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Berliner Humor

Stand-up-Comedy in Berlin: Soll das ein Witz sein?

Humor ist heikel geworden, oft umstritten. In der Hauptstadt wird so hart wie nirgendwo sonst in Deutschland am angeblich Unmöglichen getüftelt: Stand-up-Comedy in Berlin, die sensibel, aber trotzdem höllisch lustig ist. Wie witzig ist das wirklich? Eine Reportage von Finn Holitzka.

Stand-up-Comedy in Berlin: Einer der Stars ist Felix Lobrecht. Foto: Imago Images/Christoph Hardt/Future Image
Stand-up-Comedy in Berlin: Einer der Stars ist Felix Lobrecht. Foto: Imago Images/Christoph Hardt/Future Image

Wenn im Mad Monkey Room, eine der beliebtesten Stand-up-Comedy-Bühnen in Berlin, ein Comedian von der kleinen Bühne geht, dann kann man ihn im Backstage schon mal sagen hören: „Heute hab ich richtig gekillt.“ Killen, das ist Szene-Jargon und heißt: einen guten Auftritt haben. Die Leute zum Lachen bringen. Synonyme sind: „Der hat richtig gefickt.“ Oder: „Die hat richtig rasiert.“

Eine, die, wenn nicht gerade Corona-Lockdown ist, regelmäßig killt, ist Filiz Tasdan. Die 38-jährige Kreuzbergerin bespielt seit drei Jahren Läden wie den Mad Monkey Room in Prenzlauer Berg oder das Neuköllner Deriva. Kurz genug, um noch als Geheimtipp zu gelten, lang genug, um sich längst einen Namen in der Szene gemacht zu haben, die aus gut zwei Dutzend ambitionierten Comedians und Comediennes, einem Haufen Gelegenheitskomiker*innen und Freibierfans besteht.

Filiz Tasdan macht Stand-up-Comedy in Berlin. "Schnell denken, sich kurzfassen", das ist ihre Strategie. Foto: Mathis Burmeister
Filiz Tasdan macht Stand-up-Comedy in Berlin. „Schnell denken, sich kurzfassen“, das ist ihre Strategie. Foto: Mathis Burmeister

Gelernt hat Tasdan – dunkle Locken, zurückgelehnte Körperhaltung – in der Werbebranche. Der Spruch „Es heißt ja auch Erfolg und nicht Siefolg“ für Axel Springer fliegt ihr heute noch manchmal um die Ohren. Fürs Comedy-Handwerk trotzdem eine gute Schule, sagt Tasdan. „Man lernt, pointiert zu schreiben: Schnell denken, sich kurzfassen.“

Heute hat sie das perfektioniert: Die Boddinstraße etwa nennt sie „die hässliche Schwester vom Kotti“. Eigentlich wollte Tasdan die Werbung hinter sich lassen und mit Comedy voll durchstarten. Was dann dazwischen kam, war aber nicht nur eine Pandemie. Sondern auch eine Psychose.

Berlin ist eine Hochburg der Stand-up-Comedy

Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Comedy-Szene so sehr in Bewegung ist wie lange nicht. Zum einen, weil Berlin durch immer mehr „Open Mics“ zu einer deutschsprachigen Stand-up-Hochburg geworden ist. Und zum anderen, weil Humor überall so kritisch diskutiert wird wie noch nie.

Ob Kalauer über Doppelnamen oder Migrant*innen: Was in der Comedy lange als normal galt, bleibt immer seltener unwidersprochen.  „Es gibt Humor in Deutschland kaum mehr ohne Beipackzettel, ohne Begleitdebatte im Feuilleton“, schreibt der Journalist und Comedy-Experte Bernhard Hiergeist.

Ist das noch lustig, wenn der Lehramts-Satiriker Dieter Nuhr ein Buch der afrodeutschen Autorin Alice Hasters als „rassistisch“ und „scheinintellektuell“ bezeichnet, sie dabei aber versehentlich in den USA verortet? Kann sich Serdar Somuncu noch auf die Freiheit der Satire berufen, wenn er Schwarze Menschen – wie im vergangenen Jahr in einem RBB-Podcast – als N**** bezeichnet? Ist die Wienerin Lisa Eckhart genial doppelbödig oder reißt sie schlicht doofe Judenwitze?

Zeitweise gab es kaum Woche ohne Debatten über Moralfragen und „Cancel Culture“. „Wir reden eigentlich immer nur über Humor, wenn es damit ein Problem gibt“, stellte der Moderator Julius Stucke unlängst im Deutschlandfunk fest. Hoffnung auf kluge, sensible und trotzdem lustige Comedy kommt nun aus Berlin.

Felix Lobrecht ist jetzt auf Netflix – der Großteil der Stand-up-Comedy-Show entstand in Berlin

Beim Deutschen Comedy-Preis, der bislang oft inzestuösen Branchenfeier, konnte man im vergangenen Oktober diese Entwicklung beobachten. Als Meister*innen ihres Fachs wurden nämlich zwei Künstler*innen ausgezeichnet, die deutlich mehr mit anspruchsvoller Stand-up-Comedy zu tun haben als mit 20.15-Uhr-Clownerie: Beste Komikerin wurde die Schweizerin Hazel Brugger, bester Komiker Felix Lobrecht aus Gropiusstadt. Der ist zwar auch durch Poetry Slam und Podcasts bekannt geworden, sein Erfolg ist ohne die Berliner Amateurbühnen aber schwer vorstellbar.

Felix Lobrecht hat mit seiner Stand-up-Comedy den Sprung auf Netflix geschafft

Lobrecht hat eine abendfüllende Live-Show bei Netflix – ein moderner Ritterschlag für Comedians. 80 Prozent der Show aus Lobrechts Programm „HYPE“ sind auf kleinen Bühnen Berlins entstanden und gewachsen, wie er sagt. Schon einen Tag nach der Verleihung des Comedypreises stand Felix Lobrecht wieder vor einer Handvoll Leuten in Berlin und hat neue Witze getestet.

Weil Bühnen wie der Mad Monkey Room einen Raum zum Ausprobieren, zum Scheitern, zum Besserwerden bieten. In ihrer Fülle sind diese Orte ein bundesweit einzigartiges Laboratorium, in der sich die Zukunft des deutschen Humors formt.

Die britische und amerikanische Stand-up-Tradition wird in Berlin von Expats gepflegt

Als im März 2020 die erste Corona-Welle anrollte, geriet der Alltag von Filiz Tasdan aus den Fugen. Eine lange Episode manischer Schlaflosigkeit, so erzählt sie heute, habe sie psychotisch werden lassen. Es folgten sechs Monate Behandlung, davon ein Monat stationär. „Ich hatte eine bipolare Störung“, sagt sie am Telefon. „Wobei – das ist ja eigentlich auch nur ein cooles Wort für manisch-depressiv.“ Heute erzählt Filiz Tasdan Witze darüber. Worüber auch sonst – sie habe einfach nichts anderes erlebt im letzten halben Jahr.

In der Berliner Szene herrscht eine andere Auffassung von Stand-up-Comedy vor als im deutschen TV-Mainstream. Oder könnte sich jemand vorstellen, dass Maddin Schneider über psychische Gesundheit spricht? „Das hat man sonst in deutscher Comedy nicht, dass jemand Witze über seine Schwächen macht“, sagt Tasdan. „Das kennt man eher von den Amis.“

Tatsächlich entspricht ihr Ansatz der Tradition aus den USA oder Großbritannien. Die wurde in Berlin lange vor allem von Expats hochgehalten: Seit 2012 gibt es die englischsprachige Stand-up-Bühne „We Are Not Gemüsed“ im Neuköllner Sameheads.

Fixsterne aus Großbritannien und Amerika

Spricht man mit Berliner Comedians, so werden immer wieder englischsprachige Künstler*innen als Fixsterne genannt – viele von ihnen mit autobiografischen Ansätzen. Zum Beispiel der rassismuskritische Afroamerikaner Dave Chapelle. Oder die Australierin Hannah Gadsby, die im schon jetzt legendären Programm „Nanette“ von 2017 ihre Homosexualität thematisierte.

„Ich dachte lange: So was gibt’s halt nur in Amerika“, sagt Tasdan. „Aber dann hab ich hier zwei Jungs gesehen, die das auch auf Deutsch cool gemacht haben und dachte mir: Das probier‘ ich jetzt auch.“ Die Namen der Jungs: Kawus Kalantar und Daniel Wolfson. Zwei, ohne die es die Berliner Stand-up-Szene in ihrer jetzigen Form womöglich nicht gäbe.

Kawus Kalantar in der Mad Monkey Bar: immer mehr Plätze zum Trainieren. Foto: Nina Böhm

Am 12. Januar 2015 findet das erste deutschsprachige Comedy-Open-Mic Berlins statt, in der Neuköllner Kneipe Lagari. Der Philosophiestudent Daniel Wolfson moderiert die Premierenausgabe von „Bam!“ gemeinsam mit seinem Kumpel Dominic Jozwiak. „Wir waren noch nicht gut und am Anfang kamen vor allem Freunde und ein ehemaliger Lehrer“, sagt Wolfson heute. Aber trotzdem: Die Bewegung war losgetreten.

Neben Wolfson und Jozwiak, die moderierten, kamen bald auch die Comedians wie Kawus Kalantar. Beseelt von der ersten „Bam!“-Ausgabe, gründeten sie in rascher Folge weitere Bühnen. Schon ein gutes Jahr später konnte man in Berlin vier bis fünfmal pro Woche auftreten – ohne Gage zwar und meist nur vor kleinem Publikum, dafür aber mit der stetigen Chance auf Übung und Bühnenerfahrung.

„Man muss sich das vorstellen wie beim Fußball“, sagt Kawus Kalantar heute, „du kannst nicht besser werden, wenn es nirgendwo ein Tor und einen Fußballplatz gibt. Und auf einmal gab es dann vier Plätze und mehr, wo wir trainieren konnten.“

Am Anfang kamen nur Freunde und ein ehemaliger Lehrer zu Dominic Jozwiaks Stand-up-Comedy-Shows. Foto: Nina Böhm
Am Anfang kamen nur Freunde und ein ehemaliger Lehrer zu Dominic Jozwiaks Stand-up-Comedy-Shows. Foto: Nina Böhm

Vor dem Lockdown konnten Comedians ihre sogenannten Bits, also längere Segmente zu einem Thema, jeden Tag präsentieren, an manchen Abenden sogar zwei- oder dreimal in verschiedenen Locations – und danach umschreiben, schleifen oder verwerfen, je nach Reaktion des „Testpublikums“.

Und weil man in Deutschland nirgendwo so oft auftreten könne wie in Berlin, entstünden hier auch die originellsten Bits. So zumindest das Selbstverständnis der Hauptstadt-Szene.

Berlins subversiver Humor reicht weit zurück

Einen subversiven Humor pflegt man in Berlin schon lange. In den 1920ern prägen burlesque Figuren wie die lesbische Sängerin Claire Waldoff die Abendunterhaltung – mit Chanson-Texten von Kurt Tucholsky. Auch die parodistische Finesse der „Comedian Harmonists“ reift in dieser Zeit. Drei von ihnen sind Juden, wie so viele Humoristen der Ära.

Die Nationalsozialisten schalten ab den Dreißigern auch den Kulturbetrieb gleich – Werner Finck, Leiter der Kabarett-Bühne „Katakombe“, verschleppen sie 1935 in ein Konzentrationslager in Esterwegen. So dauert es auch nach Kriegsende lange, bis sich der Berliner Witz wieder berappelt – beaufsichtigt von den Alliierten.

West-Berliner Kabarett Die Stachelschweine mit dem legendären Wolfgang Gruner (l.). Foto: imago images/United Archives

Der Nachkriegshumor steht im Zeichen der Entnazifizierung. Es entstehen Ensembles mit demokratischem Bildungsauftrag im Westen („Die Stachelschweine“, 1949) und ein kommunistisches Gegenkabarett im Osten: („Die Distel“ 1953). In der geteilten Stadt, damals auch noch mit echten frostigen Wintern, blüht die Berliner Unfreundlichkeit – als Maximalkontrast etwa zum rheinischen Frohsinn. „Der einheimische Witz gibt sich zuweilen so ungetarnt aggressiv, dass kaum noch eine Pointe zu erkennen ist“, schrieb der Historiker Lothar Binger Anfang der 2000er.

Herb, schnoddrig, solche Bezeichnungen haben sich für den Berliner Humor eingebürgert, personifiziert durch den Schriftsteller Max Goldt oder die wandelnde Anmaßung Kurt Krömer (einer unserer Berliner Helden 2020). Auch junge Social-Media-Humorist*innen wie die Autorin Ilona Hartmann, die ihre Gags auf Twitter abfeuern, prägen einen anarchischen und selbstironischen Ton.

Stand-up-Comedy in Berlin ist trocken, böse und rotzig

Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch die aktuelle Generation sagt: In Berlin ist Stand-up-Comedy besonders trocken, böse und rotzig. „Der Humor ist spitz und dunkel. Im Gegensatz zu Köln machen die Künstler*innen hier kaum Act Outs“, sagt der Comedian Aurel Mertz, der seine eigene Sitcom beim ZDF-Jugendformat „Funk“ hat. Act Outs, damit meint er kleine Schauspieleinlagen, Körperklamauk, wie man ihn von den Derwischen aus dem Fernsehen kennt.

Es ist 17 Uhr an einem nieseligen Oktobersamstag des vergangenen Jahres, als Till Reiners in einer Freiburger Backstage-Räumlichkeit ans Handy geht. Der Berliner ist auf Tour mit seinem dritten Programm „Bescheidenheit“, gleich wird er es zweimal hintereinander im Kleinkunsttheater „Vorderhaus“ spielen. Beide Vorstellungen sind ausverkauft. Was macht man in so einem Moment? „Ich putz mir die Zähne und bin unruhig“, sagt Reiners. Es ist die routinierte Unruhe eines Berufscomedians.

Till Reiners: Vor dem Lockdown war er mit seinem Programm „Bescheidenheit“ auf Tour. Foto: Esra Rotthoff

Reiners, 35 Jahre alt und früher Slampoet, dann Hoffnung des deutschen Kabaretts, verdient seinen Lebensunterhalt mit Witzigsein. In seinen Bits spricht er regelmäßig über Leistungsgesellschaft, Geld und Arbeit. Einer seiner Witze geht so: „In Berlin erklär’ ich den Leuten immer: Arbeit, das ist wie’n Projekt – aber man macht’s wirklich.“

Stand-up-Comedy ist für Reiners, der sowohl auf 3sat als auch Comedy Central gefragt ist, die spannendste Disziplin: „Du hast diese Unmittelbarkeit, du musst sehr klar formulieren. Man ist nah dran am Publikum und an sich selbst.“ Es gibt weder ein Textblatt wie beim Poetry Slam, noch einen didaktischen Überbau wie beim Kabarett.

„Stand-up ist oft mehr auf Augenhöhe, nicht so von oben herab. Und trotzdem kannst du ja was vermitteln“, sagt Reiners. „Ich rede auch über meinen inneren Christian Lindner und über Zynismus und Moral. Aber ich will mich eben nicht über das Publikum stellen.“

Worüber man Witze machen darf, darüber empöre man sich eher im Internet, sagt Kawus Kalantar

Eine Haltung, die weit verbreitet ist unter Stand-up-Comedians: Bloß nicht zu erzieherisch rüberkommen. „Everything for the joke“ ist das Credo. Hauptsache, es ist lustig. Einerseits befreiend, wie Till Reiners meint. „Du kannst auch mal einen Witz über Grapefruits erzählen, ohne gleich kabarettmäßig zu fragen: Aber wo wird sie denn angebaut, wie wird sie denn produziert, die Grapefruit?“

Andererseits liegt in der tief verwurzelten Skepsis gegenüber didaktischem Humor oder der Idee vom moralischen „Auftrag“ der Kunst auch eine Gefahr für den Stand-up: Diskussionen um sexistischen oder rassistischen Humor werden so gerne mal als unlauterer Eingriff in die kreativen Prozesse gewertet.

„Politische Korrektheit“, ohnehin längst ein Kampfbegriff, stößt bei vielen auf Ablehnung. Kawus Kalantar, Szenemitglied der ersten Stunde, begründet das so: „Ich halte das für eine neue Prüderie. Es ist ein subjektives Maß, das als objektiv verkauft wird.“

Worüber man noch Witze machen dürfe, darüber empöre man sich seiner Meinung nach vor allem im Internet – „bei den Live-Shows reden wir da quasi über gar nichts.“ Viele halten die Frage nach den Grenzen des Humors schlicht für aufgeblasen.

„Bam!“-Gründer und Comedian Daniel Wolfson sagt: „In der Comedy haben wir ja schon eher aufgeschlossene, liberale Menschen. Es gibt keine menschenverachteten Comedians, keiner geht zum Open Mic, um zu hetzen.“

Die Open-Mic-Szene ist diverser geworden, aber nicht frei von Ressentiments

Während Dieter Nuhr über Rassismus gegen Weiße wettert, wird die Humorlandschaft in Berlin vielfältiger, ihre Protagonist*innen sensibler. Der nicht eben zimperliche Oliver Polak etwa moderiert das Talkformat „Besser als Krieg“ (auch als Podcast auf Radioeins; weitere Berliner Podcasts findet ihr hier), in dem Gäste wie die linke Autorin Fatma Aydemir oder die Sängerin Joy Denalane zu Wort kommen.

Auch die Open-Mic-Szene und ihr Publikum sind heute diverser als früher, aber nicht frei von Ressentiments. „Man merkt, dass rassistische, sexistische oder homophobe Stereotypen immer noch großen Zuspruch beim Publikum finden – wo man sich immer wieder erschreckt und denkt: Es ist 2020, das kann eigentlich nicht sein“, sagt die Comedienne Freddi Gralle.

Eine ihrer Kolleginnen, die nicht namentlich genannt werden möchte, wird noch drastischer: „Ich empfinde Comedy als auftretende Frau immer noch als extrem sexistisch und unangenehm: sowohl das Publikum als auch die Menschen auf der Bühne.“ Gerade bei Open Mics gehe es manchmal „absurd rassistisch“ zu: „Und die jungen Schwaben im Publikum klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Da ist man in der Comedy noch extrem weit zurück.“

Wie polarisierend darf Humor sein?

Vor polarisierenden Ausdrücken zuckt auch der Topseller Felix Lobrecht nicht zurück. 350.000 Menschen haben laut eigenen Angaben seine letzte Tour besucht, er ist einer der Berliner Comedians mit der größten Reichweite – aber trotzdem sieht er kein Problem darin, bei Witzen über Frauen „Fotze“ zu sagen. Er begrüße es zwar, wenn die Szene in Sachen Sensibilität an sich arbeite und die Akteure sich hinterfragen. Aber: „Das bezieht sich auf die Strukturen und das Drumherum. Die Inhalte müssen frei davon sein. Kunst- und Redefreiheit sind für Comedians die höchsten Güter.“

Ein beliebtes Gegenargument: Manche Äußerungen seien nicht nur eine bloße Meinung, sondern provozieren Handlungen. Wer in einem vollbesetzten Theatersaal „Feuer!“ brüllt, ohne dass es brennt, äußere nicht seine Meinung, sondern riskiere Tumult und Verletzungen. So sei das eben auch, wenn Comedians wie Serdar Somuncu das N-Wort verwenden: Kann man machen, ist aber verletzend.

Allerdings haben viele Menschen, über die man früher gelacht, die man leichtfertig verletzt hat, nun die Öffentlichkeit, Comedy aus ihrer eigenen Perspektive zu machen. Das verschiebt die Kräfteverhältnisse.

Stand-up-Comedy in Berlin: "Comedy ist immer eine Gratwanderung", sagt Aurel Mertz. Foto: Max Motel
„Comedy ist immer eine Gratwanderung“, sagt Aurel Mertz. Foto: Max Motel

Der junge Schwarze Comedian Aurel Mertz, der zwischen Stand-up und Comedy für die Kamera pendelt, hat nach dem Mord an George Floyd einen Sketch produziert, in dem er von einem Polizisten erschossen wird. Viele waren entsetzt und sahen die Polizei diffamiert.

„Comedy darf und muss provozieren und ist immer eine Gratwanderung. Der Zeitgeist verlangt aktuell aber eine gewisse Sensibilität gegenüber denen, die zu lange benachteiligt wurden“, sagt er. „Problematisch wird es, wenn Künstler*innen ihre Comedy ausschließlich auf Kosten von Minderheiten machen.“

Sich selbst zum Cartoon zu machen, das war lange das Selbstverständnis von Stand-up-Comedy in Deutschland

Das Wichtigste dabei, noch so ein englisch ausgesprochener Szene-Begriff: Nicht „hack“ zu sein. Wer „hack“ ist, erklärt Open-Mic-Gründer Daniel Wolfson, macht nicht Witze, sondern sich zur Witzfigur. „So hat deutsche Comedy lange funktioniert: Da haben sich Schwule zu ‚dem Schwulen‘ gemacht oder Menschen mit Migrationshintergrund zu ‚dem Ausländer‘ reduziert. Man hat aus sich selbst einen Cartoon gezeichnet.“

Dadurch würden sexistische oder rassistische Klischees reproduziert. Auf der Bühne stehen dann „keine Menschen, sondern Schablonen“, meint Comedy-Experte Bernhard Hiergeist. Viele in der Berliner Szene versuchen letztlich das Gegenteil: nämlich dreidimensionale Bühnencharaktere zu entwickeln.

Spannende Stand-up-Comedy muss von unten kommen

Ob sie bei ihren Experimenten noch lange unter sich bleiben, ist fraglich. Das Kölner Millionen-Unternehmen Brainpool hat mit seinem „Comedy Studio Berlin“ im Nachtclub Lido schon ein hell ausgeleuchtetes Live-Format an den Start gebracht, das von den heimischen Comedians teilweise argwöhnisch beäugt wird – weil es ein Kontrastprogramm zur Graswurzelbewegung im Mad Monkey Room und anderswo ist.

Es spricht jedoch einiges dafür, dass aus dem Wunsch nach Abgrenzung zu Mainstream-Comedy und Kabarett auch langfristig etwas Neues wächst. In einer Stadt, die auch in Sachen Humor mehr und mehr durchgentrifiziert wird; in der selbst die Verkehrsbetriebe Witze auf die U-Bahnen drucken, muss die spannendste Comedy vielleicht von unten kommen: von Amateur*innen, die dreimal pro Woche für Freibier auftreten. Die das Ausprobieren dem sicheren Weg vorziehen. Die – und das ist die letzte Szene-Vokabel für diesen Text – auch mal in Kauf nehmen zu „bomben“, also zu scheitern. Um anschließend zu killen.


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