Interview

Zum Tod von Hans-Christian Ströbele: APO, Grüne, Karl May, Hanf

Hans-Christian Ströbele ist verstorben. Zum Gedenken: unser großes Interview von 2017 mit dem Mitbegründer der Grünen über seine Rolle als APO-Anwalt, Eierlikör mit Milch, seine Leidenschaft für Karl May und Winnetou, den Rausch der anderen, Politik als Droge, Augenbrauenvergleiche mit Theo Waigel – und was er selbst bei einer Revolution zu verlieren gehabt hätte. Das Gespräch mit Hans-Christian Ströbele, der am 29. August 2022 im Alter von 83 Jahren in Berlin starb, führten Julia Lorenz und Erik Heier in seinem Bundestagsbüro.

Hans-Christian Ströbele: „Ich bin keine moralische Instanz“ (2017). Foto: F. Anthea Schaap

Hans-Christian Ströbele: 50 Jahre in der Politik

tipBerlin Herr Ströbele, im Herbst (2017, Amn. d. Red.) verlassen Sie den Bundestag – 50 Jahre, nachdem Sie in die Politik gegangen sind. Lassen Sie uns über den Auslöser für Ihren damaligen Einstieg in die Politik reden: den 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg erschossen wurde.

Hans-Christian Ströbele Vorher war ich politisch interessiert, habe regelmäßig die „Welt“ gelesen …

tipBerlin Eine Springer-Zeitung!

Hans-Christian Ströbele … Ich habe mich zum Beispiel auch hochschulpolitisch engagiert. Ein Highlight war, als ich half, Eberhard Diepgen, damals Asta-Vorsitzende an der FU, in einer Urabstimmung abzuwählen, weil er in einer schlagenden Verbindung war. Aber darüber hinaus war mein politisches Engagement bescheiden. Ich habe anfangs auch Fluchthelfer unterstützt.

tipBerlin Wie haben Sie den 2. Juni 1967 persönlich erlebt?

Hans-Christian Ströbele Ich war damals schon im Referendardienst. Zur Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus vormittags kam ich zu spät. Als die Schläger vom persischen Geheimdienst mit Stangen auf Studenten einschlugen, war ich noch nicht da.

tipBerlin Abends besuchte der Schah dann die Deutsche Oper.

Hans-Christian Ströbele Ich kam bei der Demonstration an, als die Menschen schon zurückströmten. Den Tod von Benno Ohnesorg habe ich nicht mitbekommen. Als ich in der  Nacht davon erfuhr, war ich empört und fand keine Ruhe mehr. Am nächsten Tag habe ich mich im Büro des APO-Anwalts Horst Mahler, der damals schon sehr berühmt war, gemeldet und meine Hilfe angeboten: Als Referendar konnte ich schon die Verteidigung von Studenten und sonst juristischen Beistand für die APO übernehmen.

Hans-Christian Ströbele über den Mord an Benno Ohnesorg: „Ich war so entsetzt“

tipBerlin Das hat also dieser Tag mit Ihnen gemacht.

Hans-Christian Ströbele Ich war so entsetzt! Es war ja nicht nur die Erschießung von Benno Ohnesorg. Es war das gesamte Verhalten von Politik und Polizei in Berlin. Der Polizeichef rühmte sich der „Leberwursttaktik“. Das hieß: die Demonstration auf beiden Seiten durch Polizei abriegeln und in der Mitte draufschlagen, bis es dort die Menge auseinanderplatzt – da waren Menschen gemeint! Oder es waren Gerüchte gestreut worden, die bösen Studenten hätten einen Polizisten erstochen. Und dann kam raus, dass ein Polizist einen Demonstranten erschießt!

tipBerlin Der Todesschütze Karl-Heinz Kurras wurde Jahrzehnte später als Stasi-Agent enttarnt.

Hans-Christian Ströbele Die Reaktion der Politik war damals: Die Studenten sind schuld, die Polizei hat richtig gehandelt. Alle prügelten auf die Studenten ein: die einen mit Knüppeln, die anderen via Zeitungsartikel und Medien.

tipBerlin Sie sind aber drei Jahre später in die SPD Wilmersdorf eingetreten. Hatten Sie sich in der Tür geirrt?

Hans-Christian Ströbele Nee. Ich hatte in den APO-Jahren viel mit der Verteidigung der Studenten zu tun. Und ich war fast auf allen Demonstrationen. Dann wurde der „Gang durch die Institutionen“ gefordert. Nicht, um dort was zu werden. Sondern um unsere zentralen politischen revolutionären Botschaften bekannt zu machen. Ich wohnte damals in Wilmersdorf und bin in die dortige SPD eingetreten. Ganz brav ging ich alle 14 Tage zu den Parteiabenden. Bis 1975 bin ich geblieben, bis ich rausgeschmissen wurde. Den SPD-Parteiausweis habe ich noch.

Hans Christian Ströbele: Lieber Karl May als Karl Marx

tipBerlin Stimmt es, dass Sie sich mit Karl May besser auskennen als mit Karl Marx?

Hans-Christian Ströbele Mag schon sein. Die „Winnetous“ von Karl May habe ich dreimal gelesen. Bei Karl Marx habe ich nicht mal das „Kapital“ ganz geschafft.

tipBerlin Beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund standen damals ja alle eher auf Italo-Western. Haben Sie mitgeguckt?

Hans-Christian Ströbele Ich war nie im SDS.

tipBerlin Aber Sie kannten die SDS-Leute doch.

Hans-Christian Ströbele Ich hatte viele Kontakte, war auch in den SDS-Räume am Kurfürstendamm. Italo-Western habe ich anfangs kritisch gesehen. Die übertrieben und nahmen die Westernhelden nicht richtig ernst. Aber bald wurden sie richtig Kult. Ich bin heute noch Western-Fan. Wenn spätnachts mal einer im Fernsehen läuft, sitze ich  vorm Fernseher und bedauere, dass heute so wenig Western laufen, immer nur die blöden Krimis.

Ströbeles Hochzeit in Paris: „Oder sind Sie innerlich ein Spießer?“

tipBerlin Sie hatten bereits 1967 in Paris geheiratet und besaßen damals schon in Berlin eine Eigentumswohnung.

Hans-Christian Ströbele Die habe ich immer noch.

tipBerlin Das ist nicht ganz das, was wir uns unter den wilden 60er-Jahren vorstellen würden.

Hans-Christian Ströbele Die antiautoritäre Bewegung fand ich notwendig und richtig. Auch den offenen Umgang mit Sexualität, die neuen Lebensformen in Kommunen und Wohngemeinschaften. Aber auch das Mitmachen habe ich infrage gestellt. Dazu gehörte, dass ich heirate. Um mich herum haben viele den Kopf geschüttelt.  Und dann noch kirchlich in Paris! Das war stachelig. Die Idee war übrigens alt. Als Schüler war ich mit der Klasse in Paris und habe gesagt: Hier heirate ich mal.

tipBerlin Eine romantische Ader!

Hans-Christian Ströbele Ursprünglich vielleicht.

tipBerlin Oder sind Sie innerlich doch ein Spießer?

Hans-Christian Ströbele Das behaupten manche. Aber das ist wohl eine Standpunktfrage.

„Ich hatte Eierlikör im Kühlschrank“

tipBerlin Wie ist das, wenn Hans-Christian Ströbele mal so richtig die Sau rauslässt?

Hans-Christian Ströbele Daran kann ich mich kaum noch erinnern. Aber dunkel kommen mir da Sachen, die ich Ihnen jetzt nicht erzähle.

Hans-Christian Ströbele bei Demo für Canabis-Legalisierung 2009: „Gebt das Hanf frei“. Foto: Imago/PEMAX

tipBerlin Man liest ja immer wieder, dass Sie nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, keine Drogen nehmen, Vegetarier sind.

Hans-Christian Ströbele Das war früher anders! In der Kneipe gehörte damals einfach dazu, Bier zu trinken, vor allem zu rauchen. Aber Alkohol trank ich eigentlich nie gern. Den Geschmack mochte ich nicht. Dass ich gar keine Drogen mehr nehme, ist jetzt vielleicht 25 oder 30 Jahre her.

tipBerlin Nicht mal ein Likörchen?

Hans-Christian Ströbele Doch, mein Büro hat das amüsiert.

tipBerlin Im Sozialistischen Anwaltskollektiv, das Sie mitbegründet habe.

Hans-Christian Ströbele Ich hatte eine Flasche Eierlikör im Kühlschrank und habe immer einen Fingerhut voll davon mit viel Milch getrunken. Ich bin Milch-Fan von Geburt an.

Der Rausch der anderen: „Ich behalte mich lieber unter Kontrolle“

tipBerlin Jemals gekifft?

Hans-Christian Ströbele Nein, nie. Trotzdem kämpfe ich heute noch überzeugt dafür: „Gebt das Hanf frei.“

tipBerlin 2001 dank Stefan Raab ein Top-10-Hit!

Hans-Christian Ströbele Es gehört zu den schlimmsten Ungerechtigkeiten unserer Zeit, dass jeder sich jeden Tag mit Alkohol und Zigaretten vergiften darf, während man um die sehr viel weniger gefährliche Droge Cannabis einen großen Bogen machen muss, um nicht im Gefängnis zu landen. Ich hatte viele Mandanten, die drogenabhängig waren. Deren Leidensweg hat mich geprägt. Da waren etwa in der APO-Zeit die „umherschweifenden Haschrebellen“, die, wenn sie bei uns im Anwaltsbüro waren, mitten im größten Zimmer erst mal in der Runde einen Joint kreisen ließen. Ich habe das immer schmunzelnd, aber auch mit einem kritischen Blick gesehen. Ich habe Schicksale über Jahre verfolgt, die waren schrecklich. Wenn Leute wirklich an der Nadel hingen.

tipBerlin Sie waren nie neidisch auf den Rausch der anderen?

Hans-Christian Ströbele Überhaupt nicht. Ich behalte mich lieber unter Kontrolle.

Otto Schily und Horst Mahler: „Ich habe mir das nicht vorstellen können“

tipBerlin Welcher Weg Ihrer damaligen Anwaltskollegen war für Sie überraschender – wie aus Otto Schily der brettharte Innenminister Schily oder wie aus dem RAF-Mitbegründer Horst Mahler der Rechtsextremist wurde?

Hans-Christian Ströbele Will ich nicht gewichten. Dass Otto Schily, nachdem er in die SPD eingetreten ist – vorher waren wir ja beide bei den Grünen – Karriere machen will, das war abzusehen. Er hat sich als SPD-Abgeordneter sehr engagiert, etwa bei der Demontage des Asylrecht, oder auch beim Großen Lauschangriff.

tipBerlin Und Mahler?

Hans-Christian Ströbele Darüber rede ich nicht so gern. Ich habe mir das nicht vorstellen können. In all den Jahren, in denen ich ihn gekannt habe, war er ein sehr eloquenter, sehr guter Anwalt. Natürlich habe ich viel Anwaltshandwerk von ihm gelernt. Aber über den Weg, den er dann gegangen ist, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Ich habe seit vielen Jahren keinen Kontakt zu ihm.

tipBerlin Hat es Sie nie gereizt, ihn einfach mal zu fragen?

Hans-Christian Ströbele Das wäre ein sehr unergiebiges Gespräch. Ich habe ihn wahrscheinlich zuletzt gesehen, als er an der Spitze einer NPD-Demonstration auf der Friedrichstraße stand. Und auf der anderen Seite der Spree, bei der Gegendemonstration, da stand ich – auch ganz vorne. Zwischen uns lagen vielleicht 50, 80 Meter.

Wohneigentum: „Revolution heißt nicht, dass jeder alles abgibt“

tipBerlin Will bei den Grünen heute noch irgendjemand die Revolution?

Hans-Christian Ströbele Ich! Die Frage ist natürlich, wie sie heute aussehen würde. Ich habe viel gelernt. 1969 wollte ich wirklich eine ganz andere Verfassung, eine andere Verteilung der Macht. Das haben wir nicht erreicht, das nehme ich auch zur Kenntnis. War vielleicht auch besser so. Aber wir haben die Gesellschaft, die Welt, die Lebensverhältnisse, die Dogmen, die damals das Leben beengt haben, verändert. Da haben wir revolutioniert.

Hans-Christian Ströbele 1989 auf einem Grünen-Parteitag mit den späteren Außenminister Joschka Fischer. 2002 warb er im Bundestagswahlkampf mit dem Slogan: „Ströbele wählen heißt Fischer quälen.“ Foto: Imago/ Sepp Spiegl

tipBerlin Wenn es heute eine Revolution gäbe: Was hätten Sie zu verlieren? Sie besitzen zwei Eigentumswohnungen.

Hans-Christian Ströbele Revolution heißt nicht, dass jeder alles abgibt. Das war nicht gemeint, auch bei der Französischen Revolution nicht. Ich will niemandem sein Häuschen wegnehmen. Oder seine Eigentumswohnung, sein Auto, sein Fahrrad.

tipBerlin Haben Sie jemals bedauert, keine eigenen Kinder zu haben?

Hans-Christian Ströbele Das ist jetzt zu familiär.

tipBerlin Wir fragen, weil Sie dafür eingetreten sind, dass Kreuzberger Eltern ihr Kind in Kreuzberg auf die Schule schicken. Manche Parteikollegen haben da anders entschieden, als es soweit war.

Hans-Christian Ströbele Das sollen die Eltern gemeinsam mit dem Kind entscheiden. Meine eigene Schulzeit war eine mit ganz anderen Wertigkeiten. Damals sind einige aus meiner Umgebung ins Internat gegangen. Ich habe gesagt: Ich möchte in der normalen Volksschule, so hieß das damals, und im normalen Gymnasium bleiben. Da lernt man vielleicht nicht so viel an Wissen, aber man macht Erfahrungen, wie man mit Menschen aus allen Schichten umgeht, Bündnisse schließt, Konflikte managt.

Hans-Christian Ströbele: „Ich habe nie auf einer Demo einen Stein geworfen“

tipBerlin Haben Sie, wie Friedrichshain-Kreuzbergs (damalige, Anm. d. Red.) Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, „Hausbesuche“ von der Antifa bekommen?

Hans-Christian Ströbele Nicht, dass ich wüsste. Mir sind mal Steine in die Wohnung geworfen wollen. Vom Bürgersteig aus. Sowohl an die Haustür als auch durch die  Fensterscheibe. Aber es waren wohl Rechte. Einem bin ich hinterher gerannt.

tipBerlin Selber mal Demo einen Stein geworfen? Auf Demos?

Hans-Christian Ströbele Ich? (Pause) Nein, ich habe keinen geworfen. Warum soll ich da groß herumreden?

tipBerlin Das klingt, als wäre Ihnen das peinlich.

Hans-Christian Ströbele Ich habe Leute verteidigt, die beschuldigt wurden, Steine geworfen zu haben. Ironisierend hatte ich im Büro auf dem Schreibtisch einen Pflasterstein mit dem Motto: Hier ist unser gewichtiges Argument.

„taz“-Mitbegründer Ströbele: Im Alleingang in den Bundestag. Foto: Imago/Thomas Trutschel

tipBerlin Haben Sie je erwogen, die Grünen zu verlassen?

Hans-Christian Ströbele Nee. Ich wurde immer wieder dazu aufgefordert. Es gab eine Zeit nach den Kriegsbeteiligungen – etwa in Serbien, obwohl ich dagegen war –, dass autonome Freunde gesagt haben: Wie kannst du da noch mitmachen, bist du verrückt?

Hans-Christian Ströbele: „In den ersten Jahren wusste ich kaum, wo Kreuzberg liegt“

tipBerlin In den 80er- und 90er-Jahren gab es bei den Grünen in Kreuzberg ein Pädophilen-Netzwerk, das die Partei vor zwei Jahren aufarbeitete. Damals haben Sie in einem Interview dem „Tagesspiegel“ gesagt, Sie würden sich an diverse Details nicht erinnern, die Personen nicht kennen. Wir fanden diese Erinnerungslücken bei Ihnen ungewöhnlich.

Hans-Christian Ströbele Das Thema spielte damals nicht die Rolle, wie das in der Nacharbeitung schien. Ich erinnere mich, dass es in der AL eine Diskussion gab, weil Leute solche Forderungen aufstellten. In der Partei konnte ja alles gefordert werde, wir haben nie jemand rausgeschmissen oder ausgeschlossen. Als ich nach einzelnen Personen oder einem Keller in Kreuzberg gefragt wurde, konnte ich nur sagen: Ich kannte mich damals in Kreuzberg nicht aus. In den ersten Jahren in Berlin wusste ich gerade mal, wo das liegt.

tipBerlin Sie wussten kaum, wo Kreuzberg liegt?

Hans-Christian Ströbele Ich bin 1961 nach West-Berlin gekommen. Das Politische, die Demos, die Rebellion, die APO, das spielte sich alles rund um den Ku’damm und in Dahlem ab. Kreuzberg war da irgendwo. Ich glaube, in den ersten fünf Berlin-Jahren war ich da nie. Und ich war bis 2002 auch nicht Mitglied bei den Grünen in Kreuzberg. Also: bis zu meiner Bundestagskandidatur dort. Das hat sich total geändert. Politischer Brennpunkt wurde Kreuz­berg erst in den 80er-Jahren.

Hans-Christian Ströbele über sein Bundestags-Direktmandat für die Grünen: „Darauf bin ich heute noch stolz“

tipBerlin 2002 haben Sie in Kreuzberg ohne Listenunterstützung durch Ihre Partei kandidiert – und sensationell das erste Bundestagsdirektmandat in Deutschland für die Grünen geholt.

Hans-Christian Ströbele Der Hauptgegner war, dass alle gesagt haben: Der macht ja einen ganz guten Wahlkampf, aber er hat keine Chance. Gegen diese Auffassung musste ich angehen, die war auch nicht ganz unbegründet. Ich musste die Grünen-Stimmen verdoppeln. Am Ende lag ich knapp vorn. Danach war das dann easy. Ich wurde  später sogar mal von 46 Prozent gewählt. Da dachte ich schon, das müssen doch mal 50 werden!

tipBerlin Nach dem 2. Juni 1967 war das der zweite politische Wendepunkt Ihres Lebens. Sonst wäre Ihre Karriere bei den Grünen wohl beendet gewesen.

Hans-Christian Ströbele Darauf bin ich heute noch stolz. Wenn Sie mich fragen: Was waren glückliche Momente in Ihrem Leben? Als ich das in der Nacht erfuhr. Zwei Tage davor hatte mich ein Rechter niedergeschlagen. Am Wahlsonntag war ich im Krankenhaus, um meinen Kopf zu untersuchen, weil ich Schmerzen hatte. Dann kam irgendwann die Wahlsieg-Meldung. Da bin ich ins Rathaus gefahren. Schmerzen und Krankheit waren weg.

Grünen-Mitbegründer Ströbele: „Ich bin keine moralische Instanz“

tipBerlin Erkennen Sie die Grünen, die Sie mitbegründet  haben, heute noch wieder?

Hans-Christian Ströbele Natürlich, sonst wäre ich nicht drin. Ich ärgere mich über vieles und gebe auch immer kluge Ratschläge, auch im Bundestag und in der Fraktion. Die werden nur leider nicht immer befolgt.

tipBerlin Dabei gelten Sie für manche als moralische Instanz der Grünen.

Hans-Christian Ströbele Ich bin keine moralische Instanz! Ich versuche mich entsprechend der Grundsätze, die ich habe und die ich für richtig halte, zu verhalten. Gerade in der Opposition ist das natürlich einfacher, als wenn man die Mehrheit der eigenen Regierung bedroht.

Kriegsgegner Ströbele: „Als junger Mann bei der Bundeswehr konnte ich gut schießen“

tipBerlin Ende 2001 hätte Ihr „Nein“ gegen den Nato-Einsatz in Afghanistan beinahe Gerhard Schröders Kanzlerschaft beendet.

Hans-Christian Ströbele Da waren die Grünen Regierungspartei. Später in der Opposition habe ich nicht eingesehen, warum ich, nur um Geschlossenheit zu demonstrieren, entgegen meiner Meinung abstimmen soll. Da sagen manche: Der ist so verbohrt! Nein. So müsste eigentlich Demokratie funktionieren.

tipBerlin Dabei sollen Sie als junger Mann bei der Bundeswehr ein ganz passabler Schütze gewesen sein.

Hans-Christian Ströbele Sogar Meisterschütze. Ich habe sogar einen Preis gewonnen. Ich konnte gut schießen. Mit der Flak besonders gut.

tipBerlin Ist es irgendwie doch geil, manchmal eine Waffe in der Hand zu halten?

Hans-Christian Ströbele Als Junge, beim Indianerspielen! Später hatte ich auch ein Luftgewehr. Danach sogar ein Kleinkalibergewehr. Das war erlaubt, als 18-Jähriger konnte man sowas kaufen. Wegen eines Kleinkalibergewehrs im Auto bin ich als argloser Student sogar mal auf der DDR-Transitstrecke von Berlin nach Helmstedt bei der Grenzkontrolle abgeführt worden. Ich wusste gar nicht, dass in Berlin zu dem Zeitpunkt nach alliiertem Recht die Todesstrafe auf Waffenbesitz stand.

tipBerlin Was bitte wollten Sie mit einem Gewehr in West-Berlin anstellen?

Hans-Christian Ströbele Ich dachte: Hier kann man im Grunewald auf Zielscheiben schießen. Die Vopos vermuteten, ich sei ein Mörder, der in der DDR Leute umbracht hat. Sie haben die ganze Strecke der Autobahn abtelefoniert, ob irgendwas passiert war. Schließlich haben sie mich und meinen Freund weiterfahren lassen, aber ohne Gewehr. Ich habe später beim Innenministerium der DDR beantragt, es mir wieder auszuhändigen.

tipBerlin Haben Sie die Knarre zurückbekommen?

Hans-Christian Ströbele Nee.

Fahrradfahrer Ströbele: Zweimal das geklaute Rad zurückbekommen

tipBerlin Haben Sie mittlerweile mehr Vertrauen zur deutschen Polizei als vor 50 Jahren?

Hans-Christian Ströbele Bestimmt. Ich habe einen anderen Blick auf die Polizei. Kürzlich in Hamburg bei einer Veranstaltung mit dem Bundesvorsitzenden der Kriminalpolizeigewerkschaft waren wir uns einig, dass mehr Schutzmänner auf die Straße müssen.

tipBerlin Waren die von der Kripo überrascht?

Hans-Christian Ströbele Nee, das ist schon lange grüne Forderung. Natürlich gibt es im täglichen Leben Situationen, wo die Leute zu Recht sagen: Ich brauche schnell Hilfe. Ich fahre nachts oft BVG. In der Bahn oder auf dem Bahnsteig bin ich dann allein. Da hätte ich gern Hilfe im Notfall.

Radfahrer Ströbele 2013: Blumen für die Polizei. Foto: Imago/CommonLens

tipBerlin Tatsächlich sind Sie auch, als Ihr Fahrrad mal geklaut wurde, zur Polizei gegangen.

Hans-Christian Ströbele Als die mich angerufen haben und sagten: Wir haben das Rad gefunden, da habe ich denen sogar einen Blumenstrauß vorbeigebracht.

tipBerlin Wie alt war Ihr Fahrrad doch gleich?

Hans-Christian Ströbele Es ist 19 Jahre alt. Ich habe mir noch ein Damenfahrrad gekauft, weil ich Schwierigkeiten habe, über die Stange zu kommen.

tipBerlin Beim zweiten Mal wollten Sie die Videoüberwachungsbilder vom Eingang der Bundestagsverwaltung sehen.

Hans-Christian Ströbele Mein Fahrrad ist wahrscheinlich das einzige in Berlin von den Zehntausenden, die jedes Jahr geklaut werden, das ich zweimal wiederbekam. Es stand am Osteingang des Reichstages. Ich musste zu einer Abstimmung, bin hochgerannt, kam zurück. Da war das Rad weg. Ein Kollege, dem ich was vorgejammert habe, hat mich auf die Kameras hingewiesen. Da bin ich zur Polizeistelle des Bundestags. Die haben gesagt: Die sind nicht in Betrieb.

tipBerlin Hatten Sie das Rad angeschlossen?

Hans-Christian Ströbele Nee. Ich war der Meinung, das ist eine ehrliche Ecke.

tipBerlin Wie haben Sie das Rad wiedergekriegt?

Hans-Christian Ströbele Damals kannte ich die Fahrradkuriere. Die kamen überwiegend aus Kreuzberg. Ich habe ihnen Flugblätter gegeben, da war ein Foto vom Fahrrad drauf und eine Beschreibung, und gesagt: Ihr kommt doch überall rum, könnt ihr nicht mal gucken? Und vier, fünf Tage später klingelt mein Handy: Wir haben dein Fahrrad gefunden – auf einem Flohmarkt in Kreuzberg.

tipBerlin Sie verblüffen uns doppelt. Erstens: Ein revolutionär gestimmter Ur-Grüner hält ausgerechnet das Parlament für eine ehrliche Ecke. Zweitens: Und der ruft auch noch nach Videoüberwachung!

Hans-Christian Ströbele Ich habe nicht danach gerufen. Bei Wahlveranstaltungen der Kanzlerin war das ihr Running-Gag: Der Ströbele ist gegen Videoüberwachung. Aber wenn es ihn selber betrifft, sein Fahrrad, dann will auch er Videoüberwachung. Ich habe nie gesagt, dass ich Videoüberwachung will. Aber wenn die sowieso da war…

Hans-Christian Ströbele über Politiker-Kollegen: Merkel, Kretschmann, Waigels Augenbrauen

tipBerlin Zu Angela Merkel haben Sie ansonsten kein inniges Verhältnis?

Hans-Christian Ströbele Nein, überhaupt nicht. Ich habe mit Angela Merkel, glaube ich, die meisten Worte gewechselt, als sie im Untersuchungsausschuss war.

tipBerlin Und Sie und Kretschmann?

Hans-Christian Ströbele Den kenne ich, soweit ich erinnere, auch nur vom Sehen.

tipBerlin Jemals mit Theo Waigel über Augenbrauen philosophiert?

Hans-Christian Ströbele Nee. Aber ich sehe, dass er dunklere hat, aber nicht so mächtige wie ich.

Snowden-Unterstützer Ströbele: Stolz wie Bolle. Foto: Imago/Eventpress Rekdal

tipBerlin Jemals das Handy verloren?

Hans-Christian Ströbele Nee, noch nicht. Gott sei Dank.

tipBerlin Grauenvolle Vorstellung, oder?

Hans-Christian Ströbele Nachdem ich bei Snowden war, habe ich mein Handy immer in den Kühlschrank getan, das tue ich jetzt schon nicht mehr. Snowden rät, das Handy möglichst wenig bei sich zu tragen.

tipBerlin Sie dagegen haben den Whistleblower Edward Snowden in Moskau besucht. Klassischer Ströbele-Coup, oder?

Hans-Christian Ströbele Nö. Damals kam aus Bundesregierung: Wir wissen gar nicht, was das soll. Ob Snowdens Dokumente echt sind. Ob der die nicht selber hergestellt hat. Diese Tausenden oder Millionen von Dokumenten. Da habe ich gesagt: Der Mann ist zwei Flugstunden entfernt. Warum fliegt denn da keiner hin und fragt? Der Generalbundesanwalt oder meinetwegen jemand aus dem Innenministerium. Keiner hat’s gemacht. Irgendwann habe ich gedacht: Wieso fliege ich eigentlich nicht selbst?

tipBerlin Aber Sie waren schon stolz wie Bolle, als Sie hinterher bei der Pressekonferenz saßen und einen Brief von Snowden präsentierten?

Hans-Christian Ströbele Natürlich.

Hans Christian Ströbele in seinem Büro im Interview, 2017: „Natürlich bin ich eitel.“ Foto: F. Anthea Schaap

tipBerlin Sind Sie eitel?

Hans-Christian Ströbele Ja klar. Wer ist das nicht? Natürlich bin ich eitel. Ich sage sogar, so ein Erfolg wirkt wie Lebenselixier. Oder wenn Leute mich auf der Straße ansprechen: Du machst gute Arbeit! Leute, die ich gar nicht kenne und wo ich nicht weiß, wessen Geistes Kind die sind. Das passiert mir ja Gott sei Dank häufiger.

Ströbeles Abschied aus der Politik im Herbst 2017: „Ich will mich weiter einmischen“

tipBerlin Ist Politik Ihre Droge?

Hans-Christian Ströbele Es kann zuweilen was davon haben.

tipBerlin Brauchen Sie ab Oktober (nach dem Abschied aus dem Bundestag im Herbst 2017, Anm. d. Red.) einen Entzug?

Hans-Christian Ströbele Ich hoffe nicht. Im Augenblick ist es so, dass ich gar nicht daran denke, weil ich noch so viel zu tun habe. Ein Zwölf- bis 14-Stunden-Tag in Sitzungswochen. Da komme ich an die Grenze meiner Leistungskraft. Deshalb habe ich gesagt: Das nochmal viereinhalb Jahre zu machen ist mir zu stressig. Ich werde weiter politisch tätig sein, ich will mich weiter  einmischen. Aber es gibt im Bundestag auch viele Pflichttermine, da frage ich mich hinterher: Warum habe ich zwei, drei Stunden da gesessen?

tipBerlin 14-Stunden-Tage müssen wir jungen Dinger aber auch nicht mehr dauernd haben.

Hans-Christian Ströbele Natürlich bin ich im Alter nicht mehr so leistungsfähig. Rein körperlich.

tipBerlin Und dann gucken Sie die Debatten auf Phoenix und ärgern sich, dass Sie nichts dazwischenrufen können.

Hans-Christian Ströbele Das stimmt, das stimmt (lacht)! Oder Zwischenfragen stellen! Ich konnte früher abends beim Fernsehen gleichzeitig einen Schriftsatz machen, auch als Anwalt. Kann ich alles heute nicht mehr. Alles dauert länger. Ich vergesse auch vieles. Das Namensgedächtnis! Aber das sind Defizite, die sich einschleichen. In meinem Alter waren die Leute vor 200 Jahren alle längst tot.

  • Hans-Christian Ströbele, am 7. Juni 1939 in Halle an der Saale geboren, verstarb am 29. August 2022 in seiner Wohnung in Berlin-Moabit. Er wurde 83 Jahre alt. Dieses Gespräch erschien ursprünglich im Juni 2017 in der ZITTY.

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