• Stadtleben
  • Wie Berlin in den 90ern? Ein Umzug nach Leipzig

Alter Kiez, neuer Kiez

Wie Berlin in den 90ern? Ein Umzug nach Leipzig

Freiflächen, besetzte Häuser, inoffizielle Clubs, geheime Raves auf Brachen und günstige Mieten: Viele junge Menschen zieht es nach Leipzig. So auch unsere Autorin, die als gebürtige Berlinerin 2020 den Umzug in die sächsische Großstadt wagte. Tatsächlich wird diese ja sogar oft mit der Hauptstadt verglichen. Leipzig erinnere an das sagenumwobene Berlin der 90er. Und doch hinkt der Vergleich.

Ein besetztes Haus in der Leipziger Wurzener Straße. Foto: Imago/lausitznews.de/Erik-Holm Langhof

In Berlin werde ich ja sowieso alt. Das stand auch schon mit Anfang 20 fest, wo sonst noch so vieles unsicher ist. Diese Stadt war das einzige Zuhause, das ich kannte und ein anderes hatte ich mir nie gewünscht. Was bleibt auch zu wünschen übrig, in einer Stadt, die gefühlt alles hat? Von allen Personen, die ich bisher kennenlernen durfte, habe ich – und das ist keine Übertreibung – noch keine kennengelernt, die es wirklich bereut hat, hier aufgewachsen zu sein. Mal zwischendurch wegziehen wollen? Schon. Die Stadt mal scheiße finden? Auf jeden Fall. Aber lieber woanders die Jugend verbringen? Ich kenne niemanden. So sah auch ich mich schon immer auf lange Sicht in dieser Stadt. Aber mal rauskommen musste ich trotzdem. Rein aus Prinzip. Bestimmt auch aus Neugier. Um mal was anderes zu sehen. Ein Dorf wurde es trotzdem nicht, mit dem ICE brauchte ich auch nicht viel länger als mit dem Nachtbus von Neukölln bis Spandau: Also halt Leipzig.

Leipzig. Viele Berliner:innen verbinden mit der Stadt vor allem Buchmesse, Sterni, Nazis. Auf meine Umzugspläne reagiert man mit einem trockenen “ist ja nicht so weit weg”. Manch einer sagt, Leipzig sei wie Berlin in den 90ern. Schauen wir mal.

Der Leipziger Hauptbahnhof erinnert ein wenig an die New Yorker Grand Central Station. Foto: Imago/Imagebroker/Michael Nitzschke

Wenn man mit dem Zug anreist, fällt als Erstes das deutsche Imitat der New Yorker Grand Central Station mit riesigen Deckenfenstern und Verzierungen auf – der Hauptbahnhof. Als nächstes gilt es, (im besten Fall noch kofferbeladen) vier Tramschienen zu überqueren. Diesen fehlt leider die Ausstattung mit intuitiven Ampelsystemen, so dass das Ankommen vom Fluchen erschrockener Tourist:innen und quietschenden Trambremsen begleitet wird. Unnötig gefährlich. 

Sehr ungefährlich hingegen ist die anschließende Innenstadt, die überquillt mit Restaurants, Einkaufsläden und Cafés. Es geht auf Pflastersteinen an schönen Altbauten entlang, und durch gläserne Einkaufspassagen. Am Marktplatz – der für viele Leipziger:innen aber nicht das wahre Stadtzentrum ist – gibt es Wochenmärkte, Stadtfeste, Wahlkampf und Demos.

Umzug von Berlin nach Leipzig: Leben wie einer Sitcom

Die Leipziger:innen teilen ihre Stadt lieber in Himmelsrichtungen als in Bezirke auf. Norden, Osten, Süden und Westen haben dabei ihr eigenes Zentrum und ihren eigenen Charme: Der Norden gilt als ruhig und unaufgeregt. Eine mit zahlreichen Cafés gespickte Wohngegend, viele Familien. Der Osten zeichnet sich zur Zeit meines Umzugs vor allem durch niedrigere Mieten aus. Kleine Bars und Galerien verstecken sich hinter plakatverklebten Schaufenstern. Verschiedene Kulturen, Sprachen und Generationen prägen das Viertel. Im Süden hält man sich vor allem auf, wenn man gutes Essen sucht oder in einer Kneipe sitzen will. Außerdem gibt es vom Fockeberg – dem Teufelsberg Leipzigs – einen Ausblick bis in den Westen. Der wird aufgrund seiner hohen Dichte an Yoga- und Bioläden immer wieder mit Prenzlauer Berg verglichen. Na toll. Mein erstes Kapitel beginnt lieber im Süden.

An warmen Sommerabenden sitzt man gerne in der beliebten Bar NaTo im Leipziger Süden. Foto: Imago/Seeliger

Das Leben fühlt sich an wie eine Serie. Eine Sitcom, und ja, eine 90’s Sitcom. Denn wie bei „Friends“ lebe ich vorerst in einer WG, in der ständig jemand im Wohnzimmer sitzt, dauerhaft Besuch da ist, alle trotz Berufstätigkeit immer Zeit haben und alles irgendwie sweet aber auch unrealistisch ist. Die Wohnung ist so schön, groß und günstig, dass aufmerksames Fernsehpublikum meine Lebens- und Finanzsituation als unglaubwürdig entlarven könnte. Mit Parkett, Flügeltüren und bunten Sofas, Altbaufenstern. Das ist auch für Leipzig nicht normal. 

Durch glückliche Umstände bin ich in einer bunten 9er-WG gelandet, wo ich absurd wenig Miete zahle und mir diese absurd großbürgerliche Wohnung mit Bahnmitarbeitern, DJs und Studierenden teile. Vorher kannten wir uns nicht, jetzt trinken wir Tee, machen Youtube-begleitete Workouts und backen Kuchen. Auf 350 Quadratmetern!

In Leipzig fallen mir viele leerstehende Gebäude auf, wie hier in Laden in der Georg-Schwarz-Straße. Foto: Imago/Maria Gänßler

Dann mein erster Frühling in Leipzig. Nach dem Winter blüht die Stadt auf, es ist wieder mehr los auf den Straßen. Wobei mir auffällt, dass nicht so viel los ist wie in Berlin. Während in Berlin bei den ersten Sonnenstrahlen schon Menschenmassen mit Gösser und Schlauchboot an den Landwehrkanal strömen, ist hier einfach mehr Platz. Potential und Langeweile liegen nah beieinander.

Vielleicht ist das dieses sagenumwobene Aufbruchsgefühl

Ein Gefühl, das es auch mal in Berlin gegeben haben soll. Leipzig hat an vielen Stellen noch, was in der Hauptstadt zunehmend verloren geht: Niedrige Mieten, Raum für Ideen, Leerstand, Brachflächen. Es gibt Eckkneipen, wo das Bier noch zwei Euro kostet und Second-Hand-Läden, die alte Vorhänge und T-Shirts verkaufen statt des fein kuratierten Sortiments in Pop-Up-Vintage-Stores im Bergmannkiez. Im Lene-Voigt-Park trifft man sich zum Rauchen und Sterni trinken. Ähnlich wie im Mauerpark, nur irgendwie egaler. Angenehm egal. Irgendwo in der Ferne ein dumpfer Bass. Vielleicht schaut man noch vorbei, und wenn nicht, dann auch nicht schlimm. 

In verlassenen Fabriken finden Events statt, von Frühling bis Herbst auch geheime Open-Airs. Foto: Imago/Depositphotos

Die Bässe in Leipzig kommen aus Clubs, Hinterhöfen und aus dem Wald.

Koordinaten werden gehandelt wie Drogen. Nachrichten wie „51°12’45.5″N 12°26’27.5″E“ werden verschickt. Sobald es dunkel wird, beginnt die Anfahrt. Über Feldwege, durch Tunnel und Funklöcher erreicht man die Lichtung im Wald. Die Musik wird lauter und von funkelnden Lichtern umrahmt erkennt man tanzende Umrisse. In Kellern und in leerstehenden Gebäuden werden Partys veranstaltet und Bars aufgebaut, die sich für ein paar Wochen oder Monate halten, bis sie entdeckt und aufgelöst werden. Manche werden geduldet oder sogar zu richtigen Institutionen: Ein halbes Jahr ist eine alte Brotfabrik der Place to be, danach eine Lagerhalle neben alten Bahngleisen. Ich erzähle meinen Eltern davon und sie fühlen sich in ihre Jugend zurückversetzt.

Das post-Mauerfall Berlin mit vielen Brachflächen und Freiraum zeigte die Ausstellung „Träum weiter – Berlin, die 90er“ im C/O. Foto: Imago/Funke Foto Services/Maurizio Gambarini

In der Ausstellung „Träum weiter – Berlin, die 90er“ im C/O, die bis Ende Januar zu sehen war, schwelgen sie ebenso in Erinnerungen: Sie nennen Namen, die mir nichts sagen, sprechen von Kneipen in Abbruchhäusern, illegalen Clubs, die aus dem Boden sprießen oder vom Obst und Gemüse. Vom Planet-Club in der Fabrik an der Spree. Sie sprechen von einer Stadt, die ich so nie kennengelernt habe. Der Potsdamer Platz sei eine riesige Baustelle gewesen, die größte Baustelle der Welt. Dann die Anfänge der Love Parade. Neugier und Platz, viel viel Platz. Irgendwie fremd für mich, aber doch vertraut. Ein bisschen klingt das alles wirklich nach Leipzig.

Auf den Leipziger Flohmärkten trifft man viele Bekannte, hier auf dem sogenannten Feinkost-Gelände. Foto: Imago/Christian Grube

Nur Nostalgie? Naja …

Selbst wenn man in Leipzig das wilde, freie Berlin nach dem Mauerfall sehen mag, war ja ebenjenes Berlin auch nicht nur rosig. Und das ist Leipzig genauso wenig. Der Verfall von Gebäuden beschränkt sich nämlich nicht auf die paar Ruinen, die zu Clubs umfunktioniert werden, sondern auch Schulen und andere Gebäude. Außerdem sorgt der Leerstand in Anbetracht steigender Mietpreise und Wohnungsmangel für Frustration. Gentrifizierung, Ost-West-Gefälle als Dauerthema, politische Radikalisierung und das Unsicherheitsgefühl von Menschen mit Migrationshintergrund. Da ähneln die Berliner 90er vielleicht auch dem heutigen Leipzig. Andererseits ist es nicht so, als wären diese Probleme im heutigen Berlin gelöst.

So oder so, der Vergleich hinkt. Je besser ich die beiden Städte kennenlerne, desto mehr erkenne ich sie auch in ihrer Unterschiedlichkeit. Leipzig ist nicht Berlin, warum sollte es das auch sein… Das will es, denke ich, auch gar nicht sein. Es gibt sicher Parallelen und doch sind es eigene Städte mit verschiedenen Geschichten. Auch ich durfte inzwischen meine eigenen Geschichten schreiben. Ich habe hier mittlerweile ein Zuhause, ein neues, ein weiteres. Gleichzeitig steht langsam ein neues Kapitel an. Ob es Zeit ist zurückzugehen? Back to the future? Ein Teil von mir möchte noch bleiben. In Berlin werde ich ja sowieso alt, daran hat sich nichts verändert. Aber bis dahin ist ja noch Zeit. 


Die 90er haben Berlin auf magische Art verändert. Und einer der Momente, der Berlin zur coolsten Stadt der Welt hat werden lassen, war Christos und Jeanne-Claudes „Verhüllter Reichstag“. Im Sommer 1995 hat das Künstlerpaar den Koloss und mit ihm die deutsche Geschichte drei Wochen lang durch einen glänzenden Zaubermantel transformiert. Berlins Woodstock, zum Sound von Techno haben wir schwerelos die Nächte durchgefeiert – wie auf unserem tip-Cover. Alles war machbar. Wir hatten den Kalten Krieg besiegt, wer sollte uns da noch aufhalten? Pure Euphorie, ein Gefühl, das damals wie heute junge Menschen nach Berlin zieht, und das die, die damals schon dabei waren, noch immer glauben lässt, das Gute werde sich durchsetzen. Es steckt noch viel 90er in Berlin, unsere Zauberkraft für die Gegenwart. Love!

Cover tipBerlin 3/25: Annette Hauschild/Ostkreuz + Christo and Jean-Claude Foundation /VG Bild-Kunst, Bonn; Cover Bühnenvorschau: aus der Produktion „Dog Without Feathers (Cão Sem Plumas)“ – Companhia de Dança Deborah Colker, Admiralspalast Berlin; Foto: Cafi

Mehr zum Thema

Genug zum Leerstand in Leipzig: Hier findet ihr eine Übersicht zu leerstehender Häusern in Berlin. Andererseits: Berühmte Berliner Gebäude, die nicht mehr existieren. Was die Stadt aktuell bewegt, lest ihr in unserem Stadtleben-Ressort. Falls ihr neu nach Berlin kommt, findet ihr hier nützliche Tipps für einen gelungenen Start. Außerdem könnt ihr über die Clubkultur lesen. Außerdem findet ihr die besten Veranstaltungen heute in Berlin täglich auf unseren Kanälen.




Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad