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Kommentar

CSD Berlin: Neue Pride 2020 – Warum es so wichtig ist, gerade jetzt auf die Straße zu gehen

Die beste Nachricht dieser Tage: Der CSD in Berlin findet am 27. Juni 2020 statt, ab 12 Uhr, unter dem Motto: „Pride Berlin: Save our Community, Save our Pride”. Das ist super. Ist nicht sowieso jedes Jahr Christopher Street Day? Jein. Ein Kommentar von Stefan Hochgesand.

Damals in der Vor-Corona-Zeit, Schwule und Lesben ziehen 2019 zum CSD durch Berlin.
Damals in der Vor-Corona-Zeit, Schwule und Lesben ziehen 2019 zum CSD durch Berlin. Foto: Imago/snapshot-photography/F.Boillot

„Den“ Christopher Street Day gibt es nämlich gar nicht, sondern jede Stadt hat ihr eigenes (jährlich leicht wechselndes Datum). In Berlin lag dieses Datum zuletzt, im internationalen Vergleich, sehr spät, nämlich erst Ende Juli. Das hatte mal was damit zu tun, dass der CSD nicht am selben Tag sein sollte wie die Fußball-Fanmeile; und wurde dann einfach so beibehalten, gemäß der Devise: „Fußball first, und die Homos kommen dann halt irgendwann später, wenn gerade Platz ist und sie nicht weiter stören.“ Nicht gerade der Spirit, aus dem der CSD einst entstanden ist. 

Christopher Street Day, aha, gibt’s keine wichtigeren Anliegen zurzeit? Das ist immer die „beste“ Ausrede, denn irgendein Anliegen lässt sich natürlich immer finden, das irgendwie „noch wichtiger“ wäre. Meistens von denjenigen Couchpotatoe-Besserwisser*innen als Einwand herbeifabuliert, die sich dann am Ende überhaupt nicht engagieren, auch nicht bei den vermeintlich „noch wichtigeren“ Themen. Tatsächlich aber brauchen wir genau jetzt einen CSD. Wieso? 

Der CSD in Berlin ist eben kein Volksfest

Der CSD ist eben kein Volksfest, sondern eine politische Demonstration – auch wenn das manche Menschen nicht verstanden haben. Wozu muss man demonstrieren, die Homos können doch inzwischen heiraten? Können die nicht mal Ruhe geben jetzt? Auf keinen Fall. Dass durch ein wahlkampftaktisches Manöver der CDU (die SPD hätte ihr ansonsten die Große Koalition verweigert) 2017 die Ehe für Alle geöffnet wurde (Angela Merkel hat übrigens dagegen gestimmt), ändert nicht so viel an der gesamtgesellschaftlichen Lage: Queerphobe Gewalt nimmt zu, auch in Berlin.

Das Problem dabei sind nicht „die Migranten“

Wie oft sieht man eigentlich sich küssende oder händchenhaltende Queers an einem normalen Tag in Berlin, gemessen daran, dass in Berlin mehr als jede zehnte Person queer ist? Ganz schön selten, denn er herrscht, nach wie vor, ein Klima der der Scham und der Angst. Das Problem dabei sind nicht „die Migranten“; denn wer glaubt, Deutschland wäre vor 2015 oder in den 1980ern oder in den 1940ern (die Nazis brachten Schwule ins Konzentrationslager) queerfreundlicher gewesen, lebt in Schlaraffenland.  

Gerade diese Woche ging ein Fall durch die sozialen Medien, bei dem ein junger Mann in Deutschland eine Regenbogenmaske trug: „Ich war grade mit meiner Maske im Supermarkt“, postete er, samt Foto, „als mich eine alte Frau am Arm gepackt hat, mir meine Maske vom Gesicht gerissen hat und gesagt hat: Solche Schwuchteln können an Corona sterben.“ Ein Einzelfall, könnte man meinen (und hoffen), aber in jedem Fall ein Fall zu viel.

„Wollen Sie ein solches Russland?“

In Russland ist gerade ein Videoclip in Umlauf, der Werbung für die Verfassungsänderung macht, die es Präsident Putin faktisch ermöglicht, bis 2036 zu regieren. Stimmung gemacht wird in dem Video mit einem karikierten schwulen Paar, das ein Kind aus dem Waisenhaus adoptiert. „Wollen Sie ein solches Russland?“ Eine der Waisenhausfrauen spuckt angeekelt auf den Boden. 

Russland, zwar das größte Land der Welt, aber weit weg, könnte man sagen. Was passiert in unseren netten EU-Partnerländern gerade, zum Beispiel in Ungarn? Die Regierung verweigert neuerdings trans Menschen ihren juristischen Status. Was passiert in Polen, hundert Kilometer vor Berlin? Kommunen deklarieren sich zu „LGBT-freien Zonen“, also: Hier haben keine Queers mehr zu leben. Wie lang soll das noch so weitergehen, bis wir aufwachen? Es wir nicht zu viel über queere Themen gesprochen, sondern noch viel zu wenig. 

Polnische Aktivistinnen protestieren am 8.März in Krakau gegen die „LGBT-freien Zonen“.
Polnische Aktivistinnen protestieren am 8.März in Krakau gegen die „LGBT-freien Zonen“. Foto: Imago/ZUMA Wire

Wir brauchen einen CSD, der für Menschenrechte steht. Das konnte man in den letzten Jahren in Berlin auch nur bedingt sagen: Da fuhren so problematische Trucks mit wie der der Deutschen Bank (einem der wichtigsten Sponsoren des letzten Trump-Wahlkamps) und der von Siemens (die viel Geld verdienen mit Technik fürs Foltergefängnis Guantanamo Bay). Zum Beispiel. Der offizielle CSD-Verein hatte seine CSD-Parade 2020 abgesagt, als es aufgrund der Corona-Regelungen unrealistisch schien, dass man sie im üblichen Maßstab durchführen könne.

Ein ins Digitale verlagerter CSD ohne Demonstration ist unsichtbar

Da folgte gleich Kritik aus der Community, ein ins Digitale verlagerter CSD ohne Demonstration, sei unsichtbar. Denn klar, der CSD lebt auch davon, dass Leute ihm im öffentlichen Stadtbild zufällig begegnen – und ins Grübeln geraten. Leute, die niemals absichtlich auf einen CSD-Stream klicken würden. 

Dass die CSD-Parade abgesagt wurde, war wohl ein dummer Zufall, ist nun aber eine riesige Chance: Denn ohne die kommerziellen Sponsorentrucks kann der Berliner CSD 2020 sich auf seine Wurzeln und seinen Kern besinnen, abseits aller Loveparade- und Volksfeststimmung: zu erinnern an die Stonewall Riots in der New Yorker Christopher Street Ende Juni 1969. Ein Schlüsselereignis der Bürgerrechtsbewegung. Queers, allen voran schwarze trans Frauen of Color, haben sich die Schikanen und Drangsal der Polizeigewalt nicht mehr gefallen lassen, sondern sich gewehrt. 

Bei den Protesten standen Queers und People of Color, Seite an Seite

Damals standen Queers und People of Color, Seite an Seite. Die Stonewall Riots 1969 sind ein wichtiges Symbol, um sich, nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten, zu besinnen auf Solidarität. Auch Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen, die unter verschiedenen (aber eben doch miteinander verzahnten) Formen gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit leiden und nicht länger leiden sollten. Black Lives Matter. Queer Lives Matter. (Dass auch weiße Heteroleben zählen, versteht sich eh von selbst, und das hatte auch niemand angezweifelt, weshalb es nicht ständig neu betont werden muss.) 

Dass die CSD-Demonstration am 27. Juni aus einem Team rund um den Queer-Aktivisten Nasser El-Ahmad organisiert wurde, macht Mut, denn der junge Mann hat nicht bloß eine Energie, die an den jungen Queer-Aktivisten und Poltiker Harvey Milk aus dem San Francisco der 1970er erinnert, sondern er denkt (nicht zuletzt, weil seine Familie aus dem Libanon stammt) intersektional. Und im Facebook-Event zur Demonstration wird auch klar, dass konkret politisch demonstriert werden soll, etwa gegen besagte „LGBT-freie Zonen“ in Polen. Wichtig, dass das auch hier in Berlin, unweit der polnischen Grenze passiert. In Solidarität für jene CSDs in Polen, die mitunter durch Steinwürfe attackiert wurden 2019. 

Stonewall Riots an der New Yorker Christopher Street

Auf den politischen CSD 2020 kann man sich sogar als Couchpotatoe prima vorbereiten: Empfohlen seien hier der essayistische Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ über den schwulen, schwarzen Schriftsteller James Baldwin, zu sehen im Salzgeber Club. Bei Netflix gibt’s den Dokumentarfilm „The Death and Life of Marsha P. Johnson” über die gleichnamige schwarze trans Aktivistin, die bei den Stonewall Riots an der New Yorker Christopher Street 1969 ganz vorne dabei war.

Am 27. Juni heiß es dann aber: raus auf die Straße und Pride zeigen! Stolz nicht in dem Sinne, dass man als Queer besser wäre denn als Hetero. Aber Pride in dem Sinne, dass man sich aller Feindlichkeit um einen herum als Queer seine Menschlichkeit bewahrt hat. Dass dazu 2020 auch Abstand und Masken gehören, um niemanden zu gefährden, dessen Immunsystem geschwächt ist, das versteht sich eigentlich von selbst. 


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