Sie gelten als dreckig und laut und werden als „Ratten der Lüfte“ bezeichnet. Schätzungsweise 15.000 Stadttauben leben in Berlin. Oft werden die Tiere in der Großstadtzivilisation krank. Während die Behörden wegschauen, kümmern sich Privatpersonen um die gefiederten Patienten.
Tauben in Berlin: Übermäßige Haltung kann zu einer fristlosen Kündigung führen
Es gurrt in Benno Krahls* ehemaligen Gästebad. Was andere alarmieren dürfte, gehört für den 65-Jährigen längst zur regulären Geräuschkulisse. Bereits seit fünf Jahren versorgt er in seiner Wohnung im Berliner Norden kranke und verletzte Stadttauben. Weder sein Vermieter noch seine Nachbarn wissen davon. Denn obwohl Mieter eigentlich keine Genehmigung brauchen, um Vögel halten zu dürfen, kann eine übermäßige Haltung zu einer fristlosen Kündigung führen.
Begonnen hat alles vor rund einem Jahrzehnt: Auf einer Autofahrt mit dem Arbeitswagen entdeckte Krahl eine Taube, die sich auf dem Bürgersteig zusammenkauerte und sich nicht mehr bewegte: „Die anderen Leute gingen alle vorbei, es interessierte keinen. Dabei hatte sie offensichtlich ein Problem.“ Krahl hält an, nimmt die Taube mit und übergibt sie einem Tierschutzverein. Anschließend beginnt er selbst, Stadttauben zu füttern. Immer wieder begegnen ihm Tiere, die offensichtlich krank sind.
Gerade einmal 15.000 Tauben leben in Berlin – während hier knapp vier Millionen Menschen zuhause sind „Manchmal sieht man es schon am Aussehen. Das Federkleid ist nicht perfekt, sie sind aufgeplustert. Oder sie bewegen sich ganz langsam und können auch nicht richtig picken. Mit der Zeit erkennt man die Zeichen“, sagt Krahl.
Zwei Zimmer der Pflege seiner gefiederten Freunde gewidmet
Gleich zwei Zimmer seiner Wohnung hat er der Pflege seiner gefiederten Freunde inzwischen gewidmet. In dem einen steht neben einigen Kästen mit den kränkelnden Tauben auch ein Mikroskop, mit dem Kot und Speichel der Vögel auf verschiedene Parasiten und Krankheitserreger untersucht werden. Die Medikamente, die er für die Behandlung braucht, erhält er entweder von befreundeten Tierärzten oder erwirbt sie selbst in Polen. „Die nehmen es da nicht ganz so genau“, berichtet er. Nebenan, im Badezimmer, das mit Zeitungspapier ausgekleidet ist, dürfen die frisch genesenen Mitbewohner ihre Flügel strecken, bevor sie wieder in die Freiheit entlassen werden. Aktuell leben in den beiden Räumen rund acht Tiere, in Ausnahmesituationen hat er jedoch auch schon bis zu vierzehn Tiere aufgenommen.
Etwa zehn Mitpäppler:innen hat Bruno Krahl. Sie sind im Stadttaubenprojekt Berlin e. V. organisiert. Das Leid der Tiere ist groß, ganz besonders in Berlin. In der Stadt wird bisher kein Taubenmanagementkonzept umgesetzt – und das, obwohl der Koalitionsvertrag von CDU und SPD eigentlich genau das vorsieht. Dabei könnte ein solches Programm für einen besseren Schutz der Tiere sorgen. Dazu würde zum Beispiel die Einrichtung von betreuten Taubenschlägen gehören.
Doreen Rothe, die Vorsitzende des Vereins Stadttaubenprojekt Berlin e. V., sagt, Schuld sei vor allem die fehlende Bereitschaft der Bezirke. Statt die von Tierschützer:innen geforderten Taubenschläge zu errichten, brachte zum Beispiel die Bezirksbürgermeisterin von Mitte im vergangenen Oktober den Vorschlag ins Rennen, einfach ein Fütterungsverbot zu erlassen. Ein Ausdruck für politische Konzeptlosigkeit.
Immerhin gilt ein solches Verbot als unwahrscheinlich. Das größte Problem: Weil die zuständige Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz 4,3 Millionen Euro einsparen muss, soll das Budget für das Stadttaubenmanagent gänzlich gestrichen werden.
Die Lebensverhältnisse der Tauben sind bedenklich: Viele halten sich in der Nähe von gastronomischen Betrieben auf, wo sie sich unter anderem von Dönerfleisch, Zigarettenstummeln und Erbrochenem ernähren müssen. Dabei sollte ihre Diät eigentlich aus einem bunten Körnermix bestehen. Kein Wunder, dass Tauben anfällig für Infektionskrankheiten und Gebäude von weißen Hungerkotflecken übersät sind. Manche Tiere sind nur noch Haut und Knochen, haben Verletzungen durch Spikes – oder verschnürte Füße. Während der ewigen Suche nach Futter verheddern sie sich in Haaren und Fäden. Solche Leiden, aber auch Verletzungen, die ihnen von Menschen zugefügt wurden, sind mit die häufigsten Gründe, wenn Leute vom Stadttaubenprojekt e. V. die Tauben mit nach Hause nehmen.
„Wir brauchen dringend Pflegestellen, die ein bis zwei Tauben aufnehmen“
Dort bleiben die Tiere – je nach Schwere ihrer Krankheit und Verletzungen – wenige Wochen, manchmal auch mehrere Monate. Kaum hat Bruno Krahl eine Taube in die Freiheit entlassen, steht schon der nächste Notfall vor der Tür. Deshalb sucht der Verein auch ständig nach weiteren Personen, die sich vorstellen können, Tauben aufzunehmen. „Wir brauchen dringend Pflegestellen, die ein bis zwei Tauben aufnehmen“, fordert der Vogelfreund. „Das ist nicht schwer.“ Tauben seien eigentlich anspruchslos. „Man gibt ihnen ein bisschen Wasser und ein bisschen Futter und guckt, dass sie über den Berg kommen.“
Namen gibt er seinen Schützlingen nicht, stattdessen sind sie nach ihren Fundorten benannt. „Auf dem Kasten steht jetzt Leo, das heißt, die Taube kommt vom Leopoldplatz“ veranschaulicht Krahl die Namenstaufen anhand eines Bewohners. Zum Leopoldplatz wird er den Vogel nach seiner Genesung auch zurückbringen, denn die meisten Tauben sind verpartnert und werden von ihren Lebensgefährten sehnlich erwartet – nicht zuletzt, um zu brüten.
„Mit dem Tier sind extreme Widersprüche verbunden“
Doreen Rothe vom Stadttaubenprojekt e.V.
Schuld daran ist der Mensch: Die Tiere, die heute die Innenstädte bevölkern, sind die Nachfahren von auf Reproduktion getrimmten Brieftauben, die entweder ausgesetzt wurden oder aber es nicht geschafft haben, den Weg nach Hause zu finden. Damit handelt es sich bei ihnen streng genommen um die Nachkommen von Haus- und Fundtieren.
„Mit dem Tier sind extreme Widersprüche verbunden“, sagt Doreen Rothe vom Stadttaubenprojekt e.V. „Die Taube gilt als Symbol der Reinheit, des Friedens und der Liebe. Sie wird in allen möglichen Religionen verehrt, und es wird mit ihrer Zucht Geld gemacht. Und das sind die gleichen Tiere, die in Städten gehasst, gefürchtet und verfolgt werden.“ Krahl rät dazu, die Augen nicht vor dem Leid der Tiere zu verschließen. Und zu handeln. „Aus Erfahrung können wir sagen: Wenn eine Taube am Boden sitzt und nicht mehr fliegen kann, hat sie kaum noch Chancen zu überleben, weil an den meisten Plätzen viele Fußgänger oder Kinder sind.“
Passanten würden an überfüllten U-Bahn-Schächten über die Tiere stolpern oder sogar nach ihnen treten – mitunter ein Todesurteil. In solchen Situationen beherzt zuzugreifen, sei sehr wichtig. Zu Scherereien kommt es dabei nicht: Die Tiere sind harmlos. Er selbst setzt die Vögel in Stoffbeuteln ab – und empfiehlt diese Praxis auch anderen hilfsbereiten Menschen. Anschließend ließen sich „Päppelstellen“ wie in seiner Wohnung über eine Facebook-Gruppe namens „Tauben-Notfallmeldung – das Original“ erreichen.
*Name geändert
- Mehr zum Stadttaubenprojekt e.V. findet sich hier
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