Vier Wochen Fußballekstase, Fan-Meile, Trikots und Fahnen überall, Berlin dreht durch. Die Stadt schwebt im biergetränkten Ausnahmezustand. Noch mehr als sonst schon! Doch nicht alle fühlen die große EM-Euphorie. Unsere Autorin Marit Blossey verrät, warum sie so gar keinen Bock auf die ganze Fußball-Action hat.
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Kein Bock auf die EM, dank besoffener Idioten und diesem Partypatriotismus
Ich kann mit Fußball-Großereignissen nicht viel anfangen. Dabei geht es mir nicht mal um den Sport an sich: Ich finde Fahnen an Autos, Balkons und auf Drogerieprodukten gruselig und der Partypatriotismus, der bei jeder EM und WM zuverlässig um sich greift, ekelt mich an. Den Spielplan checke ich – nicht, um kein Spiel der deutschen Mannschaft zu verpassen, sondern um die Orte zu meiden, an denen besoffene Idioten in verschwitzten Trikots endlich wieder stolz auf ihr Land sein können.
Ganz ehrlich, von mir aus könnte die EM einfach ausfallen. Besonders dieses Jahr!
Nun will ich keine Spaßbremse sein: Klar, an einem lauen Sommerabend mit Freund:innen draußen zu sitzen und ein kühles Bier zu trinken, ist immer nett, ein bisschen kompetitives Hintergrundrauschen kann da schon unterhaltsam sein. Aber ganz ehrlich: Das geht in Berlin auch ohne Fußball-EM! An jeder zweiten Straßenecke tragen sich hier täglich Szenen zu, die für mich höheren Entertainment-Faktor haben als ein paar Multimillionäre in Sporthosen. Vor allem in den Sommermonaten vibriert Berlin vor lauter Open Airs, Partys, Festivals und sonstigen Veranstaltungen. Millionen Tourist:innen aus aller Welt kommen schließlich sowieso hierher, um ein Wochenende zugeballert im Berghain oder im Mauerpark zu verbringen. Dafür braucht es keine 24.000 Quadratmeter Kunstrasen vor dem Brandenburger Tor. Straßensperrungen, massive Polizeipräsenz und Fan-Infrastruktur für Unsummen sowie so nicht.
Grün statt Grau: Auf der Straße des 17. Juni ist ein feuchter Fußballtraum entstanden. Wenn die Deutsche Nationalmannschaft spielt, findet sogar die CDU eine autofreie Stadt plötzlich ganz toll. Und beschweren tut sich auch keiner mehr, wenn in Biergärten nach 22 Uhr noch ein Glas klirrt.
Die Gastgeber sind stolz, die Stadt hat sich richtig rausgeputzt – und keine Kosten gescheut. Immerhin hat Berlin für die Fanmeilen am Brandenburger Tor und vor dem Bundestag mal eben 24 Millionen Euro ausgegeben. Die aktuellen Ausgaben für die EM – allein für die Spielorte – belaufen sich auf 295 Millionen Euro, wobei Berlin rund 40 Millionen Euro mehr zahlt als im Bewerbungsprozess 2017 ursprünglich kalkuliert. Die Zahlen, die sich Berlin durch die Fußball-Europameisterschaft 2024 an Gewinn verspricht, sind laut Recherchen von Correctiv und FragDenStaat nicht belastbar. Berliner Chaos halt. Die UEFA hingegen spricht von einem Rekordgewinn von 1,7 Milliarden Euro.
Deutschland, du bist kein Sommermärchen, du bist ein Fiebertraum, aus dem ich nur zu gerne aufwachen würde
2,6 Millionen Fans aus aller Welt werden erwartet, alleine in der Hauptstadt. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ und so – schöner Gedanke, doch in Zeiten, in denen rechtspopulistische Parteien in ganz Europa Rekordwerte erzielen, wirken solche Floskeln eher zynisch. Mir und den meisten meiner Freund:innen, vor allem den queeren und nicht-weißen unter ihnen, ist zur Zeit sowieso nicht wirklich zum Feiern zumute. Innenministerin Nancy Faeser sagt, die EM solle zum Zusammenhalt beitragen – doch Zusammenhalt für wen? Gerade erst haben sich noch alle über „Ausländer raus“-grölende Rolex-Faschos auf Sylt empört, als wären rechte Parolen in Deutschland im Jahr 2024 eine Überraschung. Eine Woche später wird die AfD in drei Berliner Bezirken stärkste Kraft, und wieder eine Woche später sollen wir uns alle vor Freude weinend in den Armen liegen, wenn die Nationalhymne erklingt? Deutschland, du bist kein Sommermärchen, du bist ein Fiebertraum, aus dem ich nur zu gerne aufwachen würde.
Eine Langzeitstudie findet keine positiven Effekte des sogenannten Partypatriotismus. Im Gegenteil: Laut den Forschern sei Deutschland nach der WM 2006 sogar leicht nationalistischer und fremdenfeindlicher eingestellt als vorher.
Einigkeit und Recht und Vielfalt – Die Nationalmannschaft zwischen Rassismus und Identifikation, ARD 2024
Apropos Sommermärchen: Die WM 2006, die so gerne als Beispiel für gelungene Völkerverständigung genannt wird, hatte auch eine dunkle Seite. Eine aktuelle ARD-Dokumentation zum Thema Vielfalt in der deutschen Nationalmannschaft zeigt unter anderem, wie zwiespältig die Erinnerung an den Sommer vor 18 Jahren ist. „Eine Langzeitstudie findet keine positiven Effekte des sogenannten Partypatriotismus. Im Gegenteil: Laut den Forschern sei Deutschland nach der WM 2006 sogar leicht nationalistischer und fremdenfeindlicher eingestellt als vorher“, heißt es in der Doku. Eine Perspektive, die selten mit erzählt wird, wenn das Bild der einheitsstiftenden „WM im eigenen Land“ gezeichnet wird. In einer Studie, die im Rahmen der Doku vom WDR selbst in Auftrag gegeben wurde, gaben 21 Prozent der Deutschen an, sich wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der Nationalmannschaft zu wünschen. Und jetzt erklärt mir bitte nochmal jemand, warum irgendwer vom Ergebnis der Europawahlen überrascht ist?
Kein Bock auf die EM: Zeit, dass sich was dreht
Auch Fußball-Hymnen haben mich seit Nelly Furtados „Força“ im Jahr 2004 nicht mehr begeistert. Erst recht nicht im Öffentlichen Nahverkehr. Überfüllte S-Bahnen sind immer ätzend, vor allem ab 30 Grad aufwärts. Noch unerträglicher wird es, wenn sie während der EM von feierwütigen, nach Schweiß und Bier stinkenden Fans frequentiert werden, die nur darauf gewartet haben, dass sie ihr „Wir-Gefühl“ endlich wieder uneingeschränkt in Schwarz-Rot-Goldene Gewänder packen können. Ich würde mich lieber mit einem deftigen Kopfball selber ausknocken, als mir das vier Wochen lang geben zu müssen. Oder lieber richtig schlimm umgegrätscht werden, als ein Deutschlandtrikot anzuziehen. Ja, von mir aus könnte man die EM einfach ausfallen lassen. Denn obwohl ich euch allen euer Sommermärchen gönnen möchte, fällt es mir schwer zu ignorieren, dass die Realität viel weniger romantisch ist. Es ist Zeit, dass sich was dreht. Aber hallo!
Trotzdem Bock auf die EM und neugierig, was drumherum so stattfindet? Wir zeigen euch die besten Kulturveranstaltungen zur EM in Berlin. Herzlich willkommen im Olympiastadion: Diese Spiele der Fußball-EM finden in Berlin statt. Völlig verwandelt ist der Platz der Republik dank Fanzone am Reichstag – unser Autor ist begeistert. Damit kollektive Fußball-Euphorie aufkommt, muss es nicht immer der Stadionbesuch sein: An diesen Orten in Berlin könnt ihr das beste Public Viewing genießen. Das Wichtige auf einen Blick: Hier ist der tipBerlin-Guide zur Fußball-EM 2024. Festivals, Konzerte oder Kunstevents – der Juni hält noch viel mehr bereit: Das sind die Highlights in Berlin im Juni. Spätestens in diesem Monat geht auch die Badesaison los. Wir haben für euch die schönsten Badeseen in Berlin rausgesucht. Wer zur Fußball-EM zu Gast in der Hauptstadt ist, sollte unbedingt diese 12 Berliner Orte ansehen, die Touristen oft nicht besuchen. Mehr Inspiration für Tagestrips findet ihr in unser Ausflüge-Rubrik.