Sebastian Lehmann ist Poetry Slammer, Autor und Kabarettist in Berlin. Doch wegen Corona ruht der Betrieb, seine Laube in Mecklenburg-Vorpommern wird stattdessen zum Kulturraum. Für uns berichtet er davon – er schreibt über perfekte Gartentage, Brühe in der Abwassergrube und einen Mentor namens Heinz.
Sebastian Lehmanns Ablenkungsstrategien-Sammelsurium
Seit einem Jahr versuche ich mich abzulenken. Wovon? Von der Realität natürlich. Ich darf nicht auftreten, keine Lesungen, mein Job ist verschwunden. Dazu die gleichen Sorgen wie bei jedem: Wie geht es der Familie, den Freunden, dem Kontostand? Deswegen habe ich mir ein Sammelsurium an Ablenkungsstrategien zugelegt, um nicht permanent den Live-Ticker zu lesen und die Corona-Maßnahmen abwechselnd viel zu lasch oder viel zu hart zu finden. Klappt so semi.
Zum Glück bin ich Kleingärtner. Dem Garten ist es egal, dass ein fieser Virus die Welt nervt. Nichts lenkt so gut ab wie eine unaufschiebbare Aufgabe. Kümmerst du dich nicht um den Garten, dann wächst dir das Gras schnell über den Kopf und die Brühe in der Abwassergrube steht dir bis zum Hals. Beides meine ich nicht metaphorisch.
Brandenburg ist wie das Tempelhofer Feld – nur mit Seen
Meine Freundin und ich hatten uns den Kleingarten gerade noch rechtzeitig zugelegt. Mittlerweile sind Gartengrundstücke und Vierseitenhöfe unter Berlinern so gefragt wie Impftermine. In Brandenburg wurden wir nicht fündig, kein freier Garten weit und breit, alles voll. Ich hatte eigentlich Stille und Leere erwartet. Für alle Berliner, die ihre Stadt nie verlassen: Brandenburg ist so etwas wie das Tempelhofer Feld – nur mit Seen.
Wir fanden dann ein Grundstück in Mecklenburg-Vorpommern, zwei Stunden von unserer Wohnung entfernt. Auf der wunderschönen Mecklenburger Seenplatte scheint die Einsamkeit noch umfassender und die lokale Bevölkerung noch wortkarger. Ich fühlte mich sofort wohl.
Vor Corona schüttelten unsere Freunde den Kopf: „So weit weg? Seid ihr wahnsinnig?“ Inzwischen haben wir ein paar neue Nachbarn. Alle kommen aus Berlin.
Ein großes Kompliment
Den letzten Sommer verbrachten wir ausschließlich im Garten. Wir pflanzten und jäteten wie verrückt. Sogar unser Nachbar Heinz, seit 57 Jahren überzeugter Kleingärtner, nickte anerkennend: „Sieht ja aus!“ Ein großes Kompliment von einem Mecklenburger. Er ließ seinen Blick über unser Grundstück schweifen wie ein Feldheer über die gegnerische Armee. „Wenn ihr jetzt noch die Hecke geometrisch schneidet, den Rasen gleichmäßig auf 1,5 Millimeter trimmt, die Gemüsebeetfläche verzehnfacht und einen Karpfenteich anlegt, dann gehört ihr schon fast dazu.“ Wie immer wusste ich nicht, ob Heinz mich verarschte oder mir einen guten Rat gab.
Die Nachbarn dachten: Hanfplantage
Auch dieses Jahr hoffte ich auf perfekte Gartentage und freute mich in der düsteren Winter-Realität vielleicht etwas zu euphorisch. Meine Freundin zog Blumen und Gemüse vor, unsere Berliner Wohnung glich einem Gewächshaus, die Nachbarn riefen sogar die Polizei, weil sie dachten, wir betrieben eine Hanfplantage.
Dann die Horrormeldung: Eine neue innerdeutsche Grenze wird errichtet, Einreiseverbot nach Mecklenburg-Vorpommern, auch für Gärtner. Wie im letzten Frühjahr. Der gewöhnliche Abstand von 10,5 Kilometer zwischen den Einwohnern Meck-Pomms muss schließlich gewährleistet bleiben.
Ich umrunde wieder das Tempelhofer Feld. Nachts träume ich von harter Gartenarbeit. Es sind schöne Träume. Manchmal taucht darin sogar Nachbar Heinz auf und gibt mir Ratschläge: „Garten bedeutet Geduld, alles dauert ewig – und am Ende kommen doch die Schnecken und essen deinen Salat auf. So ist das auch mit Corona. Du brauchst einen langen Atem.“ Also atme ich tief ein und warte weiter auf den Sommer im Garten.
- Der gebürtige Freiburger Sebastian Lehmann hat in Berlin Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Geschichte studiert. 2020 erhielt er den „Kleinkunstpreis Baden-Württemberg“. Er ist Autor mehrerer Bücher. Kürzlich erschien „Das hatte ich mir grüner vorgestellt – Mein erstes Jahr im Garten“ (Goldmann, 240 Seiten, 13 Euro).
Mehr Garten
Eine lange Geschichte – und immer wieder auch Politikum: Wir blicken zurück auf Berlin und die Kleingärten. Selbst mit den Händen in der Erde wühlen? Meldet euch doch bei Berlins Gemeinschaftsgärten an. Ihr braucht Samen, Töpfe und Pflanzen? In Berlins Gartencentern gibt es Grünes und Schönes für Balkon und Garten.