Juni ist Pride-Saison – in Berlin traditionell erst im Juli. Doch dieses Jahr herrscht keine Feierstimmung. Stattdessen spüren viele in der queeren Community wachsenden Gegenwind. Politische Repressionen nehmen zu – in den USA, aber auch hier in Deutschland. Und: Queerness ist nicht mehr cool.

„Es war ja nur eine Phase“ – Pop, Pride und der Rückzug aus der Sichtbarkeit
An sich nichts Ungewöhnliches – wären beide nicht vor allem als Pop-Ikonen der lesbischen Community bekannt. Mit Songs über Beziehungen zu Frauen, weiblichen Love Interests in ihren Musikvideos, und einer Fanbase, die überwiegend aus jungen, weiblich gelesenen queeren Menschen besteht. Zu beobachten war das noch im vergangenen Jahr bei Fletchers Berlin-Konzert im Tempodrom.
Pünktlich zum Pride Month sorgen dieses Jahr gleich zwei queere Popstars für Aufregung in ihren Communities. Zuerst betrog die US-amerikanische Sängerin JoJo Siwa ihre Freundin – im Big Brother House, vor laufenden Kameras – mit einem britischen Schauspieler. Kurz darauf veröffentlichte Singer-Songwriterin Fletcher Anfang Juni ihren neuen Song „Boy“, eine schmachtende Ballade darüber, dass sie sich in einen Mann verliebt hat.
Zusätzlich löschte Fletcher alle bisherigen Instagram-Posts und stellt sich fortan unter ihrem bürgerlichen Vornamen Cari vor – als wolle sie der Welt sagen: Schaut, jetzt zeige ich euch mein wahres Ich! Ein öffentlichkeitswirksames Rebranding.
Auf TikTok wird nun heftig diskutiert: Die eine Seite zeigt sich enttäuscht, die andere wirft den Kritiker:innen Bifeindlichkeit vor. Klar: Niemand schuldet der Öffentlichkeit Erklärungen zu ihrer Sexualität, und eine bisexuelle Frau ist nicht weniger queer, wenn sie einen Mann datet. Man kann sich zwar fragen, ob Fletcher extrem schlechte PR-Beratung hat (mal ehrlich, welche hetero Person kennt Fletcher überhaupt? Wer soll den neuen Merch mit „Boy“-Schriftzug kaufen?).
Aber was auf den ersten Blick nach typischem Popkultur-Drama klingt, steht in Wahrheit für einen größeren kulturellen Shift: Queerness ist nicht mehr angesagt.
Das Ende des „Rainbow Washing“
In den vergangenen Jahren wurde zu Recht kritisiert, wie Konzerne im Pride Month mit Regenbogenlogos und queerer Symbolik um sich werfen, während sie das restliche Jahr über schweigen – oder sogar queerfeindliche Politik indirekt unterstützen. Pride, das war schließlich mal ein Protest. Eine Revolte gegen staatliche Gewalt, angeführt von Aktivist:innen wie der Schwarzen trans Frau Marsha P. Johnson. Die Stonewall Riots 1969 waren keine Straßenparty mit Britney-Soundtrack. Es war ein Aufstand gegen die Polizei.
Diese historische Dimension geriet in den letzten Jahren fast in Vergessenheit – vor allem in Großstädten wie Berlin, wo in vielen Bubbles Queerness so allgegenwärtig ist, dass es fast schon seltsam scheint, nicht zumindest ein bisschen bi zu sein.
Doch das war immer nur ein Teil der Realität. Wer mal aus dem S-Bahn-Ring rausfährt, merkt schnell: Sichtbarkeit schützt nicht überall. Besonders im Osten kam es bereits letzten Sommer bei CSDs immer wieder zu Aufmärschen von rechten Gruppierungen.
Und jetzt? Jetzt dreht sich der Wind tatsächlich gewaltig.
Der Rechtsruck macht sich bemerkbar, wenn Unternehmen, die sonst jede Diversity-Kampagne mitgenommen haben, 2025 lieber still darauf verzichten, aus Angst vor Shitstorms und wirtschaftlichen Einbußen. Er macht sich bemerkbar, wenn queeren Projekten wie dem Queer History Month vom Berliner Senat die Förderung entzogen wird. Und er spiegelt sich eben auch in popkulturellen Trends wider.
Marit Blossey
Um das zu erkennen, muss man nicht in die USA schauen – wo die Zeichen natürlich längst auf Sturm stehen. Gleich nach seinem Amtsantritt im Januar legte Donald Trump per Dekret fest, dass in den USA nur noch zwei Geschlechter anerkannt sind; das Auswärtige Amt hat inzwischen eine Reisewarnung für trans Menschen mit geändertem Geschlechtseintrag im Pass ausgesprochen.
Pride Month in Berlin: Die Solidarität bröckelt
Und in Deutschland? Ein queeres Stadtfest in Bad Freienwalde wurde im Juni von Rechten überfallen, mehrere Menschen wurden verletzt. Der CSD in Gelsenkirchen musste im Mai wegen Bedrohungslage abgesagt werden. Während die letzte Bundesregierung sich noch mit dem (umstrittenen) Selbstbestimmungsgesetz rühmte, kündigte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner an, zum Berliner CSD werde keine Regenbogenflagge am Bundestag gehisst. Außerdem untersagte die CDU-Politikerin dem queeren Mitarbeitenden-Netzwerk der Bundestagsverwaltung die Teilnahme an der Parade und begründete diese Entscheidung mit „politischer Neutralität.”
Damit signalisiert Klöckner: Support für LGBTQ+-Rechte ist politisch nicht neutral, kein gesellschaftlicher Konsens. Queerness ist wieder wirklich politisch. Und in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks scheint vielen der Preis der Solidarität zu hoch.
Der Berliner CSD e.V. machte Ende April öffentlich, dass für die diesjährige Pride rund 200.000 Euro Sponsorengelder weggebrochen seien. „Insbesondere amerikanische Unternehmen ziehen sich aus der Pride-Förderung aufgrund des politischen Drucks zurück, aber auch deutsche Unternehmen sind zurückhaltender”, schrieben die Veranstalter:innen auf Instagram.
Der Rechtsruck macht sich bemerkbar, wenn Unternehmen, die sonst jede Diversity-Kampagne mitgenommen haben, 2025 lieber still darauf verzichten, aus Angst vor Shitstorms und wirtschaftlichen Einbußen. Er macht sich bemerkbar, wenn queeren Projekten wie dem Queer History Month vom Berliner Senat die Förderung entzogen wird. Und er spiegelt sich eben auch in popkulturellen Trends wider.
Queerness ist keine Phase
Dass Popstars wie Fletcher oder JoJo Siwa, die sich jahrelang als queere Vorbilder inszeniert haben, sich in diesem Moment zurückziehen, ist symptomatisch für den Shift, den wir gerade erleben. Wer über Jahre hinweg queere Sichtbarkeit monetarisiert und damit Reichweite generiert, trägt auch Verantwortung – gerade in Zeiten, in denen queeres Leben wieder verstärkt angegriffen wird. Wer sich dieser Verantwortung entzieht, hilft dabei, das Klima des Rückschritts weiter zu normalisieren. Und durch die öffentliche Darstellung ihrer neuen Beziehungen bedienen beide – bewusst oder nicht – ein altes Stereotyp: „Lesbisch? Wart’s ab, bis der richtige Mann kommt.”
Dabei ist Queerness kein Trend, kein Lifestyle-Accessoire. Sie ist Teil gesellschaftlicher Realität – auch außerhalb des Berliner Rings, auch jenseits von TikTok, auch wenn es gerade unbequem ist. Pride bedeutet 2025 mehr Protest als Pop und Party.
Mehr queere Themen
Regenbogen statt Rückschritt: Hier gibt’s die CSD-Saison 2025 in Brandenburg im Überblick. Feiert die lesbische Liebe: Die Berliner Rapperin Ebow im Porträt. Im Interview mit tipBerlin erzählen die Gründer:innen, warum „Lemonade Queers“ mehr ist als nur eine Party. Queer gegen Rechts: Die Community in Brandenburg wehrt sich. Wir waren vor Ort. Lust auf queere Bars in Berlin? Hier stoßt ihr auf mehr Vielfalt an. Im Kiez unterwegs? Das queere Neukölln haben wir hier im Blick. Wer wissen will, welche Bedeutung die Clubkultur für die queere Community heute noch hat, wird hier fündig. Wer als Flinta* noch tiefer ins Nachtleben eintauchen will, kann sich bei dem Berliner Kollektiv Femme Bass Mafia das Auflegen lernen. Und zu guter Letzt: Ein groben Überblick über queere Orte in Berlin, von Clubs und Bars, bis hinzu Buchhandlungen und Shops. Was ist sonst los? Die Highlights im Juli in Berlin haben wir hier für euch.