Kommentar

Notbremse, aber Modellprojekte? Stellt lieber richtige Forderungen!

Die Bundesnotbremse kommt, Berlin steht vor Ausgangssperren, die Museen schließen wohl auch wieder, aber bringen dürfte das alles nichts. Wir haben uns ans lange Elend gewöhnt, und die Kulturbranche trauert um ihre durchgetesteten Pilotprojekte. Viel sinnvoller, als beleidigt zu sein, wäre es, die Kultur so ernst zu nehmen, dass man ihr zuliebe kaputte Modellprojekte wie „Arbeit in Präsenz“ einstampft, findet tipBerlin-Redakteur Christopher Wasmuth.

Der Rundfunkchor bei einer Probe für die Konzertinstallation „The World To Come“ im Oktober 2020 im Schwuz. Wir brauchen keine Modellprojekte, sondern eine Pandemiepolitik, die solche Veranstaltungen ermöglicht. Foto: Imago/Martin Müller

Pandemie-Politik: Ein Jahr Resignation

Wenn man richtig traurig werden möchte, muss man bloß in die Sonne schauen und sich vorstellen, wie schön der Frühling sein könnte: mit offenen Biergärten, kleinen Grüppchen im Park, Open-Air-Konzerten und Theatertruppen unter freiem Himmel.

Stattdessen ist es bald allenfalls noch zum Joggen gestattet, nach 22 Uhr das Haus zu verlassen, in Innenräumen kann man sich ohnehin nicht treffen, der Berliner Senat hat schon nach Ostern ein abendliches Besuchsverbot erlassen, und auch sonst ist es fad. So viel Spaß hat man mit negativem Testergebnis draußen nun auch wieder nicht.

Dass es nicht so schön ist, wie es sein könnte, liegt natürlich daran, dass wir mitten in der Pandemie stecken, die man nur deswegen verdrängt, weil sie schon mehr als ein Jahr läuft und so ziemlich jeden angenehmen Aspekt des Lebens durch Langeweile, Unsicherheit, Resignation und Müdigkeit ersetzt hat.

Unerträglich, dass die Politik vom Freizeit-Virus ausgeht

Aber dass es nicht so schön ist, wie es trotz der Umstände sein könnte, liegt eben auch daran, dass seit Monaten die Politik auf jeder Ebene versagt und zuletzt nicht einmal einig war, welche Ebene überhaupt zuständig dafür ist, an der Seuchenbekämpfung zu scheitern. Dass wir jetzt, mehrere Wochen, nachdem Angela Merkel bekräftigt hatte, nicht mehr tatenlos zuzusehen, das Tatenlosen-Zusehen noch um eine Ausgangssperre, willkürlich anmutende Grenzwerte für Schulschließungen und verschlossene Museumstüren ergänzen, dürfte die pandemische Entwicklung allenfalls verlangsamen, aber die Zahlen nicht signifikant, falls überhaupt, nach unten drücken. Dass die Politik nach wie vor von einem Freizeit-Virus ausgeht, ist unerträglich.

Finden alle, klar, die Enttäuschung ist greifbar. Und hilfreich ist wenig, auch nicht die entsetzten Reaktionen aus dem Kulturbereich, der am Boden liegt und mit der Bundesnotbremse noch einen weiteren kräftigen Tritt abbekommt. Die Berlin Music Commission (BMC), eine Musikwirtschafts-Interessenvereinigung mit Mitgliedern von der Bar jeder Vernunft über die Columbiahalle bis zum Riesenplayer Trinity Music, lehnt die Novelle des Infektionsschutzgesetzes also wenig überraschend, aber vehement ab.

„Diese Bundesnotbremse ist ein Desaster für die Kultur und greift massiv in das Privatleben wie auch das kulturelle Leben der Menschen ein“, heißt es in einer Pressemitteilung der Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft der BMC.

Modellprojekte bei hoher Inzidenz? Wie soll das gehen?

Die Fachgruppe zeigt sich besonders enttäuscht, dass die Bundesnotbremse als „Kulturverbot“ auch Modellprojekte unmöglich macht, auf denen, da kann man schon erstaunt sein, wohl alle Hoffnungen lagen. Und fordert: „Wir benötigen viele derartige Modellprojekte, vor allem auch an unabhängigen Spielstätten verschiedenster Größenordnungen“. Wie das gelingen soll? „Die Inzidenz 100 kann und darf nicht der einzige Parameter für die Schließung von Kultur- Sport- und Freizeiteinrichtungen sein“, heißt es in der Erklärung.

Aber was denn dann? R-Wert, Impferfolge und Belastung der Intensivmedizin nennt die Pressemitteilung. Der R-Wert ist aber keine mystische, inzidenzunabhängige Größe, sondern liegt bei steigenden Zahlen sowieso über 1. Solange Impfstoffe knapp sind, entscheidet über deren Verteilung die Zugehörigkeit zu Risikogruppen und nicht der Wunsch, auf ein Konzert oder ins Theater zu gehen. Und Intensivbetten? Die Rufe nach einem viel härteren Lockdown dringen aus den Krankenhäusern kaum noch durch und verhallen auf den Fluren.

Die Modellprojekte hier waren nicht als Normalität gedacht

Das ist also alles unfassbar bitter, aber eine besondere Berücksichtigung von Partikularinteressen kann auch nicht die Lösung sein. Die Modellprojekte, die Ende März auch schon wieder abgesägt wurden, sollten ja schließlich nur ein Stresstest für die Testinfrastruktur sein, keine Würdigung der außergewöhnlichen Leistungen der Berliner Philharmoniker, auch wenn es gut tat, sie spielen zu sehen. Die BMC scheint darin aber eine Möglichkeit zu sehen, in einer unmöglichen Situation Normalität wenigstens vorzugaukeln, für ein paar Stunden zumindest. Leicht vermittelbar ist das nicht, erst recht nicht, wenn die so wichtige Kultur in einer Weltstadt sich auf eine Handvoll Konzerte beschränkt, die nach zehn Minuten ausverkauft sind.

Modellprojekt in Tübingen: Ende März war die Innenstadt dort voll. Um so etwas dauerhaft zu ermöglichen, müssen halt die Neuinfektionsraten drastisch gesenkt werden. Foto: Ulmer Pressebildagentur

Und dann wird man wieder wehmütig und erinnert sich an den vergangenen Sommer, wo doch gefühlt alles möglich war. So schräg und leer die Zeit sich auch angefühlt hat, man konnte in Biergärten sitzen, Ausstellungen besuchen, auf Konzerte gehen und in Hinterhöfen tanzen. Das lag aber weder an der Abkehr von Inzidenzwerten als wichtigstem Maßstab noch an besonders ausgeklügelten Hygienekonzepten – statt App-Anmelde-Chaos gab es sogar noch Zettelwirtschaft.

Es lag an der Inzidenz im niedrigen zweistelligen Bereich. Nur so waren Öffnungen möglich, und nur so gab es selbst dort Sicherheit, wo das Hygienekonzept aus einer Plexiglasscheibe und Desinfektionsmittelspendern am Klo bestand.

Dann halt alles schließen

Wir müssen also nicht abkehren von der Inzidenz als Maßstab, sondern von der verflixten 100, die rein gar nichts löst. Liegt ein Landkreis drunter, darf er wieder machen, was er will, liegt er drüber, darf man halt nicht vor die Tür? Sinken wird so nichts, schon gar nicht auf das Level, das im März als Voraussetzung für Lockerungen beschlossen wurde. Dazu bedarf es einer Notbremse, die weit über das hinausgeht, was nun beschlossen wurde.

Und vor allem: eine weitestgehende Abkehr von Modellprojekten. Gastro-Öffnungen in Berlin-Mitte sind eh vom Tisch, sei’s drum. Open-Air-Raves wird es so schnell nicht geben, und wenn, dann allenfalls illegal, wie vor einem Jahr. Auch jetzt werden wir uns von einem Lockdown zum nächsten hangeln, von etwas Freizeit bei 94 bis zu Ausgangssperren über 100. Die Kultur fühlt sich zurecht missachtet, wenn ihre Forderungen auf der Prioritätenliste ganz unten landen, der finanzielle Ausgleich dafür dürftig ausfällt und die Kulturschaffenden in Testzentren jobben, weil es sonst nicht viele Optionen gibt, die Existenz zu sichern.

Die Modellprojekte „Schule“ und „Arbeit in Präsenz“ bitte kippen

Geholfen wäre ihnen, wenn wir auf Modellprojekte verzichten – und zwar auf alle. Philharmonie und Gastronomie, das ist ja eh schon dicht. Dass bei den aktuellen Zahlen Öffnungen sinnlos sind, zeigt auch der Blick in verwaiste Geschäfte. Als nächstes sollte das unerklärliche Pilotprojekt „Offene Schulen“ eingestampft werden, wo die Inzidenzen viel zu hoch sind, genauso wie der seit mehr als einem Jahr weitestgehend unreguliert durchlaufende Modellversuch „Anwesenheit auf der Arbeit um jeden Preis“. Nur so lässt sich nämlich die niedrige Inzidenz herstellen, die es braucht, um unter dem Geltungsbereich der Bundesnotbremse zu liegen, wo dann die Landesregierungen wieder übernehmen dürfen – und hoffentlich nicht in der Hoffnung auf erfolgreiche Impfkampagnen abermals halbgare Lösungen anbieten, bis wieder alles angebrannt ist.

Denn die Inzidenzen, die es braucht, um die Pandemie beherrschbar zu machen, liegen nicht knapp, sondern weit unter 100. Nur so gibt es Planungssicherheit. Der Sprung von 10 auf 20 geht wesentlich langsamer als der von 150 auf 200, und solange wir um die 100 tänzeln, gibt es keine Gewissheit, eine Woche später nicht wieder in den Lockdown zu rutschen – erst recht nicht, wenn das Kulturleben für die ungeimpften Altersgruppen konzipiert ist.

Statt also um Privilegien mit Symbolwirkung zu betteln, die doch nicht einmal eine Atempause verschaffen, könnte der Branchenverband einen höheren Stellenwert einfordern – nicht mehr schmückendes Beiwerk sein, sondern so wichtig, wie seit einem Jahr jede Kulturinitiative erfolglos zu sein behauptet. Um dann aber auch keine Sonderbehandlung für Testballons zu verlangen, sondern zu fordern, dass alles getan wird, damit Kultur überall stattfinden kann, auch um einen Preis, den dann ausnahmsweise die Wirtschaft zahlt. Die entsprechende Wut im Bauch sollten alle haben, die gerade maximal zu zweit unter der Frühlingssonnne (und nach Mitternacht bitte gar nicht mehr) spazieren und sich fragen, wie es sein kann, dass der zweite Sommer unter Pandemiebedingungen wesentlich schlechter zu werden droht als der erste.


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