Kommentar

Obdachlose in Berlin: Endlich mal nicht ganz egal

Belächelt, beschimpft, bedroht, bespuckt, verdrängt. Es ist kein Geheimnis, dass obdachlose wie auch wohnungslose Menschen an den gesellschaftlichen Rand geprügelt werden, sei es in Städten oder auf dem Land. Trifft auch auf Berlin zu. Ladenbesitzer:innen installieren Eisenstacheln vor ihren Schaufenster als Wohnungslosenableiter, testosterongeladene Späti-Mitarbeiter fluchschubsen Bettelnde aus ihren Läden, BVG-Sicherheitsleute entfernen „behutsam“ (so heißt es) Menschen von Bahnstationen. Eigentlich Grund genug, um sich zu ärgern, zynisch zu werden, zu resignieren. Organisationen wie die Berliner Stadtmission, das Deutsche Rote Kreuz und unzählige Ehrenamtliche lassen das aber nicht zu. Sie helfen, das baut auf. Ebenso aufbauend ist, dass der Stadt obdachlose Menschen nicht ganz so egal sind, wie es manchmal scheint.

Obdachlose Menschen werden in Berlin häufig vergessen. Foto: Imago/Emmanuele Contini

Erste gute Nachricht: 3G-Regel an Bahnhöfen gilt nicht für obdachlose Menschen

Es kam dem Senat nicht zugute, die 3G-Regel an Berliner Bahnstationen durchzusetzen, was die Rückzugsmöglichkeiten für obdachlose Menschen erheblich einschränkte. Letztlich führte er zu einem der seltenen Momente, in denen konservative, liberale und linke Lager zusammenfanden, um gegen etwas zu protestieren. Nicht unbedingt auf der Straße mit Transparenten, dafür im Netz.

CDU-Politiker:innen sprachen von sozialer Kälte, der Cicero (ein konservatives Politikmedium) kritisierte die Entscheidung in einem Kommentar, der tip (ein nicht-konservatives Stadtmedium) tat es ihm gleich. Selbst auf Facebook, einem sterbenden sozialen Medium, das nur im Sumpf rechter Hasskommentare vor sich hinröchelt, gab es Beistand für die neuentstandene Notsituation.

Ob es am Gegenwind lag oder den Verantwortlichen die drei dickenschen Weihnachtsgeister erschienen sind, können wir nicht sagen. Jedenfalls hat der Senat die Regelung kürzlich entschärft. An Bahnhöfen und -steigen dürfen Obdachlose auch ohne 3G-Bedingung bleiben, sofern Mindestabstand und Maskenpflicht eingehalten werden, ach ja, und die Betreiber:innen dies erlauben. Mit Blick auf den Hansaplatz, ausgezeichnet als obdachlosenfeindlichster Ort der Stadt, eine Charakterfrage. Hier können obdachlose Menschen nur hoffen, dass nicht nur der Senat eine humanitäre Erleuchtung erfuhr.

Zweite gute Nachricht: Obdachlose Menschen dürfen in der Habersaathstraße bleiben

Kürzlich besetzten obdachlose Menschen ein leerstehendes Haus in der Habersaathstraße (Mitte). Lange Zeit standen viele Wohnungen des DDR-Plattenbaus leer. Die Eigentümerfirma Arcadia Estates will das Gebäude abreißen und durch Luxuswohnungen ersetzen (toll!). Bereits im Herbst haben mehrere Personen den Bau besetzt. Nach wenigen Stunden hat die Polizei ihn wieder geräumt.

Diesmal verlief das Prozedere erfolgreicher und der Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) handelte mit Arcadia Estates eine Bleibeperspektive aus. Rund 30 Menschen ohne Zuhause können sich im Gebäude anmelden. Damit wäre es das erste Mal, dass obdachlose Menschen leerstehenden Wohnraum als Unterbringung nutzen dürfen, wenn auch nur übergangsweise, vielleicht auch dauerhaft.

Dafür müssten wir aber schon sehr optimistisch sein. Ob die Abrissbirne das erkämpfte Dach über den Köpfen der Wohnungslosen weghaut, hängt wohl auch von der Wohnungspolitik der Berliner Regierungskoalition ab. Schwierig, bedenkt man, dass Franziska Giffey (SPD, wenngleich schwer nachvollziehbar) sich bisher nicht als großartige Gentrifizierungsgegnerin hervorgetan hat.

Doch lassen wir uns nicht die Laune verderben. Es sind zwei gute Nachrichten, die zeigen, dass die Stadt gelegentlich auf obdachlose Menschen Rücksicht nimmt. Wenn jetzt noch alle realitätsfremden Menschen, die Deutschland als Sozialstaat bezeichnen, in dem es keinen Grund für Obdachlosigkeit gibt, gleichziehen, umso besser. Gift und Galle schlagen ohnehin auf den Magen.


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