Kommentar

Lasst die Pop-up-Radwege in Ruhe, sie sind ein Hoffnungsschimmer

Die Klimaerwärmung wartet nicht, bis wir das mit Corona geregelt haben. Die Pop-up-Radwege aber sind ein Hoffnungsschimmer in diesen schweren Zeiten, in denen sich eine Krise auf die andere stapelt. Sie sind einer der wenigen Hoffnungsschimmer, die wir haben. Deswegen sollten wir die Bürokratie Bürokratie sein lassen und die Radwege behalten. Ein Kommentar von Xenia Balzereit.

Kommentar: Lasst die Pop-Up-Radwege in Ruhe, sie sind ein Hoffnungsschimmer
Wenn es nach dem Berliner Verwaltungsgericht geht, soll der Pop-Up-Radweg am Kottbusser Damm weichen. Foto: imago images/Hoch Zwei Stock/Angerer

Pop-up-Radwege: Deutschland und die Bürokratie

Deutschland wird noch an seiner Bürokratie ersticken — und Berlin als Großstadt erst recht. Ein paar Monate lang konnte man als Radfahrer*in zum Beispiel den Kottbusser Damm entlang radeln, ohne andauernd zu erschrecken, weil einen ein Auto mit viel zu wenig Abstand überholte. Auf der Gitschiner Straße konnte man ohne Angst langsamere Fahrradfahrer*innen überholen, weil der neue Pop-Up-Radweg breit genug dafür war. Und auf der Lichtenberger Straße hatte man auf einmal weniger Angst vor ausscherenden Autos, die den Parkstreifen verließen.

Wenn es schlecht läuft, ist damit nun Schluss. Das Berliner Verwaltungsgericht hat am Montag einem Eilantrag stattgegeben und acht von 13 Pop-Up-Radwegen als nicht rechtens eingestuft. Im selben Urteil verpflichtete das Gericht die Verkehrssenatsverwaltung, die entsprechenden Fahrbahnmarkierungen und Schilder zu entfernen. Viele Berliner Radler*innen fühlen sich jetzt wahrscheinlich ein bisschen wie Hunde, denen man schwer verdiente Leckerli vor die Nase hält und dann droht, es ihnen wieder wegzunehmen, obwohl sie nichts falsch gemacht haben.

Die Radwege sollten den öffentlichen Nahverkehr entlasten

Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) mit der Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) hatte die Einrichtung der Radwege im Frühling und Sommer angeordnet, um den öffentlichen Nahverkehr zu entlasten und so zu verhindern, dass sich zu viele Menschen in überfüllten Bussen und Bahnen mit dem Coronavirus anstecken. Wenig später folgte die Ankündigung, dass die Radwege, die zuerst nur temporär eingerichtet wurden, bleiben sollen.

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Auch der Pop-Up-Radweg an der Kantstraße soll nach dem Willen des Verwaltungsgerichts verschwinden. Foto: imago images/Stefan Zeitz

Das Gericht kassierte Günters Pop-up-Idee nun mit der Begründung, dass Radwege nur dort eingerichtet werden dürften, wo die Sicherheit und Belastung des Verkehrs „ganz konkret auf eine Gefahrenlage“ hinwiesen und es deswegen zwingend erforderlich sei, einen Radweg auszuweisen. Die Pandemie hingegen habe nichts mit dem Verkehr zu tun und könne deswegen nicht als Begründung herangezogen werden.

Berliner Verwaltungsgericht wohl mit Scheuklappen

Es scheint, als habe das Berliner Verwaltungsgericht Scheuklappen auf. Die Gefahrenlage ist offensichtlich vorhanden, auch wenn die Gefahr ausnahmsweise mal nicht dem Verkehr direkt entspringt, sondern von den Viren in der Luft kommt. Jeden Morgen und jeden Abend sind Berlins Busse und Bahnen wegen des Berufsverkehrs rappelvoll. Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert, die noch immer wütet. Die Menschen müssen weiterhin zur Arbeit fahren, ob sie sich nun im öffentlichen Nahverkehr einem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen oder nicht.

Weil nicht jede*r Berliner*in den Luxus genießt, aufs Auto umsteigen zu können, hat Umweltsenatorin Günther genau das Richtige getan: Sie hat es attraktiver und sicherer gemacht, mit dem Rad zu fahren — damit sich weniger Menschen der Gefahr einer Ansteckung aussetzen. Viele Menschen sind auf Günthers Vorschlag eingegangen. Im Juli bewegten sich 2,3 Millionen Radfahrer*innen auf Berlins Straßen. Das sind 25 Prozent mehr als im selben Monat des Vorjahres.

Dass sich bei Radwegen was tut, war höchste Zeit

Es war höchste Zeit, dass sich in Sachen Radwege etwas tut — auch ohne Pandemie. Denn auch vor Corona ist die Zahl der Radfahrer*innen in Berlin immer weiter gestiegen — trotz der schlechten, gefährlichen Bedingungen für Radler*innen. Seit 2018 ist das Mobilitätsgesetz in Kraft, das Radfahren in Berlin sicherer machen soll. Bis 2030 sieht es ein zusammenhängendes Radwegenetz vor, alle Hauptstraßen sollen bis dahin einen Radweg haben. Getan hat sich für Radfahrer*innen seither zu wenig. Fünf Kilometer geschützte Radwege hat Berlin seit 2018 gebaut und 20 Kilometer Radwege grün angepinselt. Insgesamt sind 2017, 2018 und 2019 berlinweit weniger als 100 Kilometer neue Radwege entstanden.

Dabei müssten jedes Jahr eigentlich mehr als 300 Kilometer neue Radwege gebaut werden, um die Ziele zu erreichen. Das rechnete Denis Petri vom Verein Changing Cities dem Tagesspiegel im Sommer vor. Changing Cities ist aus dem „Volksentscheid Fahrrad“ entstanden und hat am Mobilitätsgesetz mitgeschrieben. Auch von der „Vision Zero“, also der Vision, keine Verkehrstoten mehr beklagen zu müssen, ist Berlin noch weit entfernt. 2019 starben 40 Menschen im Berliner Verkehr, sechs davon auf dem Rad.

Senat will Beschwerde eingelegen

Immer wieder berichten Medien von Unfällen, bei denen die Faherer*innen von rechtsabbiegenden Autos oder LKW Radfahrer*innen übersehen. Zu 65 Prozent werden Radunfälle mit Personenschaden von Kraftfahrer*innen verursacht, körperlichen Schaden nehmen aber fast ausschließlich die Radler*innen Gefährlich leben Radler*innen in Berlin also immer, egal ob es gerade eine Pandemie gibt oder nicht.

Am Montagnachmittag hat die Senatsverkehrsverwaltung angekündigt, dass sie Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts einlegen will, und zugleich eine aufschiebende Wirkung für die Anweisungen des Gerichts beantragt. Das Verwaltungsgericht habe die grundlegenden Fragestellungen, die im Raum stünden, in seiner Eilentscheidung nicht ausreichend betrachtet. Die Pop-up-Radwege seien rechtmäßig angeordnet und nach den Erfordernissen der Straßenverkehrsordnung begründet. Man gehe derzeit davon aus, dass sie Bestand haben werden, heißt es in der Pressemitteilung der Senatsverwaltung weiter. Hoffen wir, dass die Senatsverwaltung sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnt und Recht behält.

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Einer der ersten Pop-Up-Radwege entstand am Schöneberger Ufer. Auch er soll verschwinden, wenn das Gericht Recht behält. Foto: imago images/A. Friedrichs

Pop-up-Radwege sind ein Hoffnungsschimmer in der Krise

Denn die Pop-up-Radwege sind ein Hoffnungsschimmer in der Krise — oder eher: in den Krisen. Denn die Corona-Krise kommt hinzu zur Klima-Krise, die für uns durch die Pandemie zwar in den Hintergrund getreten sein mag, aber weiterhin schwelt und brodelt. Die Klimaerwärmung wartet nicht, bis wir das mit Corona geregelt haben. Deswegen war es schön, zu sehen, dass sich auch an dieser Front etwas tut.

Unkompliziert entstanden knapp 26 Kilometer neue Radwege ohne das übliche Behörden-Pingpong, ohne monatelang mit Autofahrer*innen zu diskutieren, die nicht auf ihre Parkplätze verzichten wollen. Denn dass die Verkehrswende bedeutet, dass den Autos Platz genommen wird, um an anderer Stelle Platz fürs Rad und den ÖPNV zu schaffen, sollte jedem klar sein. Die Pläne, die Umweltsenatorin Regine Günther jetzt vorgestellt hat, machen das noch einmal deutlich: Die City-Maut soll kommen, Parken soll teurer werden und irgendwann sollen Privatautos mit Verbrennungsmotoren ganz aus der Umweltzone verbannt werden.

Dass es dagegen Protest gibt, ist logisch. Menschen verzichten ungern auf Privilegien. Doch auch die stursten und faulsten Autofahrer*innen müssen irgendwann einsehen, dass es mit dem Autoverkehr in unserer Stadt so nicht weitergehen kann. Die Autos nehmen uns Platz, sie töten und verletzen schwächere Verkehrsteilnehmer*innen, sie nehmen uns die Luft zum Atmen. Gerade in Zeiten einer Pandemie, in der Viren die Atemwege befallen, ist letzteres fatal.


Noch im Frühling berichteten wir über neue Pop-Up-Radwege und Bußgelder — und hofften, dass die Verkehrswende näher rückt. Ihr wollt mal wieder zum Spaß Fahrradfahren? Hier sind einige tolle Radtouren durch Berlin: So erlebt ihr die Stadt auf dem Rad ganz neu. Ihr wollt lieber raus aus der Stadt? Mit diesen Radtouren durch Brandenburg entdeckt ihr das Umland mal anders. Ihr seid unsicher, was wegen der Pandemie gerade erlaubt ist? Berlin informiert regelmäßig über alle neuen Entwicklungen im Zusammenhang mit Corona.

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