Als frisch gebackene Berlinerin, die erst vor wenigen Monaten von der österreichischen Hauptstadt an der Donau in die Spreemetropole gezogen ist, muss ich gestehen: Ich vermisse die Wiener Rolltreppen-Etikette. In Wien herrscht Ordnung auf den Fahrtreppen, in Berlin hingegen Anarchie. Doch (wieso) läuft’s in Wien besser?
Wiener Rolltreppen-Etikette: Links gehen, rechts stehen
Die Rolltreppen-Etikette ist in Wien tief verankert. Schon Neugeborene lernen sie im Tragetuch, und auch noch im hohen Alter wird sich penibel an die goldene Regel „Links gehen, rechts stehen“ gehalten. Auch in Berlin sollte das allen geläufig sein, doch Fehlanzeige. Warum funktioniert es dann in Wien? Verantwortlich ist das typisch wienerische Phänomen: der Wiener Grant.
Der Wiener Grant ist die (charmant-)griesgrämige Art und Grundstimmung der Wiener:innen, mit seinem „Raunzen“ (Nörgeln) als verbale Ausdrucksform. Freundlichkeit ist grundsätzlich unangebracht, und so begleitet der Wiener Grant Wiener:innen immer und überall. So ist es kaum verwunderlich, dass Links-gehen-rechts-stehen-Regelbrecher:innen mit deutlichen Reaktionen rechnen müssen: von einem genervten „Hearst?!“ bis hin zu einem ungehaltenen „Schleich di, du Wappler!“, gepaart mit der nachdrucksvollen Erinnerung: „Links gehen, rechts Stehen!“. Doch nicht nur verbal verschaffen sich die Leidtragenden der Rolltreppen-Blockierer:innen Gehör, auch Ellbogen kommen zum Einsatz, zur-Seite-schieben ist gang und gäbe.
Doch damit noch nicht genug Zurechtweisung, zu guter Letzt sind die Übeltäter:innen ächtenden Blicken aller Rolltreppenfahrer:innen ausgesetzt – je länger die Rolltreppe, desto intensiver die Blicke. Auf kurzen Strecken sind es oft nur skeptische Augenbrauen, die sich heben, während es auf längeren Rolltreppen zu einem regelrechten Sturm der Entrüstung kommen kann, und auch nicht selten wird geflüstert und gemurmelt. So ist der Wiener Grant nicht nur ein Ausdruck von Unmut, sondern auch eine Art sozialer Kontrolle, die dafür sorgt, dass die Rolltreppen-Etikette nicht nur bekannt, sondern auch gelebt wird – ganz im Gegensatz zu Berlin.
Doch vielleicht liegt die Ursache für das chaotische Rolltreppen-Verhalten der Berliner:innen ja tiefer – oder besser gesagt, nicht tief genug. Denn während die Wiener U-Bahnen tief im Untergrund schlummern, müssen sich die Berliner Tunnel mit dem wackeligen märkischen Sand begnügen. Das Resultat? Kürzere Rolltreppen! In Wien kann man auf der längsten U-Bahn-Rolltreppe ganze 53 Meter in die Tiefe gleiten, in Berlin sind es gerade mal 18 Meter. Kein Wunder also, dass die Berliner nie richtig Rolltreppe fahren lernen – kaum betreten, werden sie schon wieder verlassen. So kann man fast die Vermutung aufstellen, dass die Berliner:innen aufgrund dieser kürzeren Übungsstrecken das Rolltreppe-Fahren nicht so gut beherrschen wie ihre Wiener Pendants.
Anarchie auf den Berliner Rolltreppen
Doch egal ob genug Übungsstrecke oder nicht, Fakt ist: In der deutschen Hauptstadt herrscht eine Art Rolltreppen-Anarchie. Wer hier unterwegs ist, fällt oftmals in die Kategorie der Rolltreppen-Blockierer:innen. Und da gibt es die unterschiedlichsten Typen: Von den Kofferblockierer:innen, die ihr Gepäck demonstrativ neben sich stellen, über die Turteltäubchen, die nicht einmal für eine kurze Fahrt voneinander lassen können, und den Teenager-Traube, welche sich über die gesamte Länge und Breite verteilt, bis hin zu den Mittig-Steher:innen, die breitbeinig und mit ausgefahrenen Ellbogen die gesamte Treppenstufe für sich beanspruchen, ist alles dabei.
Bekannt sind diese Links-gehen-rechts-stehen-Regelbrecher:innen natürlich auch in Wien. Doch während solches Verhalten dort schnell sanktioniert wird, herrscht in Berlin auch mal schlechte Laune, aber vor allem die „Leben und leben lassen“-Mentalität. Zwar gibt es vereinzelt Zurechtweisungen und auch mal eine typisch berlinische Beleidigung, doch eine kollektive Ächtung wie in Wien bleibt aus, wenn sich jemand deppert verhält, wie es in Österreich heißt.
Während die Wiener Methode zweifellos effektiv für Rolltreppen-Geher:innen ist, könnte sie in der entspannteren Berliner Atmosphäre als zu harsch empfunden werden. Nach meinem Umzug von Wien nach Berlin sind mir in den zwei Metropolen so einige kulturelle Unterschiede untergekommen, von der Kaffehaus- bis zur Späti-Kultur. Und auch die Frage, wer das Rennen um die unfreundlichste Stadt machen würde – nach knapp drei Monaten fälle ich das Urteil: der Wiener Grant ist nicht nur weiter verbreitet, sondern auch deutlich rüpelhafter ist. Wie könnte also in Berlin für die Durchsetzung der Rolltreppen-Regel gesorgt werden?
Effizienz der Links-gehen-rechts-stehen-Regel
Auf den ersten Blick scheint die Wiener Rolltreppen-Etikette effektiv und sinnvoll zu sein. Doch Studien aus Großbritannien stellen die vermeintliche Überlegenheit der Wiener Methode in Frage. Denn Forscher:innen kamen zu dem Schluss, dass es tatsächlich effizienter und für alle insgesamt schneller ist, wenn alle Fahrgäste auf der Rolltreppe stehen bleiben. Der Grund dafür liegt in der besseren Ausnutzung des verfügbaren Platzes. Wenn alle stehen, verteilen sich die Fahrgäste gleichmäßiger auf der Rolltreppe, wodurch mehr Menschen zeitgleich transportiert werden können und vor den Rolltreppen weniger Staus entstehen. Zwar verlieren einzelne Geher:innen ein paar Sekunden, doch insgesamt erreichen alle Fahrgäste schneller ihr Ziel.
In diesem Licht betrachtet, leisten die verschiedenen Berliner Rolltreppen-Blockierer:innen, mit ihrer scheinbaren Rücksichtslosigkeit – von Kofferblockierer:innen bis hin zu den Teenager-Trauben – einen Beitrag zur Effizienz des Systems, ohne es zu merken. Statt auf kollektive Ächtung wie in Wien sollten wir uns in Berlin auf den wissenschaftlichen Konsens einigen: Wenn alle stehen, profitieren das Allgemeinwohl – zumindest, wenn viel los ist. Und solltet ihr es doch mal eiligen haben (und/oder das Vergnügen, auf einer fast leeren Rolltreppe auf Mittig-Steher:innen aufzuschließen), kommt ihr mit höflichen Fragen vermutlich genauso weit wie mit der Berliner Schnauze oder dem Wiener Grant. Somit zeigt sich einmal mehr, dass Berlin auf seine ganz eigene, manchmal chaotisch erscheinende Art, funktioniert – und das möglicherweise sogar besser/effizienter als Städte mit strikterer Ordnung.
Die längste U-Bahn-Rolltreppe Berlins findet ihr in Bahnhof Gesundbrunnen, in 12 Fotos haben wir seine Geschichte zusammengefasst und auch auf die unmittelbare Nachbarschaft geblickt. Statt Rolltreppen faszinieren euch eher (U)-Bahnhöfe? Die schönsten U-Bahnhöfe des prägenden Architekten Alfred Grenander findet ihr hier, ebenso wie Wissenswertes rund um das Herz des Hauptstadt-Fernverkehrs: der Berliner Hauptbahnhof. Ob neu in der Stadt oder alteingesessen, wenn ihr mit der U-Bahn unterwegs seid, dann kennt ihr bestimmt diese 12 U-Bahn-Charaktere, die uns zum Aussteigen zwingen.
Seid ihr auch frische gebackene Berliner:innen? Mit ein paar Tricks für Neu-Berliner:innen fällt die Eingewöhnung deutlich leichter. Doch es gilt auch Vorsicht, nicht die Nerven der alteingesessenen Berliner:innen als Zugezogene zu strapazieren. Und für alle Walhlberliner:innen, die ihre österreichische Heimat vermissen oder alle die ein Stück Alpenrepublik noch heute erleben wollen lässt sich auch Österreich in Berlin erleben.