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Kommentar

Querdenken-Demo in Berlin: Wo die Staatsmacht zum Zuschauen vorbeikommt

Wir befinden uns im Jahr 2020 n.Chr. Ganz Berlin, ach was, die ganze Welt ist im Griff einer Pandemie mit derzeit 1,1 Millionen Toten. Die Infektionen steigen exponentiell, Staaten rufen den reihenweise den Notstand aus. Die Menschheit versucht mehr oder weniger, sich der Situation entsprechend zu verhalten. Die ganze Menschheit? Nein, eine Gruppe von unbeugsamen Querdenkern hört nicht auf, Widerstand zu leisten.

Maskenfreie Zone: Die Querdenken-Demo auf der Karl-Marx-Allee am 25.10.2020
Foto: imago images/ZUMA Wire

Nun sind diese selbsternannten Freiheitskämpfer*innen aber keine unbeugsamen Dorfbewohner im Angesicht einer Übermacht, auch wenn es in ihren Kreisen an allzu provinziell gearteten Stammtischparolen nicht fehlt. Am gestrigen Sonntag zog erneut ein wildes Potpourri aus Pandemieleugner*innen, Besorgten, Esoteriker*innen, AfD-Abgeordneten, Regierungsgegner*innen, Rechtsradikalen, Pippi Langstrumpf und anderweitigen gefährlichen Spinnern durch Mitte und Friedrichshain.

Es wurde gesungen, getanzt, gelacht, gefeiert. Es wurde für Liebe und Freiheit demonstriert. Für die Freiheit, die 15 Minuten beim Einkauf keine Maske zu tragen. Für die Freiheit letztlich, nicht nur sich selbst, sondern potentiell auch andere zugrunde zu richten. Und dies wird immer radikaler verteidigt.

Querdenken-Demo: Liebe, Friede, Freiheit – notfalls mit Gewalt

Krudes Verständnis von Liebe auf der Querdenken-Demo am 25.10.2020
Foto: imago images/ZUMA Wire

Mit Liebe, Friede und Freiheit ist primär das stets das eigene selbst und das der Mitstreiter*innen gemeint. Merkel, Journalist*innen, Maskenträger*innen, rassifizierte Menschen sind ein Dorn im Auge, verdienen spätestens nach erfolgreicher Revolution den Tod – inzwischen wird nicht mehr nur codiert, sondern offen vom Umsturz geredet. 

Und so sang und tanzte man nicht nur: Man warf sich vor Einsatzfahrzeuge (Auch die der Feuerwehr und Krankenwagen), kesselte Polizeibeamt*innen ein, traktierte sie mit Schlägen, biss ihnen gar in die Hand. Man wünschte der Regierung und der Presse offen den Tod. Und empörte sich über die Wahrnehmung staatlichen Gewaltmonopols, wenn diese sich auch nur, den Umständen entsprechend maximal passiv, zum Eigenschutz aus ihrer Lage zu befreien versuchten. 

„Natürlich hätten wir sie aufhalten können. Aber wir wollen diese Bilder nicht.“

Denn während andernorts Puppen mit Hinweis auf die „Covid-Presse“ an Laternenmasten aufgehangen werden, Busfahrer*innen verprügelt werden, Mobs von Maskenverweigerern durch Berlin ziehen und andere bedrängen, bepöbeln und bespucken; während am selben Tag noch Brandsätze auf das RKI flogen, tat die Polizei: Nichts.

Polizeiliche Maßnahmen am Limit: Lustlose Aufforderungen, die im Nichts verhallen.
Foto: imago images/Future Image

Die untersagte Querdenken-Demo wurde nicht aufgelöst, wurde, als sie Polizeiabsperrungen durchbrach, nicht aufgehalten. „Natürlich hätten wir sie aufhalten können. Aber wir wollen diese Bilder nicht.“ entgegnete der Einsatzleiter dem „Spiegel“, aber was denn für Bilder?  Bilder von unverhältnismäßiger Polizeigewalt, siehe jede Demonstration, die nur im Ansatz als links und/oder demokratiefördernd wahrgenommen wird?

Der gewollte Kontrollverlust

Oder die Bilder, die wir letztlich bekamen: Eines völligen Kontrollverlusts und einer Staatsmacht, die nicht willens ist, ihre eigenen Regeln auch durchzusetzen? Wobei – sie können ja, wenn sie wollen. Ein einzelner, maskierter Gegendemonstrant, der sich dem Coronakasperleumzug entgegenstellte, wurde kontrolliert und durchsucht.

Was sich gestern darbot, ist das Paradebeispiel von Privilegien. Von einem „right privilege“, das automatisch auch ein „white privilege“ ist. Eine Minderheit an Personen lässt jeden An- und Abstand vermissen, radikalisiert sich an sich selbst, wird zunehmend gewalttätig und nimmt immer regelmäßiger den öffentlichen Raum um sich herum in Geiselhaft. Sie haben ja nichts zu befürchten, immer noch nicht. Das ist die himmelschreiende Pointe, die sich seit Wochen wiederholt.


Mehr Stadtgeschehen

Schon die letzte Querdenken-Demo wurde zur Farce – auch im August wollte die Polizei nicht so recht durchgreifen. Es gibt aber auch noch Demos, bei denen sich an Auflagen gehalten wird – siehe Fridays for Future.

Wenn er nicht gerade zu PR-Zwecken eigens gemietete Luxusschlitten abschleppen lässt, befasst sich der Neuköllner Gesundheitsstadtrat Falko Lieke auch mit Infektionszahlen. Die Losung seines Interviews: „Party is over!“ Und tatsächlich hat die Polizei am vergangenen Wochenende einige Partys gesprengt, auf denen mutmaßlich nicht alle Regeln beachtet wurden.

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