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Schließung von Karstadt-Kaufhof-Kaufhäusern: Herber Verlust oder überfällige Pleite?

Bis zu sechs Karstadt-Kaufhof-Filialen sollen allein in Berlin schließen. Aber braucht solche Kaufhäuser überhaupt noch irgendjemand? Ein Streitgespräch zwischen unseren Redakteur*innen Julia Lorenz und Philipp Wurm.

Schließung von Karstadt-Kaufhof-Filialen: Braucht Berlin überhaupt solche Kaufhäuser?
Eigentümer Signa will das Karstadt/Kaufhof-Gebäude am Hermannplatz abreißen und einen Neubau im Stil der 20er Jahre hinsetzen. Foto: imago images/Jochen Eckel

Pro: Kaufhäuser sind super, weil sie Klassengrenzen überwinden

Philipp Wurm findet Kaufhäuser super – denn dort könnte sich die ganze Gesellschaft versammeln.

Früher, in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren, war das Kaufhaus die SPD des Einzelhandels: ein Konsens-Phänomen, das Klassengrenzen überwinden sollte. Auf seinen Etagen tummelten sich lauter Meiers, Konopkes und Müller-Lüdenscheids, ob aus Mietkasernen, Studenten-WGs, Reihenhäusern. Dort waren Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn immer nur einen Schritt entfernt – in den Schlangen vor den Kassen. Die Rolltreppen, die zu den Waren führten, zu Armbroschen, Miele-Waschmaschinen und Hosenanzügen, verströmten Symbolcharakter: als Stufen der Aufstiegsgesellschaft. Der Weg könnte nach oben führen, lautete die Verheißung.

Heute scheint das Kaufhaus, dieses Modell aus einer fernen BRD-Vergangenheit, ein Anachronismus zu sein. Hertie und Horten sind längst Geschichte; und die übrigen Ketten zerfallen. Sechs von elf Filialen des Konzern „Galeria-Kaufhof-Karstadt“ sollen jetzt in Berlin geschlossen werden, ob am Leopoldplatz im Wedding oder woanders. Sollten sie dichtmachen, kann man dort nie wieder den süßlichen Odeur der Flakons in den Erdgeschossen inhalieren. Ein Verlust wäre auch eine andere Erfahrung: der Schweiß unter der Jacke, wenn im Winter die Heizkörper mal wieder übersteuert waren.

Amazon und andere Online-Monopolisten haben die Riesen von einst atomisiert. Außerdem sind die Sehnsüchte der Menschen individueller geworden. Und natürlich haben die Manager in den Chefetagen eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit ausgeblendet. In den Großstädten haben sie verpasst, neue Zielgruppe zu gewinnen. Nämlich Migrant*innen.

Der Ausverkauf ist traurig. Es gibt immer weniger Orte, wo die die Leute einen gemeinsame Nenner finden. Deshalb sollte man Warenhäuser, die der Krise trotzen, unter Milieuschutz stellen. Und in den Management-Abteilungen und anderen Segmenten der Unternehmen muss ein neuer Geist wehen. Damit dort mehr Vielfalt herrscht.

Vielleicht werden aus Geisterorten dann wieder Gesellschaftsmagneten.

Contra: Kaufhäuser sind uniforme Konsumtempel

Julia Lorenz mosert gern sozialkritisch rum, wird als Supermarkt-Snob ihren „Perfetto“ aber trotzdem vermissen

Hachja, ich werde die alten Tantchen ja auch vermissen.  Kaufhäuser wie Karstadt oder Galeria Kaufhof sind immerhin Orte, an denen man meinen könnte, die vergangenen, sagen wir, 30 Jahre hätten nie stattgefunden. Als sei die Bonner Republik noch immer lebendig.

Nun sollen mehr als die Hälfte dieser Nostalgie-Giganten in Berlin geschlossen werden. Für die Arbeitnehmerinnen ist das natürlich eine Katastrophe. Und machen wir uns, bei aller Liebe zum Einzelhandel, nichts vor: In manchen Kiezen sind die beim Manufaktur- und DIY-verliebten Szenepublikum unbeliebten Klotze ein Ankerpunkt und Stabilitätsgarant, zumindest aus stadtplanerischer Sicht. Was etwa die Filiale am Leopoldplatz, einem Hart-aber-herzlichen Hotspot der Trinkerinnenszene im Wedding, nach Schließung der Filiale ersetzen soll?

Noch fehlt mir die Fantasie, um an Ersatz zu denken. Den älteren Weddinger*innen, die dort ein- und ausgehen und viele Waren gebündelt an einem finden, sicher ebenso.

Trotzdem ist es unnötig, in einer Stadt mit rund 70 Malls geschlossenen Warenhäusern hinterherzuweinen. Zumindest in ihrer bisherigen Beschaffenheit. Mit Filialisten wie Hugendubel und der Friseurkette Essanelle als Untermieter boten die Filialen zuletzt dasselbe Angebot wie die Fußgängerzonen Dutzender deutscher Mittelgroß- und Kleinstädte – und machen es etwa kleineren Buchläden im Viertel schwer. Auch die Feinkostabteilungen hatte man einst an REWE abgegeben.

Zu egalitäreren Orten hat das die Warenhäuser, allen romantischen Projektionen zum Trotz, dennoch nicht gemacht. Eines ihrer Probleme: Sie sind vielerorts zu uniform, um ein Viertel zu bereichern, aber doch nicht niedrigschwellig genug, um ein Ort für alle im Kiez zu sein.

Mal schauen, ob sich am Herrmannplatz was daran ändert. Dort will der Eigentümer der Handelskette, die Signa-Gruppe, das bestehende Center abreißen und durch einen Neubau im 20er-Stil ersetzen.


Kaufhäuser schließen, manche Clubs dagegen öffnen wieder — aber nicht wie gewohnt. Im Berghain und in der Wilden Renate gibt es Kunst und im Ritter Butzke Freibier. Auch das Clärchens Ballhaus, Berlins neues altes Wohnzimmer, ist zurück. Ihr seid nicht sicher, was wegen Corona erlaubt ist und was nicht? Berlin informiert regelmäßig über alle neuen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise.

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