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Kampf mit Ängsten: Wie ein Berliner mit Social Anxiety leben lernt

Es ist eine Krankheit, mit der es sich gerade in Berlin nur schwer leben lässt: Social Anxiety, auch Soziale Phobie genannt. Treffen betroffene auf Menschen, verstricken sich ergo in soziale Situationen, schwitzen sie, werden zittrig und kämpfen mit Schwindel. Auftreten kann das in Drucksituationen, etwa bei einem Referat, aber auch in unverfänglicheren wie einer Party mit Freund:innen. Unsere Autorin Jill Paul Forster ist der Krankheit auf den Grund gegangen, dafür sprach sie unter anderem mit dem Berliner Autoren Frank Ewald über seinen Umgang mit Social Anxiety.

Gerade in Berlin eine schwierige Angst: Social Anxiety, auf Deutsch soziale Phobie. Illustration: Tobias Meyer

Frank Ewald und sein Leben mit Social Anxiety in Berlin

Es macht ihm Angst, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten. In der Vergangenheit hat er deshalb immer wieder mit extremen Zuständen kämpfen müssen, bis zur Ohnmacht. In seinem Berufsleben ist Frank Ewald Geschäftsführer einer Grundstücksgesellschaft, nebenher schreibt er Bücher. Unkonventionell, doch das passt zu Berlin.

Zuletzt hat Ewald den Roman „Berlin Rosalie” veröffentlicht – ein Werk über Glanz und Elend eines Edelbordells. Besonders sein Beruf als Schriftsteller ist vor dem Hintergrund seiner psychischen Krankheit suboptimal: Da gehören Buchvorführungen vor Menschenansammlungen zum Business.

Eine soziale Phobie beschreibt die Angst vor Beurteilung, Ablehnung oder Demütigung durch andere Personen. Wie stark das verbreitet ist, lässt sich kaum einschätzen. Viele Menschen sehen darin noch keinen Grund, in Behandlung zu gehen. Die Dunkelziffer dürfte also hoch sein. Dennoch: In einer Schüler-Befragung der Göthe-Universität gab es bei 13 Prozent der 600 Befragten Hinweise auf eine Soziale Phobie. Wie weit genau die Phobie in der Bevölkerung verbreitet ist, wie viele Menschen im Erwachsenalter mit ihr kämpfen, lässt sich aktuell nicht sagen.

Frank Ewald ist allein mit seinem Vater aufgewachsen, da er seine Mutter schon früh verloren hat. Sein Vater war Arzt, ein vielbeschäftigter Mann, der irgendwann an Krebs erkrankte. Ewalds Leben wurde auf den Kopf gestellt; in dieser Zeit entwickelte er erste Symptome. Anfang zwanzig war er, als sein Vater starb. Er fühlte sich entwurzelt. Eine Panikattacke folgte der anderen, und er konnte seinen Alltag nicht mehr ohne Ängste bewältigen.

Es beginnt früh

Bei den meisten Menschen liegt der Ursprung einer sozialen Phobie im jungen Alter. Sie kann genetisch bedingt sein oder durch ungünstige Erziehungsstile und soziale Belastungen auftreten. Es gibt zum Beispiel auch Menschen, die schwierige Erfahrungen in der Schule, mit Lehrpersonen, Bloßstellung von Mitschüler:innen oder Zurückweisung von Eltern in jungen Jahren erlitten haben. Auch das genetische und erzieherische Zusammenspiel kann soziale Ängste hervorrufen.

Ist die Angst besonders groß, kann es zur Panikattacke kommen, eine extreme Frucht, die unter anderem von körperlichen Reaktionen begleitet wird. Atemnot, Engegefühl in der Brust, Herzrasen, Schwindel, Schwitzen, Zittern, Erröten, es ist lähmend. Frank Ewald erlebte diese Symptome.

Er zog irgendwann die Notbremse, als seine Zustände während einer Zugfahrt unerträglich geworden waren. Das war kurz vor dem Tod seines Vaters. Die Folge: Er wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht. Da wurde ihm die soziale Phobie diagnostiziert. Fünf Monate hat er in der Klinik verbracht, mit täglichen Psychotherapie-Sitzungen.

Bis heute ist er in Therapie und praktiziert täglich autogenes Training. Das ist eine Form der Selbsthypnose, die der Entspannung dient.

Social Anxiety: Wieso die Angst zum Zeitgeist passt

Johanna Schüller ist Psychologin an der Universität Frankfurt und forscht an der Behandlung von sozialer Phobie. Sie sagt, „dass von einer sozialen Phobie gesprochen wird, sobald soziale Interaktionen ganz gemieden werden oder nur mit großer Anstrengung und Qual bewältigt werden können.”

Social Anxiety passt ins Zeitalter der Individualisierung. Familiäre Bindungen werden lockerer, Freundschaften unverbindlicher, Beziehungen sprunghafter und Arbeitsplätze immer öfter gewechselt. Trotzdem ist der Mensch immer noch ein soziales Wesen.

Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie fanden menschliche Begegnungen oft in digitalen Räumen statt. Die eigenen Gedanken und Gefühle wurden über Posts, Storys und Tweets in den Sozialen Medien geteilt. Viele Menschen fühlten sich einsam, isoliert und gelangweilt. Sie sorgten sich um ihre psychische Gesundheit. So entstand online ein Gedankenaustausch über Angststörungen, eine Bewegung, die sich über Hashtags wie #loner und #introvert identifiziert.

Johanna Böttcher von der Psychologischen Hochschule Berlin, die diverse Publikationen zum Thema veröffentlicht hat, sagt: „Die Isolation während der Corona-Pandemie führte zu Vereinsamung und durch finanziellen Druck und gesundheitliche Angst automatisch zu Stress. Und der kann ein Auslöser von sozialer Phobie sein, weshalb Pandemie und sozialer Phobie korrelieren.”

Durch die Isolation sei zudem die Möglichkeit ausgeblieben, positive Erfahrungen in Bezug auf soziale Interaktionen zu sammeln, sagt Böttcher. „Vielen Menschen ist es schwergefallen, nach den Lockerungen der Maßnahmen sozialen Interaktionen wieder persönlich nachzugehen. Aber dann darf nicht gleich von sozialer Phobie gesprochen werden. Oft sind es ähnliche Symptome, jedoch von einer kurzen Dauer und nicht täglich einschränkend.”

Auch Frank Ewald hat sich während der akuten Phase der Covid-19-Seuche zurückgezogen. Er musste sich nicht mehr rechtfertigen, wieso er das Haus am liebsten nie verlassen würde. Daher fiel es ihm nach dem Ende der Maßnahmen schwerer, wieder sozialen Interaktionen nachzugehen, da er sich an das wohlige und sichere Zuhause gewöhnt hat. Ein Rückschlag, mit dem er noch immer kämpft.

Social-Anxiety-Betroffene müssen gefürchtete Situation aufsuchen

Frank Ewald sagt, dass er im beruflichen Setting seine Angst gut kontrollieren kann. Wenn es jedoch zu privaten Beziehungen kommt, fällt es ihm nach wie vor schwer, diese zu pflegen und auch zu genießen. Dementsprechend wohnt Frank Ewald auch alleine. Er meidet Bindungen.

Bindung gehört zu den psychologischen Grundbedürfnissen. Die Bindung zwischen Kind und Mutter – oder anderen frühen Bezugspersonen – baut den Grundstein für das Gefühl von Schutz und Sicherheit. Ist dies nicht gegeben, kann es im Jugend- oder Erwachsenenalter zu Störungen kommen.

Bei der Behandlung einer echten sozialen Phobie sei es wichtig, gefürchtete Situationen aufzusuchen, um die dahinter stehenden Befürchtungen zu überprüfen und zu falsifizieren, sagt Johanna Böttcher.

In einer verhaltenstherapeutischen Psychotherapie werde dies mit dem oder der Therapeut:in schrittweise erarbeitet und später selbstständig umgesetzt. „Ziel ist es, den Alltag selbstständig ohne Einschränkungen und Panikattacken bewältigen zu können.“ Bei 80 Prozent sollen die Heilungschancen laut Böttcher liegen. Recht hoch, wenngleich den meisten wohl 100 lieber sein dürften. Doch absolute Gewissheit gibt es in Medizin und Psychologie leider so gut wie nie.

Ein Schocktherapie sondergleichen

Frank Ewald, der Mann mit sozialer Phobie, schreibt trotz seiner Ängste weiterhin Bücher. Er hat sogar einen Fortschritt erzielt im Umgang mit den Befürchtungen, die sein Autorenjob hervorbringt. Und das kam so: Um eigene Lesungen vor Zuschauern zu vermeiden, hatte er eine Schauspielerin engagiert, die seine Texte vortrug. Diese Schauspielerin hatte jedoch Wind von seiner sozialen Phobie bekommen – und sich offenbar entschlossen, ihn ins kalte Wasser zu werfen. Anstatt sein Buch zu präsentieren, zitierte sie ihn auf die Bühne. Gewissermaßen eine Schocktherapie.

Seit diesem Zeitpunkt liest Frank Ewald seine Bücher selbst. Nach wie vor hat er ein unwohles Gefühl, wenn die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt ist – aber er stellt sich seiner Angst und tankt somit Mut.


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