Das HAU veranstaltet in seinen Räumen und am benachbarten Mehringplatz das Festival „Berlin bleibt! #4 – Treffpunkt Mehringplatz“. Mit dabei sind auch Christiane Rösinger, Gob Squad und She She Pop. Ein Ausblick von Patrick Wildermann.
„Berlin bleibt! #4″: Mehringplatz vom Stadtrand in den Mittelpunkt
Als die Mauer noch stand, war hier Randlage. Heute liegt der Kreuzberger Mehringplatz mit seinen Ende der 1960er Jahre entstandenen Betonsozialbauten zwar im Herzen der Stadt, aber nach pulsierendem Big-City-Life sieht es hier trotzdem nicht aus. „Die Trinker prosten sich in der Sonne zu. Eine Bank weiter rauchen arabische Großmütter Shisha. Beobachten und schweigen. Manchmal kommt der SPD-Generalsekretär mit einem Schawarma von Al Sultan vorbei. Er fällt nicht weiter auf.“
Die Szenerie beschreiben Markus Liske und Manja Präkels – die zusammen die Lesereihe „Das literarische Rondell“ im Café MadaMe am Mehringplatz kuratieren – in einem Essay mit dem schönen Titel „Soll das ein Vogel sein?“. Der bezieht sich auf die Friedenssäule mit ihrer Viktoria von Christian Gottlieb Cantian, die hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts an die Befreiungskriege erinnert und heute seltsam fehl am Platz wirkt.
„Am Mehringplatz bündeln sich stadtpolitische Themen“
„Der Kiez zählt zu den kinderreichsten Berlins“, erzählt Mareike Stanze. „Und gleichzeitig auch zu denen mit der höchsten Kinderarmut.“ Über 70 Prozent der jungen Anwohner:innen sind davon betroffen. Stanze arbeitet seit über zehn Jahren vor Ort, sie hat beim Quartiersmanagement angefangen und leitet mittlerweile die KMAntenne, den Jugendclub der Kreuzberger Musikalischen Aktion (KMA). Sie weiß nur zu gut um die Probleme dieses Viertels. Die überbelegten Wohnungen, in denen oft bis zu neun Menschen in zweieinhalb Zimmern zusammen leben; die Clashes zwischen alteingesessenen Mieter:innen und Zuziehenden, weil „ein Studentenpuffer fehlt wie in Kreuzberg 36, der zwischen den Communities vermitteln könnte“. Schließlich die Drogenkriminalität und andere Armutsfolgen.
Stanze weiß aber auch um die Ursachen vieler dieser Verwerfungen, auf die in Berichten meist nur grelle Schlaglichter geworfen werden. Zum Beispiel, dass es an Begegnungsräumen fehlt in diesem Rondell, das seit zehn Jahren Baustelle ist, umstellt von abweisenden Zäunen. Dass Ladenleerstand herrscht, weil die Gewerbemieten keine Rücksicht auf die sozialen Realitäten nehmen. Auch ein Blumenladen oder ein Zeitungskiosk kann ja ein sozialer Raum sein. Das hat die Künstlerin Ayşe Güleç mal gesagt. „Am Mehringplatz“, so Stanze, „bündeln sich stadtpolitische Themen“.
Das HAU Hebbel am Ufer liegt mit all seinen drei Spielstätten nicht weit entfernt von diesem südlichen Ende der Friedrichstraße. Das Theater hat 2019 begonnen, mit der Reihe „Berlin bleibt!“ die Kämpfe gegen Gentrifizierung und für bezahlbaren Wohnraum in den Fokus zu nehmen – und sich bei dieser Gelegenheit auch intensiver der unmittelbaren eigenen Nachbarschaft angenähert. Zunächst mit einer gemeinsamen „Kiez-Party“. Dabei lernten die Theatermacher:innen auch Mareike Stanze und ihre KMAntenne kennen, es entstanden mehr und mehr Kontakte zu Anwohner:innen, Initiativen, Gewerbetreibenden. Ein Prozess, der andauert.
„Nicht über Menschen reden, mit Menschen reden“, lautet das Credo
Stella Konstantinou – die als Dramaturgin zusammen mit Volkan Türeli das Networking- und Vermittlungsformat „HAU to connect“ leitet – betont beim Gespräch in dem ebenerdigen Laden mit Schaufensterfront, den das HAU am Mehringplatz angemietet hat, worum es bei all dem eben nicht geht: „Um die Einteilung von Menschen in Publikum und Noch-nicht-Publikum“. Eine verbreitete Berufskrankheit unter Theaterschaffenden. Das Ziel sei auch nicht, einmal die große Kunstkarawane mit hippen Aktionen durchs Rondell zu treiben. Sondern Kontinuität zu schaffen. Konstantinou, die früher für die „Rollende Road Show“ der Volksbühne gearbeitet hat, sagt: „Am Mehringplatz rollen wir nicht weiter. Wir sind gekommen, um zu bleiben“.
Nadine Vollmer – die als Programmkoordinatorin für „Berlin bleibt!“ arbeitet und schon zu Matthias-Lilienthal-Zeiten frei für das HAU tätig war – glaubt, dass bei Site-Specific-Arbeiten grundsätzlich ein Umdenken stattgefunden hat. „Es geht darum, Menschen wirklich einzubeziehen, statt den öffentlichen Raum wie ein Bühnenbild oder eine Kulisse zu nutzen“, sagt die Dramaturgin, die früher an Formaten wie „X-Wohnungen“ oder den „Shabby Shabby Apartments“ beim Festival Theater der Welt in Mannheim mitgewirkt hat. Dazu gehöre auch, sich immer wieder selbst aus der Programmlogik des normalen Kunstbetriebs mit seiner Eventdichte und seiner Output-Fixierung zu reißen.
„Wir haben am HAU schon oft Klassismus in diskursiven Formaten verhandelt“, so Stella Konstantinou. „Aber in unserer Nachbarschaft leben Menschen, die Expert:innen für das Thema sind.“ Ebenso überlege das Team beständig, wie das Produktionshaus barrierefreier werden könne – während um die Ecke ein Beratungsort wie Mina e.V. existiere, wo vor allem migrantische Familien Rat suchen können, die Angehörige mit Behinderung haben. Die Frage müsse also lauten: „Wie können wir die Theorie mit der Praxis zusammenbringen?“
Herzstück: Die Kiez-Party am Mehringplatz mit Konzerten, performativen Aktionen und Spielen
„Nicht über Menschen reden, mit Menschen reden“, fasst Mareike Stanze zusammen. Viele der Künstler:innen, mit denen das HAU schon lange arbeitet und die nun an der vierten Ausgabe von „Berlin bleibt!“ beteiligt sind, haben sich genau das auf die Fahne geschrieben. Das Kollektiv Guerilla Architects campiert seit Anfang Mai mit einem Wagen auf dem Mehringplatz, forscht zu dessen Geschichte, spricht mit Anwohner:innen. Gob Squad erproben bereits seit mehreren Wochen mit den Menschen vor Ort eine Erweiterung ihrer üblichen Arbeitsweisen im Stadtraum, die bislang eher auf Zufallsbegegnungen ausgelegt waren. She She Pop führen Interviews und entwickeln zusammen mit dem Kiez ein Chorstück. Şipşak Druck begegnet der Nachbarschaft mit seiner mobilen Druckwerkstatt. Zu erleben ist das meiste davon bei einer Neuauflage der „Kiez-Party“.
Und auch im HAU selbst gibt es Programm. Unter anderem wird Christiane Rösingers Erfolgsmusical zur Wohnungsfrage – „Stadt unter Einfluss“ – wieder aufgenommen. Und es gibt ein Konzert von „Sisterqueens“, einer Plattform für jungen feministischen Rap, die das Kollektiv Peira ins Leben gerufen hat. Klar möchte das Haus auch seine Türen zur Nachbarschaft hin öffnen.
Die Trennung zwischen Kunst und sozialer Arbeit gehört überwunden
Ein Großteil der Theaterarbeit am Mehringplatz findet aber „unterhalb der Sichtbarkeitslinie“ statt, wie Nadine Vollmer sagt. Die HAU-Netzwerker:innen nehmen monatlich an Sitzungen des Quartiersmanagements teil, bringen Künstler:innen mit geflüchteten Frauen aus einer Unterkunft in der Stallschreiberstraße zusammen, organisieren einen Austausch zwischen Peira (vormals „Ongoing Project“) und einer Mehringplatz-Initiative von Frauen, die sich „Arabischer Thementisch“ nennt.
Gemeinsam arbeiten sie jetzt an dem Projekt „Raum für mich“, eine Care-Unternehmung im Nachklang der Pandemie, die bekanntlich Frauen und Mädchen besondere Mehrfachbelastungen aufgebürdet hat. Die Vorhaben reichen vom gemeinsamen Besuch eines Nagelstudios über die Fährenfahrt bis zum Tortebacken. Begleitet von einer Zeichnerin, die eine Graphic Novel dazu fertigt, die im Rahmen des Festivals veröffentlicht wird.
Bleibt die Frage: Soll das Kunst sein? Stella Konstantinou und Nadine Vollmer bejahen entschieden. In ihren Augen gehören die lang gehegten Gegensätze – dieses ist Kunst, jenes soziale Arbeit – überwunden. Ein HipHop-Projekt mit migrantisierten Jugendlichen zum Beispiel werde automatisch als Streetwork gelabelt. Selbst wenn eine super erfolgreiche Platte dabei entstehen sollte. In der KMAntenne, die Tonstudios, Proberäume, Vocal Coaching und vieles mehr anbietet, gibt es übrigens mittlerweile eine Vielzahl von erfolgreichen Projekten.
Dazu passt der Wunsch, den Mareike Stanze formuliert: „Ich hoffe, dass noch mehr Anwohner:innen auch als Künstler:innen aktiv werden.“
- Berlin bleibt! #4 – Treffpunkt Mehringplatz, Mehringplatz, HAU1, HAU2, HAU3, 17.6. bis 2.7. Online
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