Streit um Außengastronomie in Neukölln: Einige Cafés und Kneipen sollen Tische vom Gehweg wegräumen. Im Reuterkiez blicken Betreiber von Kneipen und Cafés neidisch nach Kreuzberg. Während dort Außentische auf Parkplätzen stehen, schränkt Neukölln die Draußennutzungen von Cafés und Kneipen ein. Dagegen regt sich nun Protest. Das Credo der Gastronomen: „Jeder Stuhl zählt“.
Streit um Außengastronomie in Neukölln: Halbierte Platzzahl auf dem Gehweg
Wenn der Wirt des Posh Teckel einen schmalen grünen Außentisch auf dem übel holperigen Kopfsteinpflaster vor dem kleinen Musik- und Dackel-Pub im Neuköllner Reuterkiez ausbalanciert, darf er nicht an die Kollegen auf der Kreuzberger Seite des Kottbusser Damms keine 150 Meter von hier denken. Sonst kriegt Bernd Ehnes schlechte Laune.
Selbst Dackel Ella bellt zornig auf.
Kaum 100 Meter von seinem Kneipenfenster, liebevoll dekoriert mit LP-Covern wie „Dots“ von Subterfuge un „Elephant Stone“ von den Stone Roses, lustigen Stoffdackel auf der Gardinenstange und einem Plakat für den Live-Gig von „The Horst Tofte“ („Popmusik mit Herz & Hirn“), dürfen viele Gastronomen drüben in Kreuzberg ihre Außentische auch auf Autoparkplätzen platzieren. Dem Posh Teckel dagegen habe das Bezirksamt ausgerechnet im ersten Corona-Sommer den Platz für seine Außentische zusammengestrichen, erzählt Ehnes. Als er sie so dringend brauchte.
Bis dahin konnte er draußen einen Meter breite Bierbänke aufstellen. Jetzt dürfen seine Tische und Bänke nur noch bis zu 60 Zentimeter auf den Weg ragen. Was seine Plätze draußen halbiert, von 20 auf zehn. „Nach zwei Corona-Jahren habe ich doch keinen Puffer mehr“, sagt Ehnes. „Und jetzt noch dieser Energie-Wahnsinn. Wie soll ich den Winter ohne Reserven überstehen?“
Erst hat Ehnes gedacht, Anwohner hätte sich über Lärm bei ihm beschwert. Und der Gehweg in der beschaulichen Pflügerstraße ist ja auch nicht mit der Boulevard-Breite der wuseligen Friedelstraße um die Ecke zu vergleichen. Dann bekam er mit: Andere gastronomische Einrichtungen in Neukölln hatten ähnliche Probleme mit dem Bezirksamt bei der sogenannten Sondernutzung. „Es ist kein Bernd-Problem, es ist ein Neukölln-Problem“, sagt Bernd Ehnes.
Interessenskonflikte im Szene-Kiez
Es ist ein Dilemma, wie es sich im dritten Herbst mit dem Sars-Cov-2-Virus vielerorts dort in der Innenstadt zeigt, wo Gastronomie, Nachtleben, Tourismus und das Ruhebedürfnis von Anwohner:innen zu immer neuen Interessenskonflikten führen. Und dabei ist Neukölln, der langjährige Problembezirk, der sich besonders hier, im Reuterkiez, rasant schnell zum Szene-Mekka gewandelt hat, noch mal ein besonders umkämpftes Arreal.
Die Whatsapp-Gruppe, in der sich Betreiber von Kneipen, Restaurants und Cafés aus dem Bezirk seit Frühjahr austauschen, trägt den Titel: „Jeder Stuhl zählt.“
Seit 2020 ist Bernd Ehnes auch der Vorsitzender des Tourismusbeirats Neukölln, einem Gremium, in dem neben dem Estrel Hotel, dem Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln oder der „Arbeitsgemeinschaft Das sympathische Buckow“ auch Vertreter aller Fraktionen der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (mit Ausnahme der AfD) und des Bezirksamtes sitzen. „Es ist schwierig, wenn ich einerseits mit den Gegebenheiten der Verwaltung kämpfe und andererseits versuche, mit der Verwaltung etwas für die Attraktivität des Bezirks auf die Beine zu stellen“, grübelt Ehnes.
Neuköllns überarbeitetes Sondernutzungskonzept
Zuständig für die „Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes“, unter die das Aufstellen von Tischen und Stühlen fällt, ist in Neukölln der Bezirkstadtrat Jochen Biedermann (Grüne), Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt und Verkehr, der derzeit den in Elternzeit befindlichen Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel (SPD) vertritt.
2017 hatte der Bezirk sein Sondernutzungskonzept überarbeitet, „also weit vor der Pandemie“, wie ein Mitarbeiter des Bezirksamtes auf tip-Anfrage mitteilt. Die Nutzung des öffentlichen Straßenlandes bedarf einer „Ausnahmegenehmigung nach § 46 (1) S. 1 Nr. 8 StVO iVm. § 11 (1), (2) BerlStrG“.
Im Reuterkiez gäbe es nun mal besonders viel Gastronomie und deswegen sei das Thema dort präsenter, so der Mitarbeiter des Bezirksamtes. Dort würden aber auch Themen wie Lärm und Verdrängungsdruck besonders diskutiert. Er verweist auf Beschwerden von Anwohner:innen, „die das Bezirksamt auch ernst nehmen“ müsse. Eine Herausforderung sei zudem die Nutzung des Straßenlandes, die sich in den letzten Jahren verändert habe. „Es sind Fahrradabstellanlagen dazu gekommen, Parkscheinautomaten kommen in Neukölln demnächst dazu und natürlich finden sich die Kleinstfahrzeuge diverser Sharing-Anbieter auf den Gehwegen.“
Dafür verzichte das Bezirksamt in diesem Jahr darauf, Sondernutzungsgebühren für das Aufstellen von Tischen und Stühlen zu erheben: „Im Jahr 2019 waren das immerhin Gebühren in Höhe von 70.878,34 Euro.“
Das Muster des Straßenpflasters zählt
Bereits 2017 wünschten sich die Neuköllner Bezirksverordneten, dass im Reuterkiez keine neuen Cafés und Kneipen genehmigt werden. Damals bereits kündigte Biedermann der Zeitung „Berliner Woche“ zufolge an, dass gegen den Lärm, der von den bereits bestehenden Kneipen, Bars, Cafés und Restaurants ausgeht, Ordnungsamt und Straßen- und Grünflächenamt in Zukunft enger zusammenarbeiten sollten.
Von seiner hippen Beuster Bar aus kann Mitbetreiber Stefan Jentzsch die Konkurrenz um das knappe Straßenland derzeit täglich besichtigen. Die Weserstraße wird gerade zur Fahrradstraße ausgebaut: eine Baustelle direkt vor seinem Szeneladen, stadtbekannt für sein Steak Tatare. Da kann er derzeit keine Tische hinstellen.
Vor ein paar Wochen bekam auch er das Schreiben vom Bezirksamt: Seine Tische und Stühle dürfen nur noch maximal 80 Zentimeter des Gehwegs einnehmen. Bis dahin waren es 1,20 Meter. „Ich muss mir also neue Straßenmöbel kaufen!“, seufzt Jentzsch.
Seit die Beuster Bar 2015 aufmachte, habe er nie Probleme mit der Genehmigung seiner 1,20-Meter breiten Außenbestuhlung gehabt. Bis jetzt. „Und nun kann ich keine vier Leute mehr an einen Außentisch setzen, das ist eine Katastrophe für ein Dinnerrestaurant.“
Eine langjährige Neuköllner Gastronomin, die drei Tage nach einem intensiven Gespräch bittet, ihren Namen lieber doch nicht zu veröffentlichen, klagt: „Ich fühle mich zu wenig wertgeschätzt für das, was ich für die positive Belebung des Bezirks getan habe.“
Frustriert beklagt sie „Dogmen bei der Umsetzung der Sondernutzung“: „Da wird sich an der unterschiedlichen Musterung des Straßenpflasters orientiert, anstatt auf die tatsächlichen Maße und Durchgangsbreiten zu schauen.“ Auf den Platz etwa, den Kinderwagen oder Rollstühle tatsächlich brauchen.
Die Frau mutmaßt, es habe auch wegen der Corona-Pandemie eine Art „Gnadenfrist“ beim Bezirksamt gegeben, die „neuen“ Sondernutzungsregeln von 2017 durchzusetzen. Die sei jetzt vorbei. „Offenbar ist das Ziel, die Außenbestuhlung der Gastronomie stark zu reduzieren.“
Und die Einzelfallbetrachtung? Die Frau lacht bitter: „Das wird dann vom Schreibtisch in der Amtsstube heraus beurteilt.“
Die Aussichten für den Herbst und Winter sind düster
Auch das Café Tischendorf in der Friedelstraße steht für das neue, hippe Neukölln. Zero Waste, lokale Produkte, vegane Bowls, am Tresen ist Englisch die Default-Sprache. Am 30. Mai sei ihre Sondernutzungsgenehmigung ausgelaufen, sagt Chefin Jutta Tischendorf. „Bis dahin hatten wir außer Tischen an der Fassade noch vier weitere Tische neben der Baumscheibe an der Bordsteinkante. Mit dem Umsatz konnten wir das Minus aus der Corona-Zeit ein bisschen aufwiegen“.
Kurz danach sei das Ordnungamt da gewesen. Die Sondernutzung werde nicht verlängert. „Die haben gesagt: Das war nur wegen Corona“, sagt Jutta Tischendorf.
Dabei sind die Aussichten für Herbst und Winter düster – wegen der befürchteten Gas- und Stromkrise, ein Folge des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Thomas Lengfelder, Geschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverband Berlin (Dehoga), warnt: „Da rollt eine Katastrophe im Bereich Energie auf uns zu.“ Er spricht von verzehnfachtem Strompreisen bei Hotels und Gastätten, von sechs- bis achtmal höheren Gaspreisen „Dagegen ist Corona eine leichte Brise gewesen.“
Posh-Teckel-Chef Ehnes sagt: „Es muss doch für uns eine Art Bestandsschutz geben.“
Die Gastronomin, die ohne ihren Namen in diesem Text stehen will, erklärt, viele Betriebe hätten ihre Geschäftspläne unter Einbezug der vormals genehmigten Außenbestuhlungsmöglichkeiten kalkuliert: „Diese sind für unser wirtschaftliche Überleben essenziell.“
Stefan Jentzsch, der Mann von der Beuster Bar, flüchtet in Sarkasmus: „In Kreuzberg kriegst du binnen drei Tagen Parkplätze für deine Tische genehmigt, in Neukölln kriegst du verkleinerte Außenbereiche.“
Viele Gastrobetriebe hoffen auf Einsicht, auf Entgegenkommen von Seiten des Bezirks. Viel Zeit bleibt nicht ihnen mehr. Wenn das Wetter mitspielt, haben sie noch zwei Monate, um mit Draußengastronomie zumindest ein kleines finanzielles Polster vor dem harten Winter aufzubauen.
Und Jutta Tischendorf, die Frau aus dem Café, das ihren Nachnamen trägt, sagt: „Wenn ich erst im November eine neue Genehmigung kriege, dann nutzt mir das auch nichts mehr.“
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Neukölln im Porträt: das kompakte Basiswissen über den Bezirk lest ihr hier. Und hier haben wir euch 12 Tipps zusammengestellt, Neukölln besser kennenzulernen. Natürlich ist das Nachtleben in Neukölln eines seiner Aushängeschilder: unsere Tipps für Clubs und Kneipen. Aber der Bezirk hat auch seine ruhigen Ecken: Hier lernt ihr Parks in Neukölln kennen. Es ist übrigens tatsächlich gerade mal zehn Jahre her, da schrieb der damalige Bürgermeister Heinz Buschkowsky das Buch „Neukölln ist überall“: sein Greatest Hit „Multikulti ist gescheitert“ in der Langversion. Den Überblick über die Stadtleben-Artikel des tip-Berlin gibt’s hier.