Der Soziologe Dierk Spreen über die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, die mit der ersten Mondlandung vor 50 Jahren verbunden war, über die anschließende Desillusionierung und über Visionen und Utopien im aktuellen Zeitalter des NewSpace
Fragt man die Babyboomer-Generation der um 1960 Geborenen, dann kann sich anscheinend jeder von ihnen an die Mondlandung erinnern und eine Story dazu erzählen, wie man die Nacht als Kind erlebt hatte. Was ist damals mit uns gesellschaftlich passiert?
DIERK SPREEN: 1969, zur Mondlandung, war ich selbst ja erst vier Jahre alt. Trotzdem habe sogar ich eine verwaschene Erinnerung an das Ereignis. Es gibt da so eine merkwürdige Nacht, wo sich die ganze Familie, inklusive der Großeltern, hinter dem noch schwarz-weiß flimmernden Fernseher versammelt hatte. Das ist wahrscheinlich deshalb im Gedächtnis geblieben, weil es in meinem damaligen Alter sonst gar nicht erlaubt war, so spät Fernsehen zu gucken. Und weil alle ganz andächtig geguckt haben, obwohl man gar nicht verstand, was da eigentlich passierte. Sehr viel war aus Kindersicht vermutlich auch nicht zu sehen.
Rund 600 Millionen Fernsehzuschauer sollen die erste Mondlandung im Fernsehen verfolgt haben. Das war fast ein Sechstel der damaligen Menschheit.
Das lag wohl vor allem an der Faszination, dass mit Neil Armstrong, Edwin Aldrin und Michael Collins erstmals Menschen diesen Planeten verlassen hatten, um auf einem anderen Himmelskörper Fuß zu fassen. Damit schien ein neues Zeitalter der Entdeckungen zum Greifen nah. Man erinnerte sich an Christoph Kolumbus, dessen Seefahrt nach Indien, tatsächlich aber nach Amerika, eine völlig neue Ära eingeläutet hatte. Ich denke, der Aufbruch zum Mond erzeugte die Erwartung, dass nun auch die Gesellschaft eine Art kosmische Verwandlung erfahren würde. Die Umsetzung aller möglichen menschlichen Ideale und Utopien schien nun zum Greifen nahe. Da war das Gefühl, wir überwinden jetzt in jeder Hinsicht Grenzen: bürokratische Grenzen, die so einem Projekt entgegenstehen. Wir überwinden technische Grenzen. Und die Grenzen des Planeten.
„Wir haben uns entschlossen, zum Mond zu fliegen… nicht weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist“, hatte der amerikanische Präsident John F. Kennedy Anfang der 1960er Jahre in einer legendären Rede gesagt.
Für viele Menschen, gerade für Berliner, galt John F. Kennedy als visionäre Lichtgestalt. Sein Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“ 1963 kurz nach dem Mauerbau hatte in einer äußerst schwierigen Situation Mut gemacht. Wobei Kennedy nur knapp fünf Monate später ermordet wurde. Doch in dem Moment, wo Armstrong seinen Fuß auf den Mond setzte, wurde John F. Kennedy mitsamt dem Aufbruchsgeist, den er verkörperte, wieder lebendig – und das angekündigte Space-Age mit seinen vielen weiteren, auch sozial fortschrittlichen Ideen, schien möglich. Darauf deutet ja auch Neil Armstrongs Satz nach dem Abstieg von der Mondlandefähre hin, dass es ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit sei.
Mit welchen fortschrittlichen Welche Ideen waren damals die Hoffnungen verknüpft?
Da war diese insgesamt fortschrittliche Haltung. Wenn wir in den Weltraum und zum Mond fliegen können, dann können wir zu dem technischen auch den sozialen Fortschritt hinzu denken. Auch ökologische Perspektiven tauchten damals auf, etwa, dass man die Umweltzerstörung in den Griff kriegen müsse, wenn unser Planet weiterhin bewohnbar bleiben solle. Außerdem wurde in den USA bereits damals das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert. Die Berater Richard Nixons haben ihm die Pläne dazu jedoch wieder ausgeredet. Tatsächlich begann dann nach der Mondflugära das Zeitalter des Neoliberalismus. Die Ölkrise kam, der Abbau des Sozialstaates, außerdem Verschuldungskrisen mit Effekten, die bis in die Gegenwart reichen: Niedriglohnsektor, Hartz IV, Destruktion des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Es gibt da eine große Linie, die sich von Mitte der 1970er Jahre bis heute durchzieht und die noch nicht bewältigt ist.
Aber man flog trotzdem weiterhin zum Mond.
Ja, aber nur noch bis 1972 – und bei stark abnehmendem öffentlichen Interesse. Das Space Race gegen die Sowjetunion hatten die USA gewonnen, nun fragte man sich, was man eigentlich auf dem Mond solle. Außerdem wurden die gigantischen Kosten des Apollo-Programms zum Problem.
Ist die Desillusionierung, die nach der ersten Mondlandung sukzessive um sich griff, womöglich auch ein Grund dafür, dass dieses Menschheitsereignis zu seinem 50. Jahrestag – zumindest in Berlin – vergleichsweise lahm gefeiert wird: Weder im Technischen noch im Alliiertenmuseum gibt es Events.
Dafür macht die Stiftung Planetarium Berlin sehr viel zum Thema Mond und zur ersten Mondlandung. Trotzdem ist es natürlich schwach, dass die anderen so wenig machen. Vielleicht haben wir immer noch nicht verstanden, was Neil Armstrong damals mit dem „kleinen Schritt für einen Menschen und dem Sprung für die Menschheit“ gemeint hatte. Wobei es auch nicht so leicht ist, darauf eine Antwort zu finden.
Haben Sie eine?
Ich bezeichne die Raumfahrt als dritte Raumrevolution: Im Weltraum gibt es keine nationalen Grenzen, es gibt nicht mal mehr einen Horizont. Im Weltall sehen wir nur noch viele Welten, das ist eine völlig andere Perspektive, die einen ganz erheblichen kulturellen Effekt hat. Über die Raumfahrt hat der Mensch die Möglichkeit, die Erde als Ganzes wahrzunehmen. Und sich beispielsweise der Frage zu stellen, was er auf der Erde eigentlich anrichtet. In der aktuellen Klimadebatte etwa spielt die Fernbeobachtung über den Orbit eine erhebliche Rolle. Über Satelliten – und somit durch die Raumfahrt – bekommen wir Daten, die uns zeigen, wie es um das Erdsystem steht. Und wie es sich rasant verändert. Die Raumfahrt verändert die Perspektive auf uns selbst, auf die Umwelt, und wirft ganz neue Fragen auf.
Zum Beispiel?
Ob die Erde selbst als eine Art Raumschiff zu begreifen ist, dessen Systeme, das Klima zum Beispiel, sich steuern ließen. Was bezogen auf die ganze Erde eine nicht ganz unproblematische Vorstellung ist, da sich darin auch eine Omnipotenzfantasie ausdrücken kann. Aber wir haben in der Tat begonnen, Natur als etwas Künstliches zu begreifen. Denn Begriffe wie „Klimaregulierung“ oder „Klimamanagement“ setzen voraus, dass man das Klima steuern kann, ähnlich wie man ein Lebenserhaltungssystem in einem Raumschiff steuern kann.
Nach dem Space Race während des kalten Krieges werden nun in Ländern wie China, Israel oder Indien neue Raumfahrtprojekte initiiert: Kann man von einer neuen Aufbruchsstimmung in den Orbit sprechen?
Ja, wir befinden uns in dieser Hinsicht auf jeden Fall in einer neuen Aufbruchsstimmung. Der Grund scheint mir zu sein, dass sich die Raumfahrt rasant verändert hat. Lange Zeit war sie ein Medium, mit dessen Hilfe ein Staat beziehungsweise eine Staatengemeinschaft lenkend auf Wissenschaft und Technologieentwicklung einwirken konnte. Über staatliche Einrichtungen wie die NASA, die wiederum große, staatsnahe Großunternehmen der Luftfahrtbranche ins Boot holte – Unternehmen etwa wie Boeing/Lockheed Martin oder Northrop Grumman –, wurde die Entwicklung von Wissenschaft und Technik gelenkt. Seit zehn, 15 Jahren aber ist Raumfahrt ein Geschäftsmodell von neuen, gewinnorientierten Unternehmen wie Blue Origin oder SpaceX geworden. Sogar Start-ups oder kleine und mittlere Unternehmen wie die Berliner Astrofein mischen kräftig mit. „NewSpace“ lautet das neue Buzzword. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat im letzten Jahr sogar ein Papier herausgegeben, mit dem er vorschlägt, Rohstoffe künftig von Asteroiden zu holen, anstatt die Erde komplett auszubeuten. Man prognostiziert, dass das bereits in absehbarer Zukunft relevant sein könnte. Ob sich die gegenwärtigen Investitionen lohnen, lässt sich zwar nur schwer abschätzen. Immerhin aber wird der Steuerzahler im Rahmen einer privaten, gewinnorientierten Raumfahrt vom Prinzip her nicht zur Kasse gebeten. Wobei es derzeit allerdings noch komplexe Verflechtungen zwischen institutioneller und privater Raumfahrt gibt.
Wirkt sich die Privatisierung der Raumfahrt auf deren Umsetzung aus?
Ja, denn die staatlich gelenkte Raumfahrt ist sehr teuer, weil es sich immer um eine High–End-Technologie handelt. Nun gesellen sich ökonomischere Konzepte dazu. Zum Beispiel werden günstigere Materialien und bewährte Konzepte beim Bau von seriell hergestellten Kleinsatelliten verwendet, anstatt jedes Mal das Rad neu zu erfinden und quasi eine perfekte Maschine zu konstruieren. In der Raumfahrt kommt eine neue, marktorientierte „Make-or-Buy“-Mentalität mit skalierbaren Geschäftsmodellen und disruptiven Potenzialen zum Vorschein – eine Mentalität, die schon die Kommunikationsbranche kräftig aufgemischt hat. Uns Deutschen erscheint das natürlich suspekt, weshalb wir auch das Internet mehr oder weniger selig verschlafen haben. Ende der 1990er Jahre hat zudem der US-amerikanische Raumfahrtingenieur Robert Zubrin die Idee eines Pendelverkehrs im Weltraum entwickelt: den Transferorbit. Heißt: Im freien Fall und regelmäßig pendeln Transferstationen auf einer berechneten Bahn von einem Himmelskörper zum anderen, quasi angetrieben durch die Gravitation. So könnte man Raumschiffe zwischen Mars und Erde zirkulieren lassen. Das kann man sich vorstellen wie einen Paternosteraufzug. Auf diesen Körpern, Raumstationen mit An- und Abdockmodul, könnten auch Menschen leben. Da fliegt dann alle paar Jahre mal einer vorbei und man steigt auf der Erde ein und auf dem Mars wieder aus oder umgekehrt. So könnte man beliebig zwischen den Planeten wechseln. Unterm Strich wäre das viel billiger, als immer wieder mit einem neuen, großen Raumschiff zu starten und zu landen.
Interessante Utopie. Trotzdem bleibt natürlich die Frage, ob die Menschheit nicht ganz andere Probleme hat? Den Klimawandel zum Beispiel. Oder die Frage, wie man endlich Krankheiten wie Krebs besiegt.
Würden wir sagen, dass wir erst einmal die Probleme auf der Erde lösen und erst danach ins Weltall fliegen, dann würde das nie passieren: Es ist unmöglich, alle unsere irdischen Probleme vollständig zu lösen. Es ist eine absurde Vorstellung. Sie passt auch überhaupt nicht ins Konzept „Mensch“, weil jede Beantwortung einer Frage neue Fragen eröffnet. Davon können Wissenschaftler ein Lied singen. Im Zusammenhang mit dem Klima etwa wird immer wieder deutlich, wieviel wir noch nicht verstehen. Wobei wir auch mithilfe der Raumfahrt stetig dazu lernen. Menschen lösen Probleme nun einmal, indem sie alle den Menschen verfügbaren Möglichkeiten nutzen. Und die Raumfahrt gehört ganz klar dazu. Per Satellit können wir nicht nur die Veränderungen der Erde beobachten, wir lernen in der Schwerelosigkeit auch ganz viel über den menschlichen Körper – was uns bei Krankheiten hilft. Die Evolution hat uns auf diesen Planeten gesetzt und uns die Fähigkeit gegeben, uns über jegliche Umwelt mithilfe technischer Mittel hinwegzusetzen. Man weiß auch, dass uns die Sonne nicht bis in alle Unendlichkeit erhalten bleibt. In sehr ferner Zukunft wird sie sich im Hertzsprung-Russel-Diagramm von der Hauptreihe entfernen, sich zu einem Roten Riesenstern aufblähen und dabei die nahen Planeten verschlucken. Auf der Erde wird man dann nicht mehr leben können, möglicherweise wird auch sie von der Sonne geschluckt.
Spätestens bis dahin sollten wir die Erde verlassen haben. Vorher sollten wir aber besser auf unseren Planeten und auch auf uns selbst achten.
Zur Person: Dierk Spreen (PD Dr.), Jahrgang 1965, ist Soziologe und Politologe. Zusammen mit Joachim Fischer veröffentlichte er im Transcript-Verlag das Buch „Soziologie der Weltraumfahrt“. Weitere Publikationen folgten, u.a. zur Upgrade-Kultur und zum Transhumanismus. Spreen ist 2. Vorsitzender der „Gesellschaft für Kultur und Raumfahrt e.V.“, außerdem leitet er die Wissensplattform „Earth System Knowledge Platform“ (www.eskp.de) des Forschungsbereichs Erde und Umwelt der Helmholtz-Gemeinschaft. Auf der Plattform treten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler direkt mit Beiträgen zu ihrer Forschung in Kontakt zum deutschen Publikum.