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Interview

Star-Anwalt Stefan König erklärt, warum er Justizopfer retten will

Er verteidigte Erich Mielke in den 90ern, später den Rapper Fler: Stefan König ist einer von Berlins Star-Anwälten. In Berlin-Kreuzberg führt der promovierte Jurist eine Kanzlei, unter anderen mit Johannes Eisenberg, der auch als Justiziar der „taz“ bekannt geworden ist. Jetzt will Stefan König, der zwischen 2006 und 2016 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins war, unschuldige Menschen aus den Fängen der Justiz befreien. Dafür hat er mit anderen Juristen „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ gegründet, ein Hilfsprojekt, das Leuten eine Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren ermöglichen soll. Hier spricht er über die Rolle der Richter, falsche DNA-Analysen und Gerechtigkeit

Stefan König in seiner Kreuzberger Kanzlei: Manchmal erreicht mah erst Gerechtigkeit, wenn ein Gerichtsverfahren neu aufgerollt wird. Foto: Jana Vollmer

Stefan König: „Ich denke nicht selten, dass ein Gericht falsch entschieden hat“

tipBerlin Herr König, mit Kollegen haben Sie das Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ gegründet, angelehnt an das „Innocence Project“ in den USA. Es ist die erste Initiative dieser Art in Deutschland: Erfahrene Anwälte sowie Nachwuchsjuristen sollen Menschen, die zu Unrecht verurteilt worden sind, zur Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens verhelfen. Was hat dieses Engagement mit Ihren persönlichen Erfahrungen als Strafverteidiger zu tun?

Stefan König Als Verteidiger denke ich nicht selten, dass ein Gericht falsch entschieden hat. Und trotzdem ist sein Urteil rechtskräftig geworden. Entweder geht es dabei um die Frage, ob ein Verurteilter überhaupt schuldig ist – oder um die Wertung der Schuld, ob jemand also ein schwerwiegendes oder weniger schwerwiegendes Delikt begangen hat, beispielsweise Raub oder lediglich Diebstahl. Ich mache ja selbst Fehler – auch wenn ich nicht jemand bin, der ständig über die eigenen Füße stolpert. Und Richter, die wohl nicht weniger sorgfältig sind als ich, machen eben genauso manchmal Fehler.

tipBerlin Als Jurist kennen Sie sicher Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Da ist gleich zu Beginn von einem Justizirrtum die Rede: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Haben Sie einmal einen Mandanten betreut, der wegen eines tyrannischen Rechtsapparats eine große Ohnmacht empfand? Wie Kafkas literarische Figur?

Stefan König Dass jemand auf einmal von der Polizei verhaftet wird, und zwar wie in Kafkas Roman ohne irgendwelche Anhaltspunkte, die auf eine Straftat hinweisen könnten, daran kann ich mich nicht erinnern. In einem Land, wo Staatsterrorismus das Rechtssystem prägt, leben wir nicht. Wenn hierzulande jemand verhaftet wird – vielleicht irrtümlicherweise –, gibt es zumindest etwas, das den Verdacht erst mal aus Sicht der Ermittler generiert hat.

Star-Anwalt König findet: „Es mangelt an einer Fehlerkultur“

tipBerlin Gab es einen Fall, der Sie persönlich sehr umgetrieben hat?

Stefan König Mir fällt ein Mandant ein, der lange Zeit in Untersuchungshaft saß. Er war angeklagt wegen Mordes wegen einer DNA-Spur, die zunächst auf ihn hinwies. Die DNA-Probe wurde noch einmal von einem anderen Molekularbiologen untersucht, und dessen Gutachten kam zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen wie das Resultat der Polizei. Das hat zum Freispruch geführt. Heute gilt die DNA-Analyse im Strafprozess als hundertprozentig zuverlässiges Verfahren. Seinerzeit, in den 90er-Jahren, als die Technologie noch relativ neu war, gingen häufiger Fälle von Laborfehlern durch die Presse. Es wurden Proben vertauscht, kontaminiert oder sonst etwas. Noch immer ist das hochsensible Verfahren fehleranfällig. Und immer noch spielt die Frage eine wichtige Rolle, wie die Spur dorthin gekommen ist, wo sie gefunden wurde.

tipBerlin In den USA gibt es schon seit 1992 das „Innocence Project“, ins Leben gerufen von den New Yorker Strafverteidigern Barry Scheck und Peter Neufeld. Es dient dem deutschen Projekt als Vorbild. Dank des amerikanischen Kollektivs sind in den Vereinigten Staaten schon rund 350 irrtümlich verurteilte Menschen rehabilitiert worden – in einem Land übrigens, in dem die Schätzungen zum Anteil der Fehlurteile an allen Urteilen zwischen 0,5 und fünf Prozent schwanken. Wie steht es um die Fehlerkultur im deutschen Rechtssystem?

Stefan König An einer Fehlerkultur mangelt es in der deutschen Justiz weitgehend. Das ist aber kein deutsches Spezifikum. Die Zahl der erfolgreichen Wiederaufnahmen von Strafverfahren ist in zum Beispiel Frankreich vermutlich noch geringer als bei uns. Belastbare Zahlen gibt es dazu nicht. Statistiken über erfolgreiche Wiederaufnahmen existieren hierzulande nicht. In den USA gibt es in den Staatsanwaltschaften einiger Distrikte sogar Abteilungen, die nichts anderes tun, als Urteile dahingehend zu überprüfen, ob eine Wiederaufnahme durchgeführt werden müsste.

Stefan König kritisiert das Verhalten der Richter

tipBerlin Hängt diese Unantastbarkeit damit zusammen, dass die Autoritätsfigur des Richters hierzulande überhöht wird?

Stefan König Das hat viel mit dem Selbstverständnis der Richterschaft zu tun. Man gibt ungern zu, daneben gelegen zu haben. Viele Richter denken vielleicht, sich diese Fehlbarkeit nicht leisten zu können, weil sie fürchten, dass das ihre gesellschaftliche Funktion in Frage stellt.

tipBerlin Was war eigentlich das größte Fehlurteil in der Nachkriegsgeschichte der Berliner Justiz?

Stefan König Superlative lassen sich da nicht bilden. Berühmt ist der Fall von Monika de Montgazon. Sie wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt, weil sie angeblich das Haus, in dem sie zusammen mit ihrem Vater lebte, mit Hilfe von Brennspiritus in Brand gesetzt hatte. Der Vater starb in den Flammen. Der Vorwurf wurde auf zwei Gutachten des Landeskriminalamts zu den Brandursachen gestützt. Nachdem sich herausstellte, dass sie unzutreffend waren, wurde sie freigesprochen. Sie saß 889 Tage unschuldig in Haft. Am Ende stellte sich heraus, dass wahrscheinlich eine Zigarette des Vaters das Feuer ausgelöst hatte. Dieses Fehlurteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, sondern nach einer erfolgreichen Revision korrigiert. Ein Wiederaufnahmeverfahren war also nicht erforderlich.

Star-Anwalt Stefan König erklärt, warum er Justizopfer retten will
Größter Justizirrtum der Berliner Nachkriegsgeschichte: Die Arzthelferin Monika de Montgazon wurde 2005 zu Unrecht zu lebenslanger Haft wegen Mords veruteilt. Foto: Imago/Thomas Lebie

tipBerlin Das Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ hat eine Website namens „wiederaufahme.com“ errichtet. Dort können Menschen, die sich für Justizopfer halten, ihre Fälle einreichen. Woran machen Ihre Kollegen und Sie fest, ob Sie einen Fall annehmen?

Stefan König Wir senden den Anfragenden zunächst einen Fragebogen. Darin werden Details zum Urteil eingetragen, darunter auch, ob es bereits rechtskräftig ist oder noch ein Rechtsmittel läuft. Wir fragen die Leute auch, ob es neue Tatsachen und/oder Beweismittel gibt, die man im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens präsentieren könnte. Eine neue Beweislage ist der allerhäufigste Weg, um eine Wiederaufnahme herbeizuführen. Wir wollen dann wissen: Was habt ihr denn? Gibt es beispielsweise Zeugen, die nicht berücksichtigt wurden? Oder Tatsachen, die das Gericht nicht kannte? Manchmal kriegen wir natürlich auch Anfragen, die aus unterschiedlichen Gründen offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben. So etwas wird aussortiert.

tipBerlin Wer schaut sich die Fälle an?

Stefan König Jura-Studierende sichten in so genannten law clinics die Fälle, jeweils unter Anleitung von Anwälten. Wir sind dabei mit mehreren Universitäten vernetzt, der FU in Berlin, den Universitäten in Augsburg, in Köln, in Frankfurt (Oder) und Greifswald zum Beispiel. Mit weiteren stehen wir in Kontakt. Ich selbst betreue als dortiger Honorarprofessor ein Projekt an der Universität Göttingen. Wenn eine Gruppe zum Ergebnis kommt, dass es einen Anlass zu einem Wiederaufnahmeverfahren gibt, wird das Ganze abgegeben – an eine Anwältin oder einen Anwalt in der Nähe der Haftanstalt, in der die hilfesuchende Person, wie meistens, einsitzt. Wir haben für diese Aufgabe ein Netzwerk von motivierten Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern in ganz Deutschland.

Star-Anwalt König hält bessere Gutachten für wichtig bei neu aufgerollten Fällen

tipBerlin Und wie geht es weiter?

Stefan König Eine Möglichkeit ist, dass der zuständige Anwalt einfach sagt, das reicht alles nicht! Die zweite Möglichkeit: Er hält eine Wiederaufnahme für möglich. Er oder sie kann sich schon für die Vorbereitung eines solchen Antrags als Pflichtverteidiger von dem für das Wiederaufnahmeverfahren zuständigen Gericht beiordnen lassen. Das setzt unter anderem voraus, dass Umstände vorgetragen werden, die erwarten lassen, weitere Nachforschungen könnten zu neuen Tatsachen und/oder Beweismitteln führen, auf die ein Wiederaufnahmeantrag gestützt werden kann. Das haben wir bereits in einem Fall erreicht und arbeiten in weiteren daran.

tipBerlin Welche Hürden tun sich auf?

Stefan König Ein großes Problem vieler verurteilter Menschen, die ihre Fälle neu aufrollen wollen: Sie haben kein Geld. Ihre finanziellen Mittel – wenn sie sie hatten – haben sie schon für ihre ursprüngliche Verteidigung vor Gericht ausgegeben, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat. Es fehlt ihnen daher auch am Geld, um beispielsweise Sachverständigengutachten zu finanzieren, die für die Wiederaufnahme nötig sind.

tipBerlin Wie löst man dieses Dilemma?

Stefan König Wir versuchen, nach einer Beiordnung für die Vorbereitung der Wiederaufnahme zum Beispiel die Kosten für Gutachten von der Justiz finanziert zu bekommen. Das ist nach neuer Rechtslage aussichtsreicher als früher. Es gibt bereits Gerichtsentscheidungen, die das bestätigen. Wir wollen weitere Präzedenzfälle schaffen, etwa die Mittel für ein Gutachten für eine Brandursache oder für ein Fasergutachten. Daneben wollen wir auch Spenden sammeln und sind gerade dabei, als gemeinnützig anerkannt zu werden.

Warum nehmen Anwälte wenig lukrative Verfahren an?

Das „Innocence Project“ in den USA ist Vorbild für den deutschen Verein „Fehlurteul und Wiederaufnahme“. Dank der amerikanischen Hilfsorganisation sind in den USA schon viele Unschuldige rehabilitiert worden. Wie etwa Willie Pete Williams, der zu Unrecht zu einer 21-jährugen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Ihm war fälschlicherweise Vergewaltigung vorgeworfen worden. Foto: Bita Honarvar

tipBerlin Was ist das für ein Anwaltstyp, der sich in diesen wenig lukrativen Verfahren so aufreibt? Zum Krösus wird kein Jurist mit solchen Mandaten…

Stefan König Es gibt auch renommierte und gewöhnlich teure Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, die solche Mandate übernehmen, auch bei unserem Projekt. Sie setzen sich auch für Mittellose ein.

tipBerlin Es geht um Gerechtigkeitsempfinden…

Stefan König Genau. Das kann auch etablierte Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger veranlassen, ein solches Mandat für wenig Geld zu übernehmen. Es gibt natürlich auch junge Anwältinnen oder Anwälte, die Wiederaufnahmeverfahren aus professionellen Gründen spannend finden – und sich außerdem vielleicht denken, dass ein juristischer Erfolg ihre Reputation erhöhen könnte. Die Anwälte, die die Studierendengruppen betreuen, tun das bislang pro bono.

tipBerlin Um was für Delikte handelt es sich in Ihrem Online-Briefkasten?

Stefan König Sexual- und Tötungsdelikte bilden den Schwerpunkt der Anfragen. Einzelne Vermögensdelikte sind auch dabei, etwa Raub und räuberische Erpressung. Wirtschaftsstraftaten erreichen uns eher selten. Ein eingereichter Fall, der sich in Berlin zugetragen hat, ist mir nicht bekannt. Ich kenne aber auch nicht alle Anfragen.

„Beim Wiederaufnahmeverfahren besteht Reformstau“, sagt Star-Anwalt König

tipBerlin Das „Innocence Project“ soll auch Lobbygruppe sein, die sich für Justizreformen stark macht…

Stefan König Das haben wir vor. Noch stehen wir am Anfang unserer Arbeit. Beim  Wiederaufnahmeverfahren besteht erheblicher Reformstau. Es wäre zum Beispiel eine große Hilfe, wenn die Staatsanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen zur Unterstützung des Antragstellers verpflichtet wäre. Sie hat viel wirksamere Mittel, Ermittlungen anzustellen, zum Beispiel einen Zeugen zu ermitteln. Hilfreich für das Wiederaufnahmeverfahren wäre auch die jetzt geplante Einführung einer audio-visuellen Dokumentation der Gerichtsverhandlungen vor den Landgerichten. Dort werden in erster Instanz die besonders schweren Vorwürfe verhandelt.

Gegen ihre Urteile gibt es nur das Rechtsmittel der Revision, mit dem lediglich Rechtsfehler beanstandet werden können. Aussagen, die Zeuginnen und Zeugen vor dem Landgericht machen, werden aber weder inhaltlich noch wörtlich protokolliert. Eine lückenlose Dokumentation würde es in vielen Fällen erst möglich machen, festzustellen, was in der Gerichtsverhandlung erörtert wurde und was im Urteil unberücksichtigt blieb. Darüber hinaus wollen wir uns dort, wo Fehlurteile decouvriert werden, auch mit deren Ursachen befassen. Auch das kann – nach dem Vorbild des „Innocence Projects“ – Grundlage für Reformanstöße sein.

Star-Anwalt Stefan König erklärt, warum er Justizopfer retten will
Strafverteidiger Stefan König im Interview mit tipBerlin-Reporter Philipp Wurm, links im Bild ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Anwalts. Foto: Jana Vollmer

tipBerlin In der medialen Darstellung von Kriminalfällen gibt es einen fast endlosen Hype um True-Crime-Serien. Ein Thema sind häufig umstrittene Gerichtsurteile, wie etwa in der Doku-Serie „Making a Murderer“, einer sehr erfolgreichen Netflix-Produktion aus den Vereinigten Staaten. Können solche Formate für das Problem sensibilisieren?

Stefan König Solche Serien können ein Verständnis dafür wecken, dass Beweisführungen kompliziert und fehleranfällig sind. Andererseits kann so etwas auch zum Wunsch führen, dass Gerichte möglichst viele Leute verurteilen. Nach dem Motto: Irgendeinen Schuldigen muss es geben! Gerade bei Verfahren, die große öffentliche Aufmerksamkeit erzielen, liest man in Sozialen Medien ja immer wieder sogar Diskussionen über die Wiedereinführung der Todesstrafe.

tipBerlin Sie selbst sind ein renommierter Strafverteidiger – schon seit 1985 sind Sie in Berlin als Anwalt dabei. Denken Sie manchmal daran, sich aus dem ganzen Stress zurückzuziehen, etwa in ein Häuschen in der Uckermark mit Sicht auf den Sonnenuntergang?

Stefan König Ich habe ein Häuschen im Umland – mit Panoramablick auf den Sonnenaufgang am See. Ich bin aber immer noch ein viel beschäftigter Verteidiger. Zum Glück habe ich erstklassige Mitarbeiter und sehr kompetente Kollegen. Dadurch finde ich auch Zeit für Initiativen mit gesellschaftlicher Breitenwirkung wie das Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“.

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Ein Experte, der viel weiß über Schauplätze des Verbrechens, ist Jens Dobler, der Leiter der Polizeihistorischen Sammlung im Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke. Wie kaum ein anderer kennt Jens Dobler die Details der spektakulärsten Kriminalfälle der Berliner Justizgeschichte. Jenseits historischer Rückblicke wird mit Blick auf die Berliner Polizei oft darüber diskutiert, ob die Ermittlungsbehörden ein Rassismusproblem haben. Ebenso umstritten: die geplante Polizeiwache am Kottbusser Tor, die 4,2 Millionen Euro kosten soll. Ob politisch, historisch oder zeitgeistig: In unserer Stadtleben-Rubrik gibt’s immer frische Berlin-Geschichten.

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