In Brandenburg gab es dieses Jahr so viele CSDs wie noch nie – als Protest gegen den wachsenden Einfluss der Rechten. Fast jede Demonstration wurde von rechtsextremen Gruppierungen bedroht. Wie geht es queeren Menschen vor Ort? Wir waren in Oranienburg unterwegs und haben mit Menschen gesprochen, die sich engagieren, um dem Einfluss von Rechts etwas entgegenzusetzen.
Queere Lebensrealitäten in Brandenburg: Herausforderungen und Kampfgeist
Rote, gelbe, grüne, blaue Farbe stehen im Oranienwerk auf dem Tisch. Mit einer Siebdruckmaschine werden in Höchstgeschwindigkeit T-Shirts mit Regenbogenfarben verschönert. Vorbereitungen für den CSD Oberhavel, der hier in Oranienburg am 21. September zum zweiten Mal stattfand. Einer von zwölf CSDs, die es in den letzten Monaten in Kleinstädten überall in Brandenburg gab, viele davon zum ersten Mal. Ein Zeichen für die Vielfalt und Sichtbarkeit queerer Communitys in ländlichen Regionen – und Protest gegen eine Gesellschaft, die immer weiter nach rechts abdriftet.
Die Vorurteile gegenüber der Community sind groß und zeigen sich zunehmend in offenem Hass. Im vergangenen Jahr verbreitete die rechtsextreme Partei „Der Dritte Weg“ queerfeindliche Flyer entlang der Demo-Route, vor dem Veranstaltungsort wurde „AfD“ auf den Boden gesprüht.
Die Räume im Oranienwerk, einem Kulturzentrum im Inneren der Stadt, sind einer der wenigen Orte in Oranienburg, an denen eine Regenbogenfahne sichtbar hängt. Hier hat der Verein Kids Kreativ seine Räumlichkeiten: Der Verein bietet nicht nur Freizeitprogramm für alle Altersgruppen an, sondern auch Weiterbildungen zu Themen wie Prävention von sexualisierter Gewalt, Vielfalt, Umgang mit Verschwörungstheorien, Suchtprävention und Empowerment von Mädchen und LGBTQ+. Nur: Dafür Fördergelder zu erhalten, das wird immer schwieriger, berichtet Organisatorin Susann Kerk.
Dabei sind Orte wie dieser besonders im ländlichen Raum wichtig, um Sichtbarkeit und Unterstützung für queere Jugendliche zu gewährleisten.
Oranienburgs Stadtzentrum ist überschaubar, man kennt sich. Wenige hundert Meter entfernt liegt die Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen: Allein im Sommer 1942 wurden hier mehr als Hundert Rosa-Winkel-Häftlinge von den Nazis ermordet.
Auf dem Schlossplatz läuft eine Podiumsdiskussion zwischen Mitgliedern der Parteien Werteunion, dieBasis und AfD. Es geht um Corona, von weitem sind etliche Deutschlandfahnen zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite: fünf junge Gegendemonstrant:innen mit auffälliger Regenbogenfahne.
Rechte Hetze: LGBTQ+ wird zum Feindbild gemacht
„Leute in unserem Umfeld, die noch zur Schule gehen, sagen: Die Hälfte meiner Mitschüler:innen sind jetzt Nazis“, berichten Ly, 22, und Wiebke, 20, und schütteln ungläubig, aber auch abgeklärt den Kopf. Sie zeigen sich kämpferisch, doch die Unsicherheit für queere Menschen in Oranienburg ist greifbar.
Die Stimmung in Brandenburg habe sich deutlich verschärft, berichtet Jirka Witschak von der Landeskoordinierungsstelle Queeres Brandenburg am Telefon. Rechte Propaganda hat es geschafft, LGBTQ+-Personen als Feindbilder zu instrumentalisieren. Eine generelle Unzufriedenheit mit dem Staat – Stichwort: Corona – werde nun in der Ablehnung queerer Themen und Identitäten sichtbar.
Was kann man diesen Entwicklungen entgegensetzen? Die vielen neuen CSDs in diesem Jahr waren ein Versuch. „Der CSD bleibt eine politische Forderung, die an den Stonewall-Aufstand erinnert: Keine Diskriminierung durch Polizei, Staat, Menschen oder Parteien“, sagt Candy Boldt-Händel, der den CSD Oberhavel 2023 initiierte. Ihn beschäftigt, wie sehr es an Angeboten für die Community in der Region mangelt: Es fehlen sichtbare, sichere Räume für queere Personen, wie sie in Berlin existieren. Es gibt kein queeres Nachtleben, keine Beratungsstellen oder spezialisierte Ärzte, was den Zugang zu wichtigen Informationen und Gesundheitsdiensten erschwert. Viele queere Menschen verlassen Brandenburg, ziehen früher oder später nach Berlin. Und die, die bleiben?
Präsenz zeigen mit Queers aus Berlin
Rund 250.000 Menschen besuchten die Berliner CSD-Parade in diesem Jahr; in Köln zählten die Veranstalter:innen sogar rund 1,2 Millionen Teilnehmende. Bei Pride-Veranstaltungen in Brandenburg finden sich in der Regel ein paar Hundert Menschen zusammen. Hier auf die Straße zu gehen, wo man nicht in der Masse untergeht und es nicht nur Gegenwind, sondern eine direkte Bedrohung gibt, das erfordert Mut.
Immer häufiger riefen in diesem Jahr deshalb auch Menschen aus Berlin dazu auf, die CSDs in Brandenburg zu besuchen. Vor dem Hintergrund der drei Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen entstand die Initiative „Pride Soli Ride“, die über den Sommer hinweg Fahrten aus Berlin zu CSDs in ostdeutschen Kleinstädten organisiert hat. Das Ziel: die Menschen vor Ort zu unterstützen und Solidarität zu zeigen.
Die Demos, die er in Brandenburg in diesem Sommer miterlebt hat, haben ihn tief beeindruckt, erzählt Lenard Pfeuffer, der die Soli-Fahrten mitorganisiert hat. „Der Vibe ist ganz anders, viel kämpferischer, politischer.“ Eine Abwechslung zu den großen Party-CSDs in der Stadt, findet der 25-Jährige. „Es wäre ein starkes Zeichen, wenn große CSDs wie der Berliner CSD aktiv zur Teilnahme an kleineren Veranstaltungen aufrufen würden“, findet Candy Boldt-Händel. Hier ist ihre Sichtbarkeit nicht nur umso wertvoller – in der Unterzahl zu sein, ist schlicht gefährlich.
Bedrohung von Rechts: Auf die Polizei ist nicht immer Verlass
Von Anfang an hätten Rechtsextreme bei jedem CSD versucht, eine Drohkulisse aufzubauen und die Veranstaltung zu stören, berichtet Pfeuffer: „In jeder Stadt kam es zu verbalen Angriffen und manchmal sogar zu körperlichen Attacken.“ Laut Pfeuffer sei dabei auf die Polizei oft kein Verlass, um den Schutz der Veranstaltung sicherzustellen. Bei vielen Demonstrationen seien die Aufgebote stark unterbesetzt gewesen.
Oft bleibt das Gefühl, dass die Community sich selbst schützen muss. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Queers aus Berlin sich mit den CSDs in Brandenburg solidarisieren: Jede Person könne einen Unterschied machen, um Übergriffe und physische Gewalt zu verhindern. Nun sollen weitere Vernetzungstreffen zwischen queeren Soli-Gruppen aus Stadt und Land auf die Beine gestellt werden. In der Hoffnung, in Zukunft noch stärkere Allianzen bilden zu können – denn dass es nach der Landtagswahl für die queere Community in Brandenburg im nächsten Sommer sicherer wird, daran glaubt in Oranienburg niemand.
Beim CSD am 21. September, einen Tag vor der Wahl, ist die Stimmung in Oranienburg trotzdem ausgelassen. Die angekündigte rechte Gegendemonstration fällt mit etwa 40 Teilnehmenden kleiner aus als erwartet, während rund 1000 bunt gekleidete Oranienburger:innen und Besucher:innen bei strahlendem Sonnenschein durch die Straßen ziehen. Mariah Carey und Madonna schallen laut aus den Boxen. Nur für wenige Augenblicke ist es ganz still, als Vertreter der Gedenkstätte zu einer Schweigeminute aufrufen und in einem kurzen Redebeitrag an die queeren Opfer des Konzentrationslagers Sachsenhausen erinnern. Man wünscht sich, ihre Worte würden die Richtigen erreichen.
Mehr zur queeren Community
Ob in der Neuköllner Queer-Bar oder im Berghain-Darkroom: In vielen Räumen der queeren Community sind wie selbstverständlich Alkohol und Drogen im Spiel. Bei „Lemonade Queers“ im SchwuZ wird hingegen nüchtern gefeiert. Im Interview mit tipBerlin erzählen die Gründer:innen, warum „Lemonade Queers“ mehr ist als nur eine Party. Lust auf queere Bars in Berlin? Hier stoßt ihr auf mehr Vielfalt. Im Kiez unterwegs? Das queere Neukölln haben wir hier im Blick. Von Party bis Politik: Event-Highlights im Pride Month. Wer wissen will, welche Bedeutung die Clubkultur für die queere Community heute noch hat, wird hier fündig. Wer als Flinta* noch tiefer ins Nachtleben eintauchen will, kann sich bei dem Berliner Kollektiv Femme Bass Mafia das Auflegen lernen. Mehr über den Begriff Flinta* und Gründe, warum jeder Tag ein feministischer Kampftag ist, könnt ihr hier nachlesen. Und zu guter Letzt: Ein groben Überblick über queere Orte in Berlin, von Clubs und Bars, bis hinzu Buchhandlungen und Shops. Was ist sonst los? Die Highlights im Juli in Berlin haben wir hier für euch.