenehm und vielleicht auch gefährlich.

Maltzahn und Lauwarm also. Diese beiden Fälle von radikal ausgelebter Kritik an dem über Europa schwebendem Ungeheuer der kulturellen Aneignung haben medial die Runde gemacht. Seitdem „hat man“ eine Meinung zum Thema. Ein kurzer Abstieg in die Abgründe der Diskussion: Ja, die kulturelle Aneignung existiert. Die Anfänge der Musikindustrie etwa sind wenig ruhmreich. Der weiße Junge Elvis hat mit dem Sound der Afroamerikaner Millionen gescheffelt und auch die weißen Kids aus Liverpool und London haben zunächst ihre Blues- und Rock-and-Roll-Platten angehört und damit eine musikalische Revolution ausgelöst. Das große Geld und den ewigen Ruhm heimsten Lennon, Jagger & Co. ein. Chuck Berry war zurecht sauer.

Die kulturelle Aneignung ist, betrachtet man sie streng soziologisch, strukturell rassistisch

Die kulturelle Aneignung ist, betrachtet man sie streng soziologisch, strukturell rassistisch. Aber das ist nur die eine Perspektive. Eine kurzsichtige Perspektive. Denn Aneignung, Verschmelzung, Fusion und Adaption sind zugleich Motoren, die unsere Kultur antreiben. Das Argument hält natürlich jeglicher knallharten Critical-Whiteness-Theorie nicht stand, aber: Das war schon immer so. Sobald eine Kultur auf eine andere traf, erfolgte ein Austausch. Symbole, Bräuche, Mythen, Sprache, Kunst, all das ging ineinander über, verschmolz, ergänzte und inspirierte sich.

Ein evolutionärer Prozess und ja, ein nicht immer gleichberechtigter. Die Forderung nach mehr Gerechtigkeit ist durchaus richtig, zugleich aber extrem kompliziert umzusetzen. Konzertabsagen und „Haare-ab“-Forderungen sind nicht unbedingt der richtige Weg. Ein Umdenken der Kulturindustrie und die Würdigung und gerechte Entlohnung der eigentlichen Schöpfer kultureller Werke wäre vielleicht sinnvoller.

Die aktuelle Kritik an der kulturellen Aneignung rüttelt aber nicht an den Marktgesetzen, sondern an den Grundfesten unserer Kultur. Sie stellt alles infrage, nein, sie verurteilt radikal. Denkt man diese Kritik bis zum Ende, wird hier eine separatistische Kulturproduktion gefordert, eine Produktion, die auf Reinheit und Purismus ausgerichtet ist. Das Ziel wäre demnach eine Apartheid-Kultur. Die kann niemand wollen. Oder?

Das Problem ist vor allem die Radikalität, mit der die neuen (absurderweise zumeist weißen) Jakobiner als selbstgerechte Zensurbehörde auftreten. Im Sinne einer besseren Welt werden auch unangenehme Maßnahmen herangezogen – Absagen, Zensur. Das Ziel heiligt schließlich die Mittel. Haare ab, dann Konzert! Auch die historischen Jakobiner schrieben kurz nach der Französischen Revolution das Recht auf Arbeit und Bildung und auf „allgemeines Glück“ in ihre von Rousseau und der direkten Demokratie beeinflusste Verfassung. Was folgte, waren Terror und Robespierres Schreckensherrschaft. 

Doch was diese neuen Jakobiner:innen jetzt schon tun, ist ein Angriff auf ihre direkten Vorläufer des linksgrünen Aktivismus

Noch sind wir nicht soweit und vermutlich, oder besser: hoffentlich wird die sich an den Asphalt festklebende Letzte beziehungsweise Fridays-for-Future-Generation keinen neuen Robespierre hervorbringen und den rechten Schwurblern mit ihrem Raunen über eine mutmaßliche „linksversiffte Öko-Diktatur“ auch noch Recht geben. Doch was diese neuen Jakobiner:innen jetzt schon tun, ist ein Angriff auf ihre direkten Vorläufer des linksgrünen Aktivismus. 

Ich muss bei diesen Dreadlocks-Eklats an Uwe und Regina denken. Uwe und Regina gibt es nicht, sie sind idealtypische Figuren der linksalternativen Szene. In den 1970er- und 80er-Jahren sozialisiert, irgendwie anders, irgendwie grün, irgendwie alternativ. Sie gründeten Zeitungen, Parteien und Landkommunen, sie besetzten Häuser, demonstrierten gegen Atomendlager und die Startbahn West und waren vegetarisch, bevor es cool war, und nicht wenige trugen und tragen vielleicht heute noch Dreadlocks. So wie Uwe und Regina.

Sie filzten sich die Locken aus einer Liebe zur jamaikanischen Rastakultur, aber auch aus einer systemkritischen Haltung heraus. Nicht, weil sie jemandem etwas wegnehmen wollten, sondern weil sie auch an ihrem Äußeren manifestieren wollten, dass sie nicht zur Mainstream-Gesellschaft gehörten. Alle sollten sehen, dass sie von einer anderen Welt träumten und lieber einen Joint durchzogen, als einen Bausparvertrag abzuschließen. Dass gerade sie nun ins Visier der jungen linken Generation geraten, ist tragisch. 


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