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Queere Stadtführung

Neue Bartour im Regenbogenkiez: Erst Prosecco, dann Darkroom

Eigentlich haben Frauen hier gar keinen Zutritt, aber es sind besondere Zeiten, und besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Zwei Gäste des „New Action“ in Schöneberg gucken entsprechend irritiert, als sie die Bar betreten und dort nicht nur zehn Männer herumstehen, sondern eben auch eine Dame und Tunte Margot Schlönzke. Aber: Das neue Angebot, Touren durch Berlins berühmten Regenbogenkiez zu unternehmen, steht eben allen offen. Denn es ist wichtig,

Margot Schlönzke auf dem Nollendorfplatz – am „hässlichsten Platz der Stadt“ beginnt die Regenbogen-Bartour durch den Nollendorfkiez. Foto: Scherer

An mehreren Terminen im August und September haben beziehungsweise werden Berliner Tunten Interessierte durch das Areal um den Nollendorfplatz, vor allem über die Motzstraße, führen. Es ist die schwulste Ecke Berlins. Hier gibt es Cafés, Restaurants, aber auch Bars und Clubs, die sich vorrangig – oder eben explizit – an ein männliches Publikum richten. Vor allem in Einrichtungen wie „Bull“, „Scheune“ und „Woof“ geht es dabei oft freizügig zu. Genau wie im „New Action“, einem Treffpunkt für Lederfetischisten (in dem es aber auch Nackt-Partys gibt).

Problem: Seit dem Beginn der Pandemie sind viele Angebote nicht möglich, zudem fehlen die Reisegäste – der Regenbogenkiez hat eine Strahlkraft, die Reisende auf der Suche nach besonderen, oft sexuellen Erlebnissen nach Schöneberg zieht. Das entfällt derzeit weitestgehend. Nun also will der Regenbogenkiez erst einmal stadtintern auf sich aufmerksam machen – und lädt die Menschen ins Viertel, die sonst vielleicht nicht so häufig dort verkehren. Oder sich im Zweifel bisher nicht trauten, bestimmte Läden zu besuchen.

Regenbogenkiez will für sich werben – und Berliner*innen locken

Die Cousins Max Taubert (links) und Jan Kroll betreiben die berühmte „Heile Welt“ an der Motzstraße im Regenbogenkiez – hier trinkt auch mal Politprominenz. Foto: Scherer

Ades Zabel, Biggy van Blond und Margot Schlönzke sind dabei die Gesichter der Tour, wechseln sich ab mit den Führungen. Dabei geht es einerseits um den Besuch von Bars (inklusive einiger Schnäpse), aber auch um die Geschichte und den Einzelhandel, der hier teils seit Jahrzehnten die Kunden mit Büchern, Geschenkwaren, Kleidung versorgt.

Schlönzke ist selbst seit 1983 im Kiez zuhause („dabei bin ich erst 25, ich weiß auch nicht, wie das geht“) und kennt sich entsprechend hervorragend aus. Sie weiß, wo Zara Leander und Marlene Dietrich zum Absacker einkehrten, welche politische Prominenz in der „Heilen Welt“ trinkt (die Namen lässt sie sich allerdings nicht entlocken). Sie berichtet, welche Rolle das Hotel Sachsenhof in „Emil und die Detektive“ spielt. Ein bisschen historischer Gossip, verwoben mit der Geschichte.

Das „El Dorado“ ist legendär – allerdings heute ein Bio-Markt. Früher war hier eine Bar, in der auch Marlene Dietrich gern mal einen trank. Margot Schlönzke kennt die historischen Anekdoten alle. Foto: Scherert

Areal um Nollendorfplatz und Motzstraße lange in schwuler Hand

Das Areal ist seit rund 130 Jahren in vornehmlich schwuler Hand, auch in der NS-Zeit gab es hier Männer-Bars, von den wilden 20ern ganz zu schweigen. Und ein ganz anderes optisches Erlebnis. Gerade der Nollendorfplatz sei besonders gewesen, so Schlönzke, „leider hat Berlin mit den Jahren alles getan, um aus dem schönsten Platz der Stadt den hässlichsten zu machen – das ist gelungen.“

Der Gemeinschaft hat das dagegen nicht geschadet, im Gegenteil, gerade das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo, das auch schon rund 30 Jahre besteht, baut Netzwerke auf und will für Sicherheit im Kiez sorgen mit Präventionsrat und Info-Punkt, mit einem Nachtbürgermeister – auch den besuchen die Teilnehmer.

Nicholas Woods ist Teil des Teams „Nachtbürgermeister“ und sitzt im Info-Point – hier wird auch bei Problemen im Kiez geholfen, finanziert vom Bezirksrat. Foto: Scherer

Denn, auch das verheimlicht Schlönzke beim Rundgang nicht, es ist nicht alles einfach im Kiez. Es gibt Ecken (und Bars, ebenfalls Teil der Tour), die berüchtigt sind. Ein Thema ist dort zum Beispiel die Prostitution: Strichjungen, die sich oft deutlich älteren Männern anbieten. „Die Vergangenheit trifft die Zukunft“, wie Schlönzke es sarkastisch kommentiert. Der noch recht neue Nachtbürgermeister – das Team hat einen Info-Point in einem Tiny House neben der Bar „Tabasco“ – hilft bei Problemen, aber auch gern Gästen und Anwohner*innen bei allen Sorgen. Und hat einen Blick auf die Areale, die, so nennt es Nickolas Woods, der gerade Dienst hat, „vielleicht etwas zu viel Sex, Drugs and Rock’n’Roll sind“.

Bären-Bars, Fetischkleidung aus Rochenleder, Straßenfest

Die Butcherei an der Motzstraße ist in der Fetischszene weltweit bekannt: Kein Wunsch ist zu ausgefallen, das Angebot der Chefs Oliver Eiermann (links) und Marc Lindinger absolutes High-End der Branche. Foto: Scherer

Vorrangig geht es beim Kiezspaziergang aber um die guten Seiten, vor allem auch die Bedeutung für Berlins (und teilweise die globale) schwule Szene. Das „Woof“ gehört zu den besten Bären-Bars der Stadt. Gründer Kim Helling hat den Treffpunkt für Männer, die es haariger und/oder etwas kräftiger im Körperbau mögen, vor 14 Jahren gegründet. „Wir haben Abende, an denen fast nur Englisch gesprochen wird“ – weil das Publikum von weit über die Stadtgrenzen hinaus anreist. Besonders zu Ostern und zum Fetisch-Straßenfest „Folsom“, zu dem jährlich (ohne Pandemie) Zehntausende kommen, um ihren sexuellen Vorlieben zu frönen und besonders viele Partys stattfinden.

In der „Scheune“ geht es härter zu, bei Bedarf. Foto: Scherer

Gleiches gilt für die Kundschaft der Butcherei Lindinger. Hier werden Latex- und Lederbekleidung auf Map produziert. Ob Maske, Krawatte oder oder ganze Marilyn-Monroe-Kleidung aus dem Gummistoff, ob Ganzkörperanzug oder nur ein Armband aus Leder: Höchste Qualität, passgerecht produziert, verspricht Marc Lindinger, der das Geschäft an der Motzstraße mit Oliver Eiermann zusammen betreibt. Hier lassen sich auch mal berühmte Modedesigner eine Jeans-Leder-Wendehose produzieren. Oder ein Kunde ein 15.000-Euro-Kleid aus Rochenleder.

Für Anfänger ist das preislich nichts, erklärt Eiermann. Die Produkte seien am oberen Ende der Skala, weil das Publikum allerbeste Qualität bekomme – „wenn einer kommt und zum Beispiel ein Oberteil haben will, weil er mal was ausprobieren will sexuell – dann rate ich ihm meist dazu, erst einmal woanders was Günstigeres zu kaufen. Denn vielleicht gefällt ihm das, was er vorhat, gar nicht, dann hängt dass 300-Euro-Teil im Schrank.“ Oft genug kämen die Kunden dann doch irgendwann wieder. Weil sie Spaß haben und nun überzeugt investieren können. Wobei die Butcherei längst nicht nur Schwule versorgt.

Weil der Regulärbetrieb in der „Scheune“ gerade ruht, kann Margot Schlönzke ihre Gäste auch mal zum Gyn-Stuhl im Keller mitnehmen. Foto: Scherer

„Unbeleuchtete Keller“ im Kiez – zwischen Prosecco und Hardcore

Das ist beim Angebot der „Scheune“ dann etwas anders, zumindest sind die Gäste hier männlich. Das ist auch der Club, in den Margot Schlönzke, wie ins „New Action“ der weiblichen Teilnehmerin des Spaziergangs exklusive Einblicke gewährt. Denn, wie viele Betriebe, die die Tour an dem Abend erreicht, hat auch die Scheune ein vor allem Schwulensex-orientiertes Publikum – „und einen dieser unbeleuchteten Keller“, sagt Schlönzke. Die Teilnehmenden dürfen bei Licht schauen – an den Ecken stehen Worte wie „Piss“, „Fist“, von der Decke hängt in einem Verschlag eine Lederschaukel zum Reinlegen. Hinten links steht ein Gynäkologenstuhl. Es ist eine spezielle Welt dort unten. Und im Kiez, zwischen Prosecco und Hardcore.

Franz Brandmeier betreibt seit 26 Jahren die queere Buchhandlung „Eisenherz“ – die auch viele LGBTQIA*-thematisietrende Filme und Zeitschriften führt. Foto: Scherer

Wobei sich die Tour auch mit dem anderen Alltag im Kiez beschäftigt, etwa der Buchhandlung Eisenherz, laut Chef Franz Brandmeier die einzige reine Regenbogenbuchhandlung der Stadt – und neben einer in Stuttgart sogar die einzige in Deutschland. Und dem sympathischen Geschenke- und Accessoire-Shop „Kuckuck“, der neben kitschiger Glitzerdeko auch stylisches Geschirr und die Regenbogengrundausstattung verkauft.

Tour über Regenbogenkiez könnte dauerhaftes Angebot werden

Margot Schlönzke mit Bull-Chef Jürgen. Im Bull gibt es einen großen Darkroom-Bereich, generell wird eher härter gefeiert und rund um die Uhr. Foto: Scherer

Im „New Action“ dann, wo die Tour nach einem Abstecher in den 24-Stunden-Club „Bull“ endet, berichten die beiden Chefs der Häuser gemeinsam davon, wieso die Tour wichtig ist, gerade jetzt, da der normale Betrieb einfach nicht möglich ist. Immer wieder seien Menschen überrascht, dass auch die etwas berüchtigten Bars sauber und gut organisiert sind. Dass die Menschen – auch das bewahrheitete sich im Vorfeld bei der gesamten Tour – allesamt wahnsinnig offen und freundlich sind. Und dass es sich auch ohne Fetisch lohnt, mal auf ein Bier ins „Prinzknecht“ (wobei es auch dort „Herrenzimmer“ gibt) zu gehen oder zum Unterwäscheshoppen nach Schöneberg zu fahren (und vielleicht doch ein etwas ausgefalleneres Model als sonst zu finden, etwa bei „Wagner Berlin“ an der Motzstraße.

Die Kieztour ist derzeit noch kostenlos, allerdings sind die September-Termine derzeit fast alle ausgebucht. Langfristig soll sich, ist der Testlauf ein Erfolg, aber eine Regelmäßigkeit einstellen, Schlönzke ließ durchblicken, dass die Terminfindung für den Herbst bereits im Gange ist. Wenn sich die Sache etabliert, dürfte eine kleine Aufwandsentschädigung abgefragt werden – angesichts der Dauer (vier Stunden), der vielen exklusiven Einblicke, der vielen geschichtlichen Hintergründe zum Kiez und dem schwulen Leben in Berlin und natürlich der vielen Sektchen und Schnäpse, die die Barbetreiber gern mal raustun, wäre das aber nur angemessen.

Unterwäsche und Oberteile, inzwischen auch Masken, teils mit mehr, teils mit weniger Stoffm gibt es zum Beispiel bei „Wagner“ an der Motzstraße. Foto: Scherer

Infos über weitere Termine, die weiteren Stationen, den Regenbogenkiez und weitere Angebote gibt es online.

Queeres Leben in Berlin – es sind schwierige Zeiten

Die queere Szene der Stadt leidet unter der Pandemie. Drag-Star Bambi Mercury sprach mit uns im Interview über die massiven Auswirkungen. Vielen fehlen auch die Clubs der Stadt. Auch das hat für viele Menschen einen besonderen Grund. Denn Club-Kultur ist für viele Gruppen mehr als Ballern, Bumsen, Berghain – es geht um Gemeinschaft, Sicherheit, auch mal Flucht. Denn trotz aller Fahnenschwingerei und guten Laune: Queere Personen sind immer noch regelmäßig Opfer von Diskriminierung. Deshalb ist Protest, wie bei der Pride, auch 2020 immer noch wichtig.

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