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Aktivismus

„Wie ein Schauspiel“: Der Berliner Anwalt Sven Richwin kämpft um die inhaftierte Maja T.

Sven Richwin ist Mitglied einer Anwaltskanzlei am Kreuzberger Oranienplatz. Der Strafverteidiger, der sich häufig für Belange der linken Szene einsetzt, gehört dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein an. Zurzeit steht Richwin in den Schlagzeilen, weil er als Rechtsbeistand für Maja T. fungiert. Die Bedingungen in der ungarischen Haft sind menschenunwürdig, Maja T. ist dort wegen schweren Körperverletzungsdelikten gegenüber mutmaßlichen Rechtsextremisten angeklagt und war rechtswidrig aus Deutschland in den Orbán-Staat ausgeliefert worden.

Liebling Kreuzberg: Der Strafverteidiger Sven Richwin arbeitet in einer Kanzlei am Oranienplatz. Foto: Jana Vollmer

tipBerlin Wie geht es Maja T. zurzeit?

Sven Richwin Sie befindet sich gerade in einer Erholungsphase. Alles in allem geht es ihr besser als während des Hungerstreiks. Der Weg aus einem solchen Extremzustand heraus ist allerdings genauso schwer wie hinein. Ihr Körper muss erst wieder lernen, Nahrung aufzunehmen. Zu viel Essen überfordert den Organismus. Es geht also darum, sich kontrolliert zu ernähren. Zurzeit ist Maja in einem Haftkrankenhaus an der rumänischen Grenze, wo sie weiterhin isoliert ist. Zum ersten mal nach Monaten gibt es dort allerdings ein richtiges Fenster, durch das der Himmel zu sehen ist.

tipBerlin Wie bewerten Sie den Umgang der Bundesregierung mit Mandant:in?

Sven Richwin Letzte Woche war ein Staatssekretär aus dem Hause von Außenminister Johannes Wadephul vor Ort. Diplomatische Initiativen dieser Art bewirken jedoch bisher offenbar wenig bei den ungarischen Justizbehörden, um eine Rückführung nach Deutschland oder auch nur Hafterleichterungen wie einen Hausarrest zu erreichen. Der rechten Orbán-Regierung passt der ganze Fall um Maja T. einfach zu gut in deren Propaganda, um das Narrativ vom „degenerierten westlichen Europa“ zu bespielen: eine non-binäre, linke Aktivistin, kommt aus dem Ausland, um in Ungarn schwere Körperverletzungen an vermeintlich harmlosen Touristen zu begehen. So die Erzählung.

tipBerlin Bringt denn Diplomatie überhaupt nichts?

Sven Richwin Der Versuch politischer Aufmerksamkeit durch deutsche Regierungsvertreter*innen kann sehr wohl dabei helfen, Maja wenigstens vor weiteren Repressalien in ihrer Haftsituation zu schützen. Nach Majas Erfahrung werden andere Gefangene ohne entsprechenden Fokus der Öffentlichkeit noch viel schlechter behandelt und auch durch die Wärter attackiert.

tipBerlin Hat die Passivität von Regierungsvertretern damit zu tun, dass Maja T. das Etikett „Linksextremistin“ anhaftet – und in den Augen von Parteivertretern aus CDU/CSU und SPD ein Einsatz für Ihre Belange keinen politischen Nutzen einbringt? Nach dem Motto: Das weitere Schicksal dieser „Krawallmacherin“ interessiert unsere Wählerinnen und Wähler sowieso nur peripher… 

Sven Richwin Das ist auch mein Eindruck. Politiker von CDU/CSU und SPD haben sich lange Zeit von der öffentlichen Stimmung treiben lassen. Sie sind damit der juristischen Diskussion über den Fall hinterhergehinkt, die längst auch an Lehrstühlen erörtert wird. Es geht darum, einer deutschen Staatsbürgerin rechtsstaatliche Grundprinzipien zu gewährleisten – unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Schon im Frühjahr hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Beschwerde stattgegeben, dass sie als non-binäre Person wegen der dortigen Menschenrechtslage nicht hätte ausgeliefert werden dürfen. Grundrechte und ein rechtsstaatliches Verfahren müssen gerade für diejenigen garantiert werden, denen aufgrund ihrer Person oder des Tatvorwurfs vielleicht weniger Sympathie entgegenschlägt. Die anderen brauchen ja diesen Schutz nicht. Aus gutem Grund findet Rechtsprechung nicht in den Kommentarspalten statt sondern in einem unabhängigen Gerichtsverfahren.

tipBerlin Könnte der Hungermarsch ihres Vaters Wolfram Jarosch, der sich auf den Weg nach Budapest gemacht hat, die Orbán-Regierung zu einem Umdenken zu bewegen?

Sven Richwin Die Aktion ist breit in ungarischen Medien angekommen und spiegelt der dortigen Bevölkerung die kritische Sichtweise aus dem restlichen Europa auf die Angelegenheit. Somit ist dieser Hungermarsch definitiv eine nützliche Komponente, um Aufmerksamkeit zu erregen. Gewissermaßen setzt Wolfram Jarosch den Hungerstreik seiner Tochter fort. Die Emotionalisierung durch den Spin in der Berichterstattung – ein Vater, der ein großes Opfer für seine leidende Tochter bringt – ist allerdings auch zweischneidig. Es geht ja eben nicht darum, dass Maja freikommen soll, weil sie und ihre Familie am Ende so sympathisch und nett erscheinen. Sondern darum, dass jede Person, unabhängig von ihrer Beliebtheit, nach rechtsstaatlichen Normen behandelt werden muss.

tipBerlin Welche Rolle spielt die Tatsache, dass der Rechtsstaat in Ungarn dysfunktional ist, für Ihre eigenen Spielräume als Verteidiger, der in Deutschland ein mehr oder weniger funktionstüchtiges System kennt? Mit anderen Worten: Sind in diesem asymmetrischen Verhältnis die gängigen juristischen Vorgänge auf eine Art über den Haufen geworfen, dass man stärker aktivistisch handeln muss?

Das Ergebnis scheint längst festzustehen, das wichtige Prinzip der Unschuldsvermutung ist nicht existent

Sven Richwin

Sven Richwin Das ist überraschenderweise so. Ich habe bei diesem Fall viel mit der Presse zu tun, während ich nicht, wie sonst üblich, einen großen Teil meiner Zeit im Gerichtssaal verbringe. Mit der übereilten Auslieferung Majas nach Ungarn ist uns de facto der Fall aus der Hand genommen worden. Nun bin ich erstaunt, wie willkürlich die ungarische Justiz Entscheidungen trifft. Wir mussten zum Beispiel durchklagen, dass Maja überhaupt von uns besucht werden darf. Im ganzen Verfahren fehlt auch der investigative Charakter, den man als Strafverteidiger hierzulande gewohnt ist. Das Ganze hat sehr starken Präsentationcharakter, bei dem letztlich nur die Anklagepunkte illustriert werden sollen. Das Ergebnis scheint längst festzustehen, das wichtige Prinzip der Unschuldsvermutung ist nicht existent.

tipBerlin Da Sie sich nur indirekt als Rechtsbeistand um Maja kümmern können: Hat Maja T. auch eine eigene juristische Vertretung in Ungarn?

Sven Richwin Im Saal wird Maja durch einen ungarischen Kollegen aus dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer von Budapest vertreten. Dennoch scheinen seine Interventionsmöglichkeiten gering. Anträge werden generell abgewiesen, und er darf nicht mal neben Maja sitzen, sondern muss ganz woanders im Saal Platz nehmen. Das Ganze wirkt schon eher wie ein Schauspiel, in dem Maja jedesmal an einer Kette vorgeführt wird.


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