Es ist eine kontroverse, unbequeme Ansicht, aber im Kern hat Martina Renner recht. Das ist schwierig zu sagen, weil auch unser tip berlin davon lebt, das Luxusgut Kultur in Form von Veranstaltungen als Hauptthema zu betrachten. Und nun ebenfalls den Menschen Tipps geben, wie sie ihre freie Zeit nutzen können. #StayHome ist das Motto der Stunde. Bleib zu Hause – und beschäftige dich bitte mit dir selbst.
Martina Renner ist stellvertretende Parteivorsitzende der Linke und hatte am Sonntag auf Twitter in wenigen Zeichen das System in Frage gestellt, in dem viele von uns praktizieren. „Ich finde die ganzen Tips was man Tolles zu Hause machen kann borniert.“, hatte sie geschrieben, und sich auf Sprachen lernen, Yoga und komplizierte Rezepte kochen bezogen. „Das ist die Lebensrealität einer gut situierten Minderheit.“ Ihr Fazit: „#stayathome gut finden ist auch eine Klassenfrage.“
Corona als Klassenfrage: Welche Oper Carmen streamt, ist scheißegal
Renner hat in dem Sinne absolut Recht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen um ihre Existenz bangen und denen, mit Verlaub, scheißegal ist, welche Oper und welcher Club nun gerade Carmen oder ein DJ-Set streamt.
Renner kennt die enormen Summen, mit denen Bund und Länder nun hantieren, um schnellstmöglich möglichst vielen Menschen irgendwie einen finanziellen Halt zu geben. Und sehr sicher kennt sie auch die Zahlen, die zeigen, dass sich in vielen Haushalten ganz andere Probleme offenbaren. 140.755 Fälle häuslicher Gewalt weist die Bundeskriminalstatistik 2018 zum Beispiel aus. In Hunderttausenden Haushalten wird zuviel getrunken, werden Drogen konsumiert, werden Kinder geschlagen. Fluchtpunkte wie Schule oder Job haben die Betroffenen derzeit nicht.
Tatsächlich werfen Renner nun viele vor, sie würde missachten, dass auch nicht so privilegierte Menschen nun Zerstreuung brauchen, was sicher auch richtig ist. Trotzdem: Die Mehrheit derer, die nun auf Instagram das #stayathome zelebrieren, ihre neuen Amazon-Bestellungen posten (Hanteln fürs Heim-Workout), tolle Einkaufstipps weitergeben (Im Feinkostladen gibt es jede Menge Pasta!) und zum Spenden fürs Lieblingslokal aufrufen, sich dann mit Freunden zum „Face-Time-Kniffelrunden“ verabreden, sind nicht unbedingt die Mehrheit der Deutschen (und erst Recht nicht der Weltbevölkerung). Sondern wirklich jene, denen es per se gut genug geht, sich all das zu erlauben.
Jeder wie er kann – aber mit ein bisschen Empathie
Gleichermaßen ändert dies aber auch nichts daran, dass man in seinem eigenen Kosmos leben kann und darf. Wer nun einmal das Glück hat, gerade ohne Existenzängste zu sein oder sich die Freiheit nehmen kann, abends noch ein Stündchen YouTube-Sport zu machen, weil nicht drei Kinder, die Angst haben, und ein zorniger Partner auf kleinstem Raum jede Entfaltungsmöglichkeit ersticken, muss das nicht lassen.
Vielleicht ist aber tatsächlich ein guter Moment, insofern innezuhalten, dass man sich diesen Luxus vor Augen führt. Und dass man sich aktiv damit auseinandersetzt, wer nicht nur jetzt, sondern immer jenen hilft, die vielleicht weniger Sonne im Leben haben. Von der Arche bis zu den Tafeln, von Frauenhäusern bis zu Gewaltpräventionsprojekten.
Es gibt viele Baustellen, und nicht jeder muss fortwährend über alle nachdenken. Und nicht jeder soll sich deshalb auch nur von einer einzigen Yoga-Stunde oder digitalem Opernabend abhalten lassen. Aber Corona-Solidarität ist vielfältig. Und dass man sich in dieser Zeit eben auch überlegen kann, wem man helfen will und kann, auch das ist ein Luxus einer gut situierten Minderheit. Möge jeder, der kann, diesen auch nutzen.
Unser Themen-Spezial zu Corona in Berlin beleuchtet das Virus von vielen Seiten. Zudem haben wir eine Hilfsaktion gestartet: „tip berlin hilft“ – sie soll Hilfesuchende und Helfer zusammenführen.