Wohnungspolitik

Was das Ende des Vorkaufsrechts für Berliner Mieter bedeutet

Das Vorkaufsrecht, schärfstes Schwert des Mieterschutzes, ist Geschichte, Bewohner:innen
von 14 Häusern bangen um ihre Zukunft in Berlin, darunter die der Hermannstraße 48 in Neukölln. Wir haben sie besucht und mit Lokalpolitikern gesprochen, wie der Kampf für die Mietenden jetzt weitergehen kann

Eine Frage des Vorkaufsrecht: Dieses Haus in der Hermannstraße 48 in Neukölln steht vor einer folgenschweren Entscheidung: Entweder gehört es bald den Menschen, die dort wohnen – oder viele von ihnen fliegen aus ihrem Zuhause raus. Foto: Lena Ganssmann

Kein Vorkaufsrecht in Berlin: Mietende in Furcht

Der Schlag kam für die Berliner Mieterbewegung wie aus dem Nichts.

Annika, 33: „Ich hatte erstmal so einen Unglauben. Ich habe das gar nicht richtig realisiert. Ich habe das ganz weit weg gedrückt.“

Bianca, 53: „Ich dachte, krass, das betrifft uns total.“

Simon, 33: „Das klang vernichtend.“

Das Bundesverwaltungsgericht hat im November 2021 die Zukunft der drei Mieter:innen in Frage gestellt, als es das Vorkaufsrecht zum präventiven Mieterschutz für gesetzeswidrig erklärte. Damit ging das mächtigste Werkzeug der Berliner Mieterbewegung verloren. Annika, Bianca und Simon, sowie alle anderen Bewohner:innen der Hermannstraße 48 leben jetzt in Unsicherheit. Es kann sein, dass sie ihr Haus bald kaufen dürfen, es ist aber auch möglich, dass sie ihr Zuhause verlieren.

Annika, Mieterin in der Hermannstraße 48 in Neukölln sagt: „Wir sind sowas von bereit, unser Haus zu kaufen!“ Foto: Lena Ganssmann

Annika und Simon leben günstig in einer Sechser-, beziehungsweise Achter-WG in einem Fabrikgebäude in der Hermannstraße 48 in Neukölln. Annika ist Theaterpädagogin, Simon promoviert in Soziologie. Bianca lebt allein in einer Wohnung im Vorderhaus und hat schon eine Weile „keine so gute Zeit“. Keiner der drei hat viel Geld.

Die aktuelle Eignerin der Hermannstraße 48, eine hochbetagte Berlinerin, will den Gebäudekomplex jetzt für einen zweistelligen Millionenbetrag an die Hermannshof 48 Grundbesitzgesellschaft mbH verkaufen, so Simon. Die Alteigentümerin ist nicht bereit, mit tipBerlin zu sprechen, die kaufwillige Firma nicht erreichbar.

In den Gebäuden der Hermannstraße 48, die zwei Hinterhöfe umfassen und der aktuellen Eignerin seit den 70er-Jahren gehören, leben 130 Menschen. Im Erdgeschoss sitzen eine Holzwerkstatt und eine Dachdeckerei, ein Frisör und ein Schuster. Unterm Dach residiert eine Körperpsychotherapiepraxis. Es ist ein tief im Kiez verwurzeltes Haus.

Ausverkauf Berlins: Wem gehört die Stadt?

Die Bewohner:innen fürchten, in die Hände eines Investors zu geraten, der sein Investment zügig wieder reinholen will. Simon sagt: „Uns Bewohnern im Fabrikgebäude könnte schnell eine Kündigung mit dreimonatiger Frist ins Haus flattern“. Acht WGs mit je bis zu 14 Bewohner:innen leben in diesem Gewerbegebäude. Die Menschen in den zur Straße liegenden Wohngebäuden erwarten, dass bald nach dem Verkauf die Frist zur Umwandlung in Eigentumswohnungen beginnt.

Die Mieter:innen wollen das Haus selbst kaufen, ihre eigenen Mieten leicht erhöhen und dafür lebenslang vor Verdrängung geschützt sein. Der Bezirk und das Mietshäuser Syndikat unterstützen das Projekt, die Finanzierung ist gesichert.

Vorkaufsrecht hieß das Zauberwort. 96 Häuser und Gebäudekomplexe in Berliner Milieuschutzgebieten wurden damit von 2015 bis November 2021 unter Federführung der Bezirke gemeinsam mit den Mietern sozialverträglichen Eignern wie zum Beispiel Genossenschaften oder kommunalen Wohnungsbaugesellschaften verkauft.

Simon, Mieter in der Hermannstraße 48 in Neukölln sagt: „Wir hatten auch vorher schon eine Vernetzung, sonst hätten wir es gar nicht geschafft, in den zwei Monaten, in denen der Vorkaufsprozess ablaufen musste, ein wasserdichtes Angebot vorlegen zu können.“ Foto: Lena Ganssmann

Dann kam der Schlag, der Annika, Bianca und Simon so traf. Am 9. November 2021 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der Vorkauf von Häusern, wie er in Berlin bisher betrieben wurde, unzulässig ist. Geklagt hatte der Berliner Anwalt Mathias Hellriegel. 14 der Berliner Vorkäufe waren zur Urteilsverkündung noch nicht rechtskräftig abgeschlossen und sind damit vermutlich zum größten Teil hinfällig – auch der Vorkauf der Hermannstraße 48 steht in Frage.

Warum das Vorkaufsrecht Geschichte ist

Die Bezirke hatten bei der Ausübung des Vorkaufsrechts damit argumentiert, dass bei einem hohen Kaufpreis in absehbarer Zeit mit Verdrängung gerechnet werden muss. Dem Gericht reicht hier keine bloße Annahme. Jetzt ist der Vorkauf in Milieuschutzgebieten nur noch möglich, wenn ein baulicher Missstand vorliegt oder das Gelände nicht den städtebaulichen Maßnahmen entsprechend bebaut oder genutzt wird.

Jeder Vorkauf kostete einen hohen Preis – meist den zwischen Eigentümer und Investor vereinbarten Betrag –, aber es war der einzige Weg, Häuser zu retten, sobald die Heuschrecken sich darin verbissen hatten. Wenn in Zukunft in Berlin ein Wohnhaus verkauft wird, können Land und Bezirke im Prinzip nur noch nicken.

„Die Unsicherheit, dass der Investor klagen und gewinnen könnte, war okay, aber dass auf einmal die ganze gesetzliche Grundlage wegbricht, war ein Schock“, sagt Annika. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hat nicht nur sie, Bianca und Simon unverhofft getroffen.

Bianca, Mieterin in der Hermannstraße 48 in Neukölln sagt: „Über das Hauskaufprojekt sind wir alle nochmal enger zusammengewachsen.“ Foto: Lena Ganssmann

„Damit hätte ich nicht gerechnet“, sagt Florian Schmidt, Grünen-Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, deutschlandweites Vorbild in der Nutzung des Vorkaufsrechts. Schmidt hat sich mit seinem Vorgehen nicht nur Freunde gemacht. „Mir war klar, dass ich mit renditefeindlicher Baupolitik Gegenwind bekomme, aber die haben mich mit allen Mitteln bekämpft, von Anzeigen bei der Polizei bis in die Privatsphäre hinein. Die Immobilienlobby hat mir ihre Zähne gezeigt“, sagt er. Der mutmaßliche Bad Boy der Berliner Baupolitik wurde von einem parlamentarischen Untersuchungsaussschuss inzwischen vollumfänglich rehabilitiert, die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.

Florian Schmidt kämpft weiter für die Mieter Berlins

Der Präzedenzfall, über den das Bundesverwaltungsgericht urteilte, war ein Haus aus Schmidts Bezirk, die Heimstraße 17 im Bergmannkiez. „Das Urteil ist ein Schock, aber auch ein Ansporn, nicht locker zu lassen. Wir haben mehr Spielräume, wir haben viele Ideen“, sagt er. Schmidt setzt auf präventiven Ankauf, grüne Nachverdichtung, Dachgeschossausbau, gemeinwohlorientierten Neubau, das Zweckentfremdungsverbot und den Handel von Baurecht gegen bezahlbare Wohnungen.

Vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hatten zwei Instanzen die Nutzung des Vorkaufsrechts aufgrund anzunehmender Verdrängung für legal befunden. Die Praxis hatte sich bei vielen Berliner Bezirken und in andere Städte wie Hamburg und München verbreitet. In vielen Fällen reichte schon die Drohung des Vorkaufs um die Käufer zu weitreichenden Zugeständnissen zu bewegen.

Diese Zugeständnisse wurden in sogenannten Abwendungsvereinbarungen fixiert, sie waren für die Bezirke eine wichtige Möglichkeit, Einfluss auf die Wohnraumsicherheit zu nehmen, ohne Häuser kaufen zu müssen. Seit 2016 wurden in Berlin 384 Papiere unterschrieben, die Mietpreisgrenzen ziehen, Eigenbedarfsnutzung erschweren oder Luxussanierungen ausschließen. Bei Verletzung der Verabredungen muss der Eigner Strafe zahlen. Fast 10.000 Wohnungen wurden so gesichert.

Ob die Abwendungsvereinbarungen nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts weiter durchsetzbar sind, ist ungeklärt. Erste Eigentümer haben ihre bereits aufgekündigt. Neue wird es mit dem aktuellen Gesetz nicht geben. Das schärfste Schwert des Mieterschutzes, wie Florian Schmidt es einst nannte, ist kampfuntauglich, bis der Bund es nachschärft – unter FDP-Beteiligung ein herausforderndes Unterfangen.

Florian Schmidt, Aktivist und Baustadtrat, kämpft auch ohne Vorkaufsrecht weiter​. Foto: Imago/Christian Ditsch

Angst vor der Vereinzelung

Die Hoffnung ruht auf einer Bundesratsinitiative für ein neues Vorkaufsrecht, die Berlins ehemaliger Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel, Linke, initiierte. Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, sagt: „Ich bin optimistisch, dass das Vorkaufsrecht reaktiviert werden kann. Aber man sollte bei der Vorkaufpreisberechnung einen Ertragswert zugrunde legen. Der Kaufpreis muss in einer realistischen Zeit mit bezahlbaren Mieten refinanzierbar sein. Das wird eine heftige Kontroverse mit der FDP auslösen. Und die wird Zeit brauchen.“ Zur Unterstützung des Anliegens haben in Berlin 50 stadt- und mietenpolitischen Initiativen die Initiative “Neues Vorkaufsrecht jetzt!” gegründet. 

Das Schwert ist erstmal stumpf, der Mietendeckel geplatzt, und das Volksbegehren zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co wird vom Senat vermutlich gerade bis zur wirtschaftspolitischen Bekömmlichkeit verdaut und wäre sowieso erst in Jahren umsetzungsreif. Immerhin sind in ganz Berlin seit August 2021 Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen nur noch unter strengen Bedingungen möglich. Dennoch stehen Berlins Mieter:innen 2022 unerwartet schutzlos da.

Die letzte Chance für die Hermannstraße 48

Die drei Neuköllner Mieter:innen können nur noch darauf hoffen, dass ihr Haus wegen der Wohnnutzung im Gewerbeteil des Gebäudes den Bedingungen des Vorkaufsrechts weiter entspricht. Wenn die tatsächliche Nutzung nicht der stadtplanerisch festgesetzten entspricht, ist das Vorkaufsrecht ja theoretisch weiterhin gültig. Gerade entscheidet der Bezirk darüber, ob er das gegen Investor und Alteigentümerin durchprozessieren will. Der zuständige Neuköllner Baustadtrat Jochen Biedermann, Grüne, sagt: „Wir prüfen gerade mit externer rechtlicher Unterstützung, ob das ein Fall ist, den wir mit einer realistischen Aussicht gewinnen können.“ Biedermann nennt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einen „bitteren Rückschlag“. Zur Zeit würden in seinem Bezirk außergewöhnlich viele Häuser verkauft – und er habe kaum eine Handhabe mehr, regulierend für bezahlbare Mieten einzugreifen.

Annika sagt: „Wir leben in Räumlichkeiten, die es nicht mehr so einfach zu finden gibt. Die ein gemeinschaftliches Wohnen möglich machen, nicht nur allein oder in der Kleinfamilie. Wenn wir hier rausmüssen, werden wir vereinzelt.“

Die Menschen aus der Hermannstraße 48 zählen darauf, dass der grüne Baustadtrat seine Spielräume nutzt. Sollte ihr Zuhause an den Investor gehen, wollen sie nicht einfach abziehen. „Auch unter einer neuen Eigentümerin sind wir an einem harmonischen Miteinander interessiert. Aber gegen Verdrängungsversuche werden wir uns wehren, und die Mieter:innenrechte geltend machen, die uns zustehen“, sagt Simon.

Die Hausgemeinschaft ist geübt im Aktenwälzen, Papiereschreiben, Rechnen. „In den zwei Monaten, in denen der Vorkaufsprozess ablief, waren bestimmt 40 Leute involviert und eine Handvoll hat kaum was anderes gemacht“, sagt Simon. Annika ergänzt: „Jetzt geht es darum, wie wir einen langen Atem behalten, nicht nur am Ball bleiben, sondern auch nach wie vor Spaß miteinander haben.“


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