Selva Huygens ist ein Neuköllner Modelabel und kreiert aus Industrieschrott aufsehenerregende Outfits. Zufall, Glück und eine ordentliche Portion kreativen Wagemuts haben sie auf den Radar von internationalen Top-Stylisten gebracht.
Der Stoff, aus dem Roben für den roten Teppich gemacht sind, liegt auf den Straßen von Neukölln. Hier findet Cristian Huygens, Gründer des Modelabels „Selva Huygens“, Material und Inspiration. Seine expressiven Kreationen aus rohen Textilien und markanten Autoteilen, groben Reißverschlüssen und Karabinerhaken werden von Stars wie Lady Gaga, Jared Leto und FKA Twigs auf Galas und Bühnen getragen.
Geschaffen werden sie im unglamourösen Industriegebiet in der Neuköllner Ziegrastraße. Im Dachgeschoss eines der Werkgebäude hat Huygens sein Studio, in dem er zusammen mit der Label-Managerin Natalia Golubenko arbeitet. Beim Betreten eröffnet sich eine Landschaft, in der Autoteile und zerlegte Schuhe auf dem Boden liegen, Kleiderstangen von der Decke hängen, Modepuppen Kleider aus gebogenen Kotflügeln tragen und irgendwo ein Sofa aus Kachelofenplatten steht.
„Dafür habe ich alte Autositze aus Leder verwendet“, sagt Huygens, 36, mit kurz geschorenen Haaren und vielen Tattoos. Er hält ein braun-schwarzes Oberteil hoch, das im Brustbereich die Rückenlehne und im Hüftbereich die Ausbuchtungen des Sitzes erkennen lässt. „Die Idee kam, weil das Teil schon an sich recht ergonomisch geformt ist und im Zusammenspiel mit dem Körper interessant wirkt.“ Es ist ein Stück aus der „Ready-to-wear“-Kollektion, die – etwas – weniger extravagant als die skulpturalen Entwürfe daherkommt, aber weiterhin der Transformer- und Mad-Max-Ästhetik treu bleibt. Ende Mai hat Selva Huygens sie erstmals auf einer Show im Soho House präsentiert, es folgte die Münchner Fashion Show, und nun steht die Berlin Fashion Week an. Alltagsmode für eine Zukunft, die noch nicht gekommen ist, aber schon heute Ästhetik und Nachhaltigkeit radikaler denkt.
Selva Huygens ist eine Berliner Story
Upcycling hat sich vom Trend zu einer bewussten Art des Modemachens – gerade bei jungen Designer:innen – entwickelt. Was dieses Neuköllner Label so besonders macht, ist die Verwendung von ausrangierten Autoteilen und Industrieabfällen für Kleidung, Schuhe und Accessoires. Diese ausgefallene Kombination von Ästhetik und Nachhaltigkeit hat auch die Jury des Berlin-Fashion-Week-Konzeptwettbewerbs in der Kategorie „Studio2Retail“ dieses Jahr überzeugt. Einer der von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe / Projekt Zukunft gestifteten Förderpreise geht an Selva Huygens. Dabei stand für ihn die Nachhaltigkeit zunächst gar nicht im Vordergrund, sagt der Gründer. Auch war er nicht auf klassischen Pfaden einer Modekarriere unterwegs und kam eher zufällig zur Nähmaschine. Selva Huygens ist durch und durch eine Berliner Story.
Eigentlich ist Huygens, der seit 2017 in Berlin lebt, studierter Architekt und Industriedesigner. In Berlin verdiente der gebürtige Argentinier sein Geld als Bildhauer-Assistent bei einem Künstler, arbeitete mit Metall, baute Möbel und malte. So richtig festlegen auf eine Disziplin konnte er sich nicht, aber seine Ästhetik war klar: inspiriert vom Brutalismus-Stil der Architektur, mit dem Fokus auf funktionelles Design und Kunst. „Brutalist Functional Art Movement“ (BFAM) nennt er diesen Mix, der erst in der Mode seine volle Entfaltung finden sollte.
Mitten in der Pandemie geriet Huygens in eine Schaffenskrise. Die Lösung: Weiß. Er wollte neu anfangen, alles, was er bisher gelernt und getan hatte, vergessen. Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Alles sollte von nun an in dieser Farbe gestaltet sein: sein Studio, seine Kleidung, Dinge, die er schuf. Und irgendwann wollte er diese Dinge ausstellen. „Ich hatte keine Galerie oder irgendeinen anderen Raum, aber mir fiel auf, dass Banken diesen verglasten Vorraum mit Geldautomaten haben.“
Aus der Not machte Huygens eine Berliner Tugend: Guerilla-Pop-up-Ausstellungen in Sparkassen. Er schaffe seine Sachen in den Vorraum und lud Leute ein. Heute wundert er sich selbst ein bisschen, dass das so problemlos ging. Berlin eben. Und dann fing er an, mit Performer:innen zu arbeiten, die wiederum passend eingekleidet werden mussten. Also entwarf Huygens Outfits für sie. Und Leute begannen zu fragen, ob sie das ein oder andere Stück mal für ein Shooting ausleihen dürften.
Als er eingeladen wurde, bei einer Gruppen-Modenschau eine Installation zu zeigen, sah Huygens seine Chance, die eigenen Kreationen zu präsentieren. Ob er genug Looks hätte, fragten die Veranstalter:innen damals etwas skeptisch, erinnert sich Huygens. Er konnte sie überzeugen und fertigte daraufhin in sehr kurzer Zeit einen Teil der besagten Looks. „Nach der Show dachte ich: Das ist es! Alles, was Backstage abgelaufen ist, war unglaublich inspirierend für mich“, sagt er. Während er zuvor alleine arbeitete und auch seine Guerilla-Ausstellungen in Eigenregie aufzog, faszinierte ihn diese kollektive Kreativität, in der Models, Stylisten und Fotografen herumwirbeln.
Also stürzte er sich voll rein in die Mode. Für den Designer sind Textur, Aussehen und Flexibilität des Materials entscheidend. Aus der Vorliebe für alte, gebrauchte Dinge und der Notwendigkeit, mit wenig Geld auszukommen, wurden die Straßen zum Fundus: von einem Paar Schuhe bis zur Stoßstange. Wenn er durch die Straßen in Neukölln geht, scannt er seine Umgebung, das Studio ist voll von seinen Fundstücken, ob in Boxen oder auf dem Boden verteilt. „Das Zeug liegt überall draußen herum, du kannst damit arbeiten und experimentieren. Es gibt also keine Ausreden wie: Ich habe kein Material“, sagt Huygens.
Spontane Kreativität als Prinzip bei Selva Huygens
Auf die Frage, wie er nun darauf kam, Menschen in Autoteile zu kleiden, gibt er eine für seinen Schaffensweg typische Antwort: „Es war spontan. Ich plane eigentlich nicht so viel.“ Seine Arbeitsmaterialien verteilt er gerne auf dem Boden. Eines Tages hob er einen Teil einer Stoßstange vom Boden auf und hielt ihn an eine Modepuppe. „Und als ich das sah, erkannte ich Potenzial darin.“ Huygens brachte sich das Nähen auf der Maschine bei und nähte zunächst alles selber. Heute arbeiten ein bis zwei Praktikant:innen an den Kollektionen mit.
Mit Natalia Golubenko, 27, blond und großgewachsen, machte der Designer den nächsten Schritt in Richtung Geschäftsaufbau. Als hyperenergetischer Gegenpol zum eher ruhigen, introvertierten Huygens kümmert sie sich um alles, was nicht Design ist: Kommunikation, Brand Management, Organisation. Und auch als Model ist sie im Einsatz. „Als ich einstieg, habe ich darauf geachtet, wofür das Label steht. Und für mich persönlich ist Nachhaltigkeit extrem wichtig“, sagt Golubenko und zeigt auf ihre Schuhe und die Jeans, die sie auf der Straße gefunden hat. „Ich denke, wir zeigen mit unseren Entwürfen, wie ein unkonventioneller Umgang mit verworfenen Materialien aufregende, wagemutige Mode und Nachhaltigkeit innovativ vereint.“
Von Top-Stylist bis Normalo: Selva Huygens stellt sich breit auf
Vor einem Jahr haben sie Selva Huygens als Firma registrieren lassen. Im Bürokratiedschungel, zwischen Anträgen für Förderungen und Bewerbungen für Modewochen, versuchen sie, ein Geschäft aufzubauen und sich in der Modewelt zu etablieren. Dass Berühmtheiten wie Lady Gaga ihre Outfits tragen, sorgt für internationale Aufmerksamkeit.
Und das kam so: Über Instagram entdeckte Gagas Stylist die Autoteile-Kreationen von Selva und fragte direkt an. Einige Monate später, im Mai 2024, stand die Sängerin in einem grobstoffigen weißen Kleid mit einer Art Kotflügel-Stola auf dem roten Teppich zur Premiere ihres Konzertfilms „The Chromatica Ball“. Weitere Top-Stylisten wurden aufmerksam, und so kam eins zum anderen.
Doch bei der Entwicklung von ausgefallenen Stücken will der Designer nicht stehen bleiben. Huygens hat weitere Kooperationen mit Top-Stylisten in der Pipeline, will seine Mode aber auch mit einer Ready-to-wear-Kollektion zugänglicher machen. Und was sich mit der Nachhaltigkeit ursprünglich einfach so ergab, will das Label ausweiten.
Heute ist die Verwendung von verworfenen Materialien nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine bewusst ökologische Entscheidung. Huygens experimentiert aktuell mit einem lederartigen, leichten Stoff aus recycelten Batterietrennern. Der südkoreanische Hersteller kam auf sie zu und schickte mehrere Rollen dieses neuartigen Materials. Und das Potenzial an der Schnittstelle von Mode und Industrie ist groß. Kooperationen wie zwischen Hyundai und Designer Jeremy Scott sind ein bekanntes Beispiel. Golubenko und Huygens träumen von einem solchen Projekt in Deutschland – schließlich mangelt es den Autoherstellern hierzulande nicht an Abfall. Die Anfragen sind schon raus. Manches wollen sie doch nicht dem Zufall überlassen.
- Selva Huygens online
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